Paradise Papers -
Die Schattenwelt des großen Geldes

Bermudas? Kaimaninseln? Niederlande!

Eine seltsame Einigkeit zwischen den USA und den Niederlanden machte den deutschen Nachbarn zum Steuerparadies.

Von Frederik Obermaier und Ralf Wiegand - 07. November 2017

Barack Obama war erst wenige Wochen im Amt, als er zum Schlag ausholte gegen Steueroasen. Der frisch vereidigte US-Präsident wollte mehr Transparenz, schärfere Strafen und mehr Gerechtigkeit. Obama, der schon zu seiner Zeit als Senator von Illinois einen (bis heute nicht verabschiedeten) Entwurf für ein Anti-Steueroasen-Gesetz mitentwickelt hatte, nannte mehrere solcher tax havens beim Namen, die üblichen Verdächtigen wie Bermuda, die Kaimaninsel oder die Schweiz ebenso wie - zur Überraschung vieler - die Niederlande.

Das eher gemütliche Gründungsmitglied der Europäischen Union ist seit Jahren die wichtigste Steueroase für amerikanische Unternehmen. Dazu gehören Großkonzerne wie die Kaffeekette Starbucks, die Logistikfirma Fedex, der Pharmakonzern Pfizer ebenso wie – das geht aus den Paradise Papers hervor – der Sportartikelhersteller Nike oder die E-Auto-Schmiede Tesla. Jedes Jahr entgehen anderen Ländern Milliarden Euro an Steuereinnahmen offenbar nur deshalb, weil die Niederlande sich einflussreichen Lobbyisten gebeugt haben - während die EU-Nachbarstaaten tatenlos zuschauen. Experten sprechen zwar von illegaler staatlicher Beihilfe, und die EU-Kommission ist alarmiert; dennoch wird das niederländische Steuerschlupfloch noch mehrere Jahre bestehen bleiben.

Einer der wichtigsten Tage für die Niederlande als Steueroase war der 6. Juli 2005. An jenem Tag wurde Absatz 4 in Artikel 24 des niederländisch-amerikanischen Steuerabkommens gestrichen: die sogenannte Missbrauchsklausel. Man könnte auch sagen, der Missbrauch der niederländischen Unternehmensgesetzgebung wurde dadurch legalisiert.

Konkret geht es um eine Gesellschaftsform namens Commanditaire vennootschap (CV), die niederländische Form der Kommanditgesellschaft (KG). In einer CV können sich, wie bei der deutschen KG, zwei oder mehr Personen zusammenschließen, um Handel zu betreiben. Es gibt dabei einen beschränkt haftenden Partner (in Deutschland Kommanditist genannt) und einen unbeschränkt haftenden Partner (in Deutschland Komplementär genannt).

Die Niederlande haben den "Heiligen Gral der Steuervermeidung" gefunden

Anders als in Deutschland wird in den Niederlanden aber die CV in ihrer Gesamtheit nicht als ein steuerliches Unternehmen angesehen, sondern lediglich als Partnerschaft. Die CV muss nach Sicht der niederländischen Behörden keine Steuer zahlen - sondern lediglich die darin zusammengefassten Gesellschafter beziehungsweise Partner, jeder selbst.

Und hier wird es vor allem für amerikanische Unternehmen interessant. Wenn sie nämlich in den Niederlanden eine CV gründen, dazu ein, zwei niederländische Tochterunternehmen, haben sie den "Heiligen Gral der Steuervermeidung" gefunden. So nannte der frühere US-Senator Carl Levin einmal solch ein komplexes Firmennetz, das dazu führt, dass am Ende nirgends Steuern fällig werden.

Ist nämlich eine amerikanische Firma Gesellschafterin einer niederländischen CV, gehen die Niederlande davon aus, dass Gewinne beim einzelnen Gesellschafter, also auch direkt bei der US-Firma, besteuert werden. Die US-Behörden allerdings sehen die niederländische Gesellschaft selbst als steuerpflichtig an. Zwei Länder, zwei unterschiedliche Ansichten, kein Steuerzahler. Zur Freude von Firmen wie Nike, Starbucks, Pfizer, Tesla - und Dutzenden anderen.

Und warum machen die Niederlande das überhaupt? An einer solchen Commanditaire vennootschap verdient das Land im Prinzip nichts, sie ist in der Regel eine Briefkastenfirma, eine Hülle ohne Inhalt. Allerdings verlangen die Behörden dann doch etwas Substanz, um die Konstruktion anzuerkennen. Deswegen haben viele solcher Firmenhüllen eine Besloten venootschaap (BV) als Tochterfirma. Durch diese niederländische Form einer GmbH gewinnen die Niederlande immerhin ein paar Arbeitsplätze und etwas Steuern. Der Schaden für andere Länder jedoch ist enorm.

Gewinne in Höhe von fast 500 Milliarden Euro flossen seit Einführung der Regelung laut der niederländischen Online-Zeitung "De Correspondent" über die Niederlande als SteueroaseDe Correspondent"De Correspondent" über die Niederlande als Steueroase bis heute in die Niederlande.Wer im niederländischem Firmenregister sucht, stößt auf zahlreiche CVs mit Adressen im Ausland. Ganz vorne sind die USA mit 162 Firmen, gefolgt von der Schweiz und Bermuda. Und dies ist mutmaßlich nur ein kleiner Teil, denn CVs müssen nicht registriert werden. 

So hatten im Jahr 2015 laut einem Report desZum Bericht "Offshore Shell Games 2016" Institute on Taxation and Economic PolicyZum Bericht "Offshore Shell Games 2016" mehr als die Hälfte der 500 größten amerikanischen Unternehmen mindestens eine in den Niederlanden registrierte Tochterfirma - in keiner anderen Steueroase waren es mehr.

Ist das alles Zufall? Eine Lücke im Gesetzestext, die niemandem aufgefallen ist? Eine Entscheidung des Parlaments, deren Konsequenzen für niemanden absehbar waren?

Wie interne Unterlagen der niederländischen Regierung zeigen, deren Einsicht De Correspondent über ein Auskunftsersuchen erstritten hat, waren sich die Verantwortlichen darüber im Klaren, was sie tun. Der Direktor für internationale Steuerangelegenheiten im niederländischen Finanzministerium warnte intern: "Diese Steuererleichterung wird amerikanischen Konzernen einen enormen unzulässigen Wettbewerbsvorteil verschaffen." Die Niederlande würden damit die "Übernahme ihrer Geschäftswelt durch die Amerikaner" unterschreiben.

Den USA entgehen wegen des Steuerschlupflochs jedes Jahr Hunderte Millionen Dollar

Trotz der alarmierenden Worte passierte nichts. Der Finanzstaatssekretär und spätere Wirtschaftsminister Joop Wijn schaffte mehrere Hürden ab, die Missbrauch verhindern sollten. In einem Memo, das jüngst öffentlich wurde, unterstrich er den Satz "Die Niederlande brauchen nicht als Steuerbeamter der Welt agieren" und notierte handschriftlich dazu: "Juist" – genau.

Das ist schon eine befremdliche Berufsauffassung für einen Mann, der von Amts wegen für möglichst hohe Steuereinnahmen sorgen sollte. Noch seltsamer aber ist das Verhalten der amerikanischen Seite. Den USA entgehen wegen des niederländischen Steuerschlupflochs jedes Jahr Hunderte Millionen Dollar. "Wir freuen uns, wenn ihr unseren Firmen eine bessere Behandlung zugesteht", dankte ein Mitarbeiter des US-Finanzministers im Frühjahr 2005 in einer E-Mail den niederländischen Kollegen - nur sollten die Europäer bitte nicht erwarten, "dass wir dasselbe für eure Firmen tun". Für den Experten Clark Gascoigne, Vize-Chef der amerikanischen Nichtregierungsorganisation FACT Coalition, die sich für mehr Steuergerechtigkeit einsetzt, hat hier die Unternehmerlobby über die Interessen des amerikanischen Volkes gesiegt: "Was die Steuervermeidung von Großkonzernen angeht, ist die US-Regierung seit Jahren ein Komplize."

Das niederländische Steuerschlupfloch ist auch ein Triumph für die amerikanische Handelskammer. Die American Chamber of Commerce ist eine der mächtigsten Lobbygruppen in den Niederlanden. AmCham, wie sie abgekürzt wird, gibt regelmäßig prächtige Feiern, zu den Gästen zählen ehemalige und frühere Premierminister, Kabinettsmitglieder und Parteichefs. Mehrmals pro Jahr empfängt der niederländische Finanzminister eine Delegation der AmCham. Meistens sind Verantwortliche der großen amerikanischen Firmen dabei, etwa von Nike. Sie geben, wie aus internen Ministeriumsunterlagen hervorgeht, Kommentare - man könnte auch sagen Wünsche - zu Protokoll, etwa zu Kapitalregelungen.

Die Zahl der registrierten CVs nimmt indes Jahr um Jahr zu, von 696 im Jahr 2013 auf fast das Doppelte im vergangenen Jahr, 1325. "Die Niederlande sind ein unterschätztes Steuerparadies", sagt der Bundestagsabgeordnete Fabio De Masi (Linke), der zuvor im Europaparlament saß. "Sie bringen die übrigen EU-Staaten um die Steuermilliarden, die wir dringend für öffentliche Investitionen in die Infrastruktur benötigen." Das Finanzministerium in Den Haag erklärte auf Anfrage, dass man internationale Steuervermeidung nicht dem Steuersystem eines einzigen Landes zuschreiben könne. Das BV-CV-System sehe man als legal an.

Die niederländische Regierung hat sich zwar mit der EU-Kommission darauf geeinigt, das Steuerschlupfloch zu schließen - allerdings nach bisherigem Stand der Dinge erst im Jahr 2020. Noch mehr als zwei Jahre lang sollen amerikanische Unternehmen den Fiskus ganz legal um Millionen bringen. "Es ist ein Unding, dass amerikanische Konzerne Milliardengewinne unversteuert in niederländischen Gesellschaften parken und sich die holländische Regierung auch noch dafür starkmacht, diesen Betrug am Gemeinwesen möglichst lange fortzuschreiben", sagt der Europaabgeordnete Sven Giegold (Grüne). Die Blockade des Euro-Gruppen-Chefs Jeroen Dijsselbloem, der bis Ende Oktober auch niederländischer Finanzminister war, sei eines Sozialdemokraten nicht würdig. Anstatt amerikanischen Konzernen "das vielleicht weltweit größte Körperschaftsteuer-Schlupfloch offen zu halten und den Steigbügelhalter für Trumps Gewinnrückführungspläne zu spielen", solle sich Dijsselbloem für Steuerkooperation in Europa einsetzen, fordert Giegold.

Für amerikanische Unternehmen, die das niederländische Steuerschlupfloch nutzen, ist die Einigung der niederländischen Regierung und der EU-Kommission offenbar kein Problem, das nicht zu lösen wäre. In internen E-Mails des niederländischen Finanzministeriums ist schon 2014 nachzulesen gewesen, dass die amerikanische Handelskammer "Alternativen liefern und mit dem Ministerium besprechen" werde. Informelle Gespräche hätten bereits stattgefunden. Auf Anfrage erklärte die US-Handelskammer, sie wolle "abwarten und auf die neue niederländische Regierung und ihre Pläne achten". Man ziehe es vor, erst mit den politischen Akteuren zu reden, anstatt sich öffentlich zu äußern.

Man ist halt in gutem Kontakt: Der Christdemokrat Joop Wijn, der - so der Vorwurf seiner Kritiker - zunächst als Finanzstaatssekretär und dann als Wirtschaftsminister das Steuerschlupfloch erst ermöglicht und Stück für Stück vergrößert haben soll, bekam 2006 von der Kammer AmCham einen Preis für seine Steuersenkungen verliehen. Sein Lebenspartner Patrick Mikkelsen wurde 2012, sechs Jahre nach dem Ende der Amtszeit von Wijn als Finanzstaatssekretär, Direktor der amerikanischen Handelskammer in den Niederlanden: der Vertretung jener Unternehmen also, die vom Steuerschlupfloch mit Abstand am meisten profitieren. Einen Zusammenhang zwischen Wijns Politik und der Ernennung Mikkelsen wiesen beide auf Anfrage zurück.

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