Aus und nicht vorbei

Sie bleibt Kanzlerin, aber ihr Abschied von der Macht hat begonnen. Im April 2000 wurde Merkel zur CDU-Chefin gewählt, nun tritt sie ab. 19 Beobachtungen zu fast 19 Jahren auf der großen Bühne

Nah bei den Leuten: Als Rednerin wirkte sie oft kühl, aber im persönlichen Gespräch erreichte sie die Menschen - wie 2006 bei einem Besuch bei Bundeswehrsoldaten in Letzlingen in Sachsen-Anhalt.

Nah bei den Leuten: Als Rednerin wirkte sie oft kühl, aber im persönlichen Gespräch erreichte sie die Menschen - wie 2006 bei einem Besuch bei Bundeswehrsoldaten in Letzlingen in Sachsen-Anhalt.

Merkel und die Männer der Union: Erst wurde sie unterschätzt, dann stach sie alle Konkurrenten aus. Hier mit CSU-Chef Horst Seehofer beim CDU-Parteitag in Karlsruhe im Dezember 2015. 

Merkel und die Männer der Union: Erst wurde sie unterschätzt, dann stach sie alle Konkurrenten aus. Hier mit CSU-Chef Horst Seehofer beim CDU-Parteitag in Karlsruhe im Dezember 2015. 

Schwieriger Verbündeter: Angela Merkel empfängt im Juli 2017 Donald Trump zum G-20-Gipfel in Hamburg. Selbst beim amerikanischen Präsidenten verschaffte sich Merkel Respekt. 

19 Beobachtungen aus 19 Jahren:

Sträflich unterschätzt

Die Parteichefin und Kanzlerin Merkel galt vielen als historischer Irrtum. Sie hat alle widerlegt.

Jetzt mal ehrlich: Verdankt Angela Merkel ihre politische Karriere nicht allein dem Versagen anderer? 

Helmut Kohl verlor 1998 die Bundestagswahl, weil er nicht loslassen konnte. Wolfgang Schäuble musste 2000 den CDU-Vorsitz abgeben, weil er eine Spende falsch verbucht hatte. Edmund Stoiber scheiterte 2002 als Kanzlerkandidat, weil er nicht rechtzeitig in Gummistiefeln durch Flutgebiete gestapft war. Dafür verlor Gerhard Schröder 2005 die Nerven und später auch die vorgezogene Bundestagswahl. Und plötzlich war diese Merkel Kanzlerin, von Zufällen hochgespült, ein historischer Irrtum.

Mit dieser Wahrnehmung hatte Merkel lange zu kämpfen. Erst hatte sich die CDU versehentlich selbst überholt und die protestantische Frau aus dem Osten auf dem Essener Parteitag an die Spitze gejubelt. 2005 schreckten noch viele Deutsche entgegen den Umfrageergebnissen in letzter Minute davor zurück, Merkel zu wählen, was sie fast den Sieg gekostet hätte. Die Wette, dass diese Frau sich bis 2018 in ihren Ämtern halten würde, wäre damals niemand eingegangen. Niemand.

Warum eigentlich? Mit ihrem gegen Kohl gerichteten Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen hatte sie Mut und den richtigen Instinkt für die Stimmung in der CDU bewiesen. Als sie Edmund Stoiber die Kanzlerkandidatur überließ, zeigte sie Risikobereitschaft. Und als sie einen gewissen Friedrich Merz vom Fraktionsvorsitz verdrängte, demonstrierte sie Machtinstinkt. Doch ihre Fehler – von der Haltung zum Irakkrieg bis zum Schattenfinanzminister Paul Kirchhof – wirkten oft stärker nach als das, was ihr gelang.

Merkel hat sich mit Helmut Kohl überworfen – aber sie hat nicht verworfen, was sie von ihm gelernt hatte. „Sie unterschätzen mich, solange ich mich erinnern kann“, hatte Kohl mal zu einem Journalisten gesagt. Diese Einstellung hat sie übernommen – und die Chance genutzt, die darin liegt. Sie wusste, dass sie sich nur auf sich und wenige Vertraute verlassen kann.

In der CDU sah man in Merkel anfangs nur eine Interimslösung, bis sich die aufstrebenden männlichen Talente auf einen richtigen Parteichef einigen würden. Als sie Kanzlerin geworden war, prophezeiten ihr die geschlagenen Vorgänger ein schnelles Ende im ersten politischen Gegenwind. Noch in der Finanzkrise bemühten sich die Sozialdemokraten Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Olaf Scholz um den Eindruck, dass Merkel zwar Kanzlerin sei, ohne die Kompetenz der großkoalitionären SPD-Minister aber aufgeschmissen. Zwei von ihnen hat sie später in Wahlen besiegt. Zum Duell mit dem dritten wird es nicht mehr kommen, aber ganz bestimmt nicht, weil Merkel Angst vor ihm hätte.

Die Anerkennung für sie wuchs im Ausland schneller als zu Hause. Selbst George W. Bush, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan (siehe Text 18) respektierten sie, lange bevor es sogar Gerhard Schröder tat. Ihre erste Wiederwahl 2009 war ihr besonders wichtig, auch wenn es diesmal die FDP war, die den Hauptanteil am Erfolg in Anspruch nahm. Einen innenpolitischen Glücksmoment erlebte Merkel mit sensationellen 41,5 Prozent für die Union 2013. Mit der Ankündigung, den Parteivorsitz aufzugeben und spätestens 2021 auch das Kanzleramt, hat Merkel ihren Abschied eingeleitet. Sie muss niemandem mehr etwas beweisen. Nico Fried

Ganz eigener Charme

Öffentlich tritt Merkel oft spröde auf, nur selten überrascht sie das Publikum mit ihrem Witz.

„Angela Merkel charms the world“, titelte 2006 der Economist. Das ist nicht direkt die erste ihrer Eigenschaften, die einem in Deutschland einfällt, wo man Merkel öfter sieht als ab und an bei einem Gipfel. Aber es stimmt natürlich. Erstens hat sie es ja geschafft, dass die Deutschen sie selbst mehr schätzten als manche ihrer Entscheidungen. Und überhaupt: Charme ist, schrieb Albert Camus, die Kunst, ein Ja als Antwort zu bekommen, ohne eine Frage gestellt zu haben. Und darin, ihren Willen zu bekommen, war Angela Merkel nun wirklich gut.

Es wird vielleicht später keine brillanten Merkel-Reden geben, die Kinder in der Schule lesen (siehe Text 12) – aber manchmal hat die Kanzlerin mit einem Satz oder einem Blick eh alles gesagt. Das TV-Duell zu ihrer dritten Wahl, 2013, beendete sie mit dem Satz „Sie kennen mich!“, was ein ziemlich genialer Spruch ist, wenn man für Stabilität stehen will. Oder der halb belustigte, halb entgeisterte Blick, den sie Donald Trump zuwarf, als er neben ihr ins Mikro sprach, sie beide hätten gemeinsam, von Barack Obama abgehört worden zu sein (haben sie nicht). Angela Merkel hat einen trockenen, erdigen Humor, sie lässt ihn nur nicht dauernd an die frische Luft. Zuletzt hat ihn Alice Weidel zu spüren bekommen, die eine Generaldebatte im Bundestag nutzte, um über ihre eigene Parteispendenaffäre zu reden. Merkel sagte: „Das Schöne an offenen Debatten ist, dass jeder über das reden darf, was ihm wichtig ist.“

An ihr wird jeder gemessen werden, der ihr nachfolgt. Und das wird gar nicht so einfach sein. Dass sie immer über allem stand, auf keine Beleidigung reagierte und ihrerseits nie jemanden auf unziemliche Weise angegriffen hat, das hat einfach Klasse. Donald Trump poltert ständig herum, und selbst Emmanuel Macron hat schon einen Jungwähler angeblafft. Angela Merkel aber hat es geschafft, 19 Jahre lang am Stück nie aus der Rolle zu fallen. Auch das ist eine Kunst. Susan Vahabzadeh

Gefährliche Euphorie

Ihre größten Fehler beging Merkel, wenn sie einfach mal ihren Gefühlen folgte.

Ach, diese Nüchternheit. Immer abwägen, prüfen, vom Ende her denken – wie oft ist Angela Merkels Regierungsstil beschrieben worden. Manchmal erschien er als nützlich, oft wirkte er beschwerlich, und häufig wurde er mit dem Urteil verbunden, Gefühle seien ihr ohnehin fremd gewesen. Kein Vorurteil indes ist so falsch. Merkels Problem ist nicht der Mangel an Gefühlen. Ihre größten Fehler machte sie gerade in den Momenten größter Euphorie.

Ein solcher Moment des Glücks und des Stolzes ist es, der sie im Frühjahr 2003 – man muss das so sagen – in die Irre leitet. Bundeskanzler Gerhard Schröder stellt sich mit seiner rot-grünen Regierung gegen den Irakkrieg. Und Merkel glaubt, dass es schlau ist, sich dem nicht nur entgegenzustellen, sondern das der US-Regierung bei einem Washington-Besuch offen deutlich zu machen. Merkel ist seit einem halben Jahr Partei- und Fraktionsvorsitzende; sie erlebt zum ersten Mal, wie schön es ist, dass sich überall die Türen öffnen. In diesem Gefühl mag sie ihre Amerika-Leidenschaft nicht aufgeben müssen. Also distanziert sie sich in einem Zeitungsartikel von Schröders Kurs und herzt in den USA Donald Rumsfeld, den umstrittenen Verteidigungsminister. Das Ende der Geschichte aber ist kein lautes Hurra, sondern ein weitverbreitetes Entsetzen. Ihre Schlussfolgerung: ein zerknirschtes „So sollte ich das besser nicht mehr machen“.

Sie macht es aber noch mal so. Als Schröder im Mai 2005 Neuwahlen ankündigt und die Umfragen der Union auf fast 50 Prozent steigen, glaubt Merkel, dass sie es geschafft hat. Also wirbt sie mit Verve für einen Umbau des Sozialstaats, mit Steuerreform, Kopfpauschale und Paul Kirchhof. Keiner bremst sie, ihre Euphorie wächst; sie merkt nicht, dass der selbstverliebte Kirchhof für sehr viele Menschen zu viel ist. Am Wahltag folgt eine Fast-Niederlage – ein Absturz, der sie nachhaltig verändert (siehe Text 15). Kein Risiko mehr, keine Provokation. Ihre Leidenschaft weiß Merkel heute zu beherrschen. Stefan Braun

Herzliche Grüße, AM

Maximale Kontrolle, minimales Chichi: Warum Merkel gern mit Kurznachrichten regiert.

AFP/Getty

Die Hauptstadtpresse hat um Angelas Merkels Neigung zur Kurznachricht immer ein Riesenbuhei gemacht. Das liegt daran, dass Merkel so sehr Statik ist, dass schon ihr Lesen und Tippen unter der Regierungsbank wie eine unheimliche Beschleunigung aussieht. Oder, noch spektakulärer: wie eine menschliche Regung. In einem Fall ist das sogar dokumentiert, es war der 1. März 2011. Merkel besuchte mit ihrer Bildungsministerin und Freundin Annette Schavan (siehe Text 5) gerade die Computermesse Cebit in Hannover, als ihr Handy vibrierte. Die Bildagenturen verschickten die Szene als Triptychon. Erstes Bild: Merkel liest und lächelt. Zweites Bild: Merkel reicht ihr Handy an Schavan weiter (unser Foto). Drittes Bild: Beide Damen lächeln. Wenig später erfuhr auch das Volk, dass Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) zurückgetreten war.

Meist ist es aber so, dass dem Gesicht der Angela Merkel nicht zu entnehmen ist, ob sie gerade einen Regierungschef zur Räson ruft oder ob sie ihren Ehemann bittet, das Abendessen noch mal kurz vom Herd zu nehmen, es werde leider mal wieder etwas später. Das macht für Beobachter alles nur noch faszinierender: Was genau tippt Merkel da in ihr Handy?

Mindestens zwei SMS liegen der Öffentlichkeit im Wortlaut vor. Die erste, geschrieben am 2. Juni 2010, lautet: „Danke für die info und herzliche grüße am“. Adressat war der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, der ihr Joachim Gauck als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen hatte, und dass Merkels Antwort im Spiegel nachzulesen war, hat sie Gabriel lange nicht verziehen.

Die zweite SMS trug der CDU-Parteifreund Wolfgang Bosbach am 2. Juni 2014 bei RTL vor. Er hatte sich beim „Wer wird Millionär?“-Promispecial bis zur 500 000-Euro-Frage vorgespielt, es ging darum, ob mit der DDR-Waschmaschine WM66 auch A: Heizstrom erzeugt, B: Obst eingekocht, C: Staub gesaugt oder D: Westradio empfangen wurde. Bosbach machte die Kanzlerin zum Telefonjoker. Merkel hätte die Antwort (B) vermutlich auch gewusst, er scheiterte aber zweimal kläglich an ihrer Mailbox. Später in der Show trudelte dann die SMS ein: „Ok was auch immer es war herzliche grüße am“.

Man darf daraus dreierlei folgern. Erstens, dass es Merkel mit der Großschreibung wie auch mit der Zeichensetzung nicht so genau nimmt. Zweitens, dass Kurznachrichten auf Merkel ähnlich passgenau zugeschnitten sind wie ihre Blazer von Anna von Griesheim: Sie kann antworten, wann und wo es ihr gerade passt, ihre Botschaft bei Bedarf editieren, sie muss weder rhetorisch glänzen noch Zeit auf Höflichkeitsfloskeln verschwenden, die sie für nicht sachdienlich hält – eine Kombination von maximaler Kontrolle mit einem Minimum an menschlichem Chichi. Weshalb es, drittens, eine bislang noch unbekannte Kanzlerinnenfacette wohl auch dann nicht zu entdecken gäbe, wenn die Hauptstadtpresse via Whatsapp-Gruppe mitlesen dürfte. Tanja Rest

Freundschaft? In der Politik?

Viele wollen Merkel und damit ihrer Macht nahe sein. Aber wem vertraut sie selbst?

AFP

Und hat sie Freunde? Selbstverständlich hat Angela Merkel Freunde, viele Freunde. Macht macht attraktiv. Es ist eine Art Währung im Berliner Bedeutungsranking: Wer war schon mal oben im achten Stock vom Berliner Kanzleramt zum Abendessen bei ihr? Wer hat die Handynummer und darf ihr was texten? Wer war sogar schon bei Merkel-Sauers in der Wohnung am Berliner Kupfergraben zum Borschtsch eingeladen? Und wer kennt die berühmte Datsche in Hohenwalde von innen?

Obama sagt „my friend Angela“, mit Tony Blair war sie richtig eng, mit Donald Tusk auch, früher mal. Aber echte Freunde? So wie: Freunde im richtigen Leben? „Früher war ich, glaube ich, eine gute Freundin“, hat sie vor 13 Jahren erzählt, noch bevor sie Kanzlerin wurde. „Inzwischen bin ich keine besonders aufmerksame Freundin mehr, weil ich sehr wenig Zeit habe.“ Die einzige harte Währung der Freundschaft ist nun einmal Zeit. In Merkels Leben soll es immer noch zwei Freundinnen aus Physikstudienzeiten geben. Zum Klassentreffen geht sie nicht mehr.

Brillant vernetzt ist Merkel, und als Kanzlerin kann sie sich eh kommen lassen, wen sie will. Es hat vor allem in den ersten Jahren sehr interessant zusammengesetzte Abendessen gegeben da oben im Himmel über Berlin. Und immer schon hat Merkel sich ihren Teil gedacht über die, die das nachher rumerzählen und es, um es in Merkel-Sprech zu schreiben, wieder verzweckt haben. Inzwischen ist der freie Spaß mit diesen Abendessen auch vorbei. Jedenfalls ist alles sehr viel kontrollierter geworden, seitdem der damalige Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann 2008 damit angeben musste, wen er alles auf die Einladungsliste hat setzen lassen für die kleine Feier im Kanzleramt zu seinem 60. Geburtstag. Als dann, weil wir in Deutschland sind, der Verbraucherschützer Thilo Bode die Herausgabe von Gästeliste, Tischordnung, Merkel-Rede und Rechnung für den Kalbsrücken erklagt hatte, waren der Reiz und die Luft raus aus diesen Abenden.

Und echte Freunde? Klaus von Dohnanyi und Ulla Hahn, der SPD-Politiker und die Schriftstellerin, sind wohl das, was man als befreundetes Ehepaar bezeichnen könnte. Sie pilgern zu viert nach Bayreuth auf den Wagner-Hügel und ins Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker oder ins Restaurant Borchardt. Hahn durfte im „#fedidwgugl-Haus“ des CDU-Wahlkampfes 2017 aus ihrem neuen Buch lesen. Und fast niemand merkte, dass sie in der ausgewählten Passage eine wahre Geschichte aus Angela Merkels Jugend verwurstet hat.

Eng ist Angela Merkel mit ihrem Ehemann (siehe Text 8), ihrer Mutter und Schwester, die in Berlin als Ergotherapeutin arbeitet. Eng ist sie auch mit ihrer Büroleiterin Beate Baumann und mit ihrer Mitarbeiterin Eva Christiansen. Mit der früheren Bildungsministerin Annette Schavan (unser Bild) ist sie womöglich sogar befreundet. Im Sommer, als alle rätselten, warum Merkel nicht wie immer wandern war, soll sie mit Schavan in Hohenwalde den Rückzug vom CDU-Vorsitz beraten haben.

„Vom Typus her bin ich eine gute Freundin“, hat Angela Merkel 2005 gesagt. Sie hoffe, „dass eines Tages, wenn ich einmal nicht mehr in der Politik bin, noch genug alte Freundschaften übrig sind, die ich wiederbeleben kann“. Evelyn Roll

Die schwarze Witwe

Merkel hat viele männliche Rivalen politisch überlebt. Das beliebte Bild ist trotzdem eher ein Mythos.

Wer so lange Kanzlerin ist wie Angela Merkel, muss mit allerlei Attributen leben, die einem im Lauf der Zeit angeheftet werden. Eines der wirkmächtigsten, mit denen sich die CDU-Chefin herumschlagen muss, ist das der Schwarzen Witwe. Merkel hat in der Union eine Vielzahl männlicher Konkurrenten überlebt – und die Schwarze Witwe ist eine Spinne, die schon mal ihre Männchen frisst. Im Karneval kann man deshalb Motivwagen sehen, auf denen Merkel als Schwarze Witwe dargestellt wird. Karikaturisten zeichnen die Kanzlerin gerne als solche. Und wer bei Google nach „Schwarze Witwe Merkel“ sucht, bekommt mehr als 100 000 Treffer. Die ehemaligen Ministerpräsidenten und Konkurrenten Roland Koch, Günther Oettinger, Peter Müller, Christian Wulff und Edmund Stoiber hat Merkel alle politisch überlebt. Und als Wolfgang Schäuble (siehe Text 11) im Jahr 2000 den CDU-Vorsitz abgeben musste, wurde wer seine Nachfolgerin? Merkel.

Man könnte also meinen, dass das mit der Schwarzen Witwe gar nicht so falsch ist. Doch bei genauer Betrachtung handelt es sich eher um einen Mythos. Niemand hat Wulff gezwungen, sein Amt als Ministerpräsident aufzugeben, um Bundespräsident zu werden – und sich damit aus dem Machtspiel zu nehmen. Das gilt auch für Kochs Wechsel aus der Staatskanzlei in die Wirtschaft. Oettinger wurde aus freien Stücken EU-Kommissar, Müller freiwillig Richter am Verfassungsgericht. Stoiber scheiterte als Kanzlerkandidat der Union ohne Zutun Merkels. Und den CDU-Vorsitz hat Schäuble nicht durch eine Intrige Merkels verloren, sondern wegen seines Verhaltens in der Spendenaffäre. Von Merkel politisch gemeuchelt wurde kein einziger dieser Herren. Vermutlich hat das Bild der Schwarzen Witwe nur entstehen können, weil es in einem immer noch männlich dominierten Politikbetrieb ungewöhnlich ist, wenn sich ständig eine Frau durchsetzt.

Ein paar Männer gibt es aber doch, die Merkel direkt bezwungen hat. Zuallererst sind das vier SPD-Kanzlerkandidaten, aber das beklagt in der CDU naturgemäß niemand. Prominentestes Opfer Merkels in der eigenen Partei ist ausgerechnet Friedrich Merz, der sich vielleicht auch deshalb gerade darum bemüht, Nachfolger Merkels an der CDU-Spitze zu werden.

Beim „Wolfratshauser Frühstück“ hatte Merkel 2002 dem damaligen CSU-Chef Stoiber die Kanzlerkandidatur überlassen. Als es nach der Wahl darum ging, wer den Vorsitz der Unionsfraktion übernehmen soll, schlug sich Stoiber im Gegenzug auf die Seite Merkels. Merz war überrascht und wütend. Er verzichtete dann aber auf den Versuch, den Fraktionsvorsitz in einer Kampfabstimmung gegen Merkel zu verteidigen. Dabei hatte er das Amt doch nutzen wollen, um selbst Kanzler zu werden.

Für Michael Spreng, der als Stoibers Wahlkampfberater den Konflikt damals aus der Nähe beobachten konnte, ist das die „exemplarische Geschichte eines talentierten, aber überheblichen und eitlen Mannes, der eine listige, zielstrebige und uneitle Frau dramatisch unterschätzte“. Und diese Beschreibung trifft Merkels Geschichte mit vielen CDU-Männern dann auch deutlich besser als das Bild von der Schwarzen Witwe. Robert Roßmann

Die Macht der Bilder

Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp über Merkels Gespür für ikonografische Momente.

Bernd von Jutrczenka/dpa

SZ: Welche Fotos verbinden Sie mit der Amtszeit von Angela Merkel?

Horst Bredekamp: Unbedingt jenes Foto aus der TV-Sendung am Abend der Wahl, als der noch amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder Angela Merkel die Fähigkeit absprach, Kanzlerin zu sein. Doch sie blieb stoisch ruhig. Der Betrachter konnte in diesem Moment ermessen, dass hier eine Art Politik eingesetzt wurde, die mathematische Züge trägt. Außerdem einprägend ist das Foto zur Feier der fünfzigjährigen Wiederkehr der römischen Verträge. Merkel steht vor dem Brandenburger Tor, umgeben von einer Korona mächtiger Männer, sie das erratische Zentrum.

Und wenn Sie nur eines auswählen dürften, welches wäre das?

Das Foto von Bernd von Jutrczenka vom September 2015 in Berlin-Spandau (unser Bild). Es zeigt den kurz zuvor aus dem Irak geflüchteten Jesiden Shaker Kedida, der zusammen mit Merkel ein Selfie macht.

Was ist das Besondere an diesen Bildern?

Der Clou ist die Abwesenheit von Pathos. Ich kann nicht beurteilen, ob es eine bis ins Feinste ausgeklügelte Bildpolitik im Kanzleramt gibt. Wenn ja, dann wäre sie darin besonders gekonnt, dass sie die Inszenierung verbirgt. Die meisten Aufnahmen, die Bedeutung erlangt haben und von der Pressestelle herausgegeben wurden, besitzen den Gestus des Unmittelbaren. (siehe Text 9)

Ist an Merkel nichts Künstliches?

Die Natürlichkeit ist, wenn sie inszeniert sein sollte, auf die höchste Weise künstlich, denn man sieht die Künstlichkeit eben nicht. Merkel folgt Augenblickseingebungen, das kann man gut an dem Selfie mit Kedida sehen. Im Flüchtlingsheim hätte man inszenierte Fotos machen können, aber Merkel mochte mit den vor dem Haus stehenden Personen in Kontakt kommen. Dort entstand Jutrczenkas auf der ganzen Welt verbreitetes Bild. Das Foto ist ohne jede Frage spontan. Man sieht es in der Spannung zwischen der Nähe, die sich durch die leichte Berührung der Schläfen ergibt, und dem Abstand, der sich durch ihre Hand ergibt, die zwischen den Oberarmen liegt. Selbst in diesem Moment überraschender Nähe versucht Merkel, Distanz zu halten.

Welches Verhältnis hat Merkel zu Fotos?

Sie verfügt wie kaum ein anderer Politiker über den Coup d’œil, wie er von Leibniz und Clausewitz beschrieben worden ist. Es ist die blitzartige Erfassung zukünftiger Entwicklungen aufgrund von Bildern der Plötzlichkeit. Zwei Mal hat sie den Coup d’œil eingesetzt: Beim Atomunglück in Fukushima, als sie in einer einzigen Nacht eine Umkehrung der gerade beschlossenen Atompolitik um 180 Grad vollzog. Und im August 2015, als sie Bilder der Verwahrlosung von Flüchtlingen auf dem Budapester Hauptbahnhof sah und ein Foto vom Hühnerfutter-Lkw, in dem mehr als 70 Menschen aller Altersstufen erstickt waren. Diese beiden Fotos waren es, die das entscheidende Telefonat mit dem österreichischen Kanzler Werner Faymann und das „Wir schaffen das“ auslösten.

Die meisten Politiker versuchen, mit Familienbildern Menschen für sich zu gewinnen. Merkel überhaupt nicht.

Das ist tatsächlich der überwiegende Eindruck. Es gibt Ausnahmen wie die Bilder vom Ski-Langlauf mit ihrem Ehemann Joachim Sauer und die Fotos von den Wagner-Festspielen in Bayreuth. In Bayreuth ist es das Medium der Musik, das sie gemeinsam auftreten lässt. Viele Politiker versuchen, sich als Privat- und Familienmensch zu präsentieren. Aber oft hat es ihnen auch geschadet. Man denke an Rudolf Scharping, der in dem Moment als Politiker verabschiedet war, als er bunte Fotos zuließ, die ihn in einem Swimmingpool auf Mallorca zeigten, während gleichzeitig die Bundeswehr vor einem Einsatz in Mazedonien stand. Merkel handelt einem scheinbaren Gebot zuwider, die Privatheit zu öffnen, um die Distanz zu mindern. Es ist eine sehr eigene Besonderheit der Bilderwelt dieser Kanzlerschaft, dass sie die Anbiederung über das Zeigen des Privaten verweigert. Offenkundig hat sie gerade darin Erfolg. Interview: Thorsten Schmitz

Hinter dem Panzer

Merkel gewährt nur wenig Einblick in ihr Privatleben. Damit verdeckt sie aber auch manche Stärke.

Action Press

Der Satz klingt gut, stimmt aber nur sehr bedingt. „Sie kennen mich“, hat Angela Merkel im Wahlkampf 2013 zu den Fernsehzuschauern gesagt. Mit Blick auf die Politikerin Merkel mag das richtig sein. Über die Privatperson Merkel wissen die meisten Menschen so gut wie nichts. Sie schottet ihr Leben jenseits von Regierung und Partei weitgehend ab. Die Einblicke, die sie dem Publikum gewährt, sind sparsam dosiert und wirken sorgfältig kalkuliert.

Dieses Publikum kennt ihre Leidenschaft für die Berge der Schweiz oder Italiens und bekommt hin und wieder ein Foto der Kanzlerin in Wanderkleidung zu Gesicht. Es weiß, sie mag Opern, vorzugsweise von Wagner, kauft gelegentlich selber ein, kocht gerne und freut sich darauf, im Urlaub länger schlafen zu können. Nur selten lässt Merkel ein kleines bisschen mehr blicken, ein sehr kleines bisschen – und das ganz und gar nicht zufällig kurz vor Wahlen. Da teilt die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin schon mal mit, dass sie ihr Gemüse selber zieht und Streuselkuchen backt – wenn auch mit weniger Streuseln, als ihrem Mann lieb ist. Oder dass sie Schlaf speichern kann wie ein Kamel.

In Zeiten, in denen Politik immer stärker über Personen vermittelt wird und deren Inszenierung viele Inhalte überlagert, muss auch eine Angela Merkel hin und wieder als Politikerin zum Anfassen auftreten. In ihrem Fall eher zum sehr flüchtigen Berühren. Sie weiß, wer Privates preisgibt, macht sich schnell beliebt – und leicht angreifbar. Sie hat erlebt, wie es ihrem Vorvorgänger Helmut Kohl irgendwann um die Ohren flog, dass er, seine Frau und die Söhne der Öffentlichkeit eine Idylle vorspielten, die es nie gab. Sie hat beobachtet, wie es ihrem Vorgänger Gerhard Schröder auf die Füße fiel, dass er mit teuren Anzügen von sich reden machte. Für Angela Merkel sind ihre legendären Blazer in ungezählten Farben öffentlich ebenso wenig ein Thema wie das Verhältnis zu ihrem Mann. Der ist ein weltberühmter Chemiker, begleitet seine Gattin nur selten zu offiziellen Anlässen und äußert sich in seinen wenigen Interviews nicht über sie. (siehe Text 16)

Ihre Panzerung auf großer Bühne schützt die Privatperson Merkel. Hinter der Panzerung verschwindet freilich auch, was diese Frau neben ihren Gaben als Politikerin auszeichnet: ein umwerfender Humor etwa, Sinnesfreude oder die Wärme, die sie ausstrahlen kann, wenn Menschen in ihrem Umfeld ein Schicksalsschlag trifft. Ferdos Forudastan

Bratwurst und Suppe

Merkel liebt das Bodenständige, auch beim Essen. Bemerkenswert: Sie kokettiert nicht damit.

dpa

Es ist nicht einfach, unbefangen zu bleiben, wenn alle Blicke auf einem ruhen und lasten. Das kann nicht jeder. Angela Merkel kann es, es schaut jedenfalls so aus. Sie stellt sich in die Schlange vor dem Bratwurststand, sie zieht die Schultern ein wenig hoch, lächelt, redet mit jedem – nicht laut, nicht aufdringlich. Sie macht die Bratwurst nicht zum Nahbarkeits-Event. Es ist das Fraktionssommerfest der CDU im Berliner Zollpackhof.

Merkel ist keine Auftrumpferin. Sie ist so machtbewusst wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder – aber ohne Gehabe. Sie liebt das Bodenständige, das Herzhafte, auch beim Essen. Aber sie zelebriert diese Vorliebe nicht so wie Kohl den Saumagen zelebriert hat, den seine Staatsgäste im Deidesheimer Hof essen mussten. Merkel kokettiert mit ihren Liebhabereien auch nicht so, wie es Schröder mit seiner Currywurst gemacht hat. Das Private ist bei ihr nicht politisch. Und wenn sie, weil ihr die Hochkultur viel bedeutet, alljährlich nach Bayreuth zu Wagner fährt, dann nicht der Bilder wegen. Sie mag Wagner, auch wenn das Theatralische eigentlich gar nicht zu ihr passt. Warum die Kanzlerin „Die Meistersinger“ mag, kann ich mir noch vorstellen – weil die Politik der Wettsingerei in dieser Oper nicht unähnlich ist, in der ein Newcomer die Regeln bricht und siegt. Das ist auch der Vita von Merkel nicht unähnlich, so ist sie CDU-Chefin geworden.

Aber der „Ring“ müsste ihr eigentlich schon deshalb suspekt sein, weil die Leitartikler so oft von einer politischen „Götterdämmerung“ schreiben und in dieser Oper am Schluss die ganze Chose brennt. Richard Wagner gehört vielleicht zu den Abgründen der Kanzlerin. (siehe Text 16)

Ansonsten ist sie nah bei die Leut: Sie isst gern Kartoffelsuppe mit Würstchen, sie isst gern Buletten; Streuselkuchen mag sie auch; und wenn sie Zeit hat, geht sie sogar selber einkaufen. Aber Buhei darum macht sie nicht (es sei denn, es ist gerade Wahlkampf; dann köchelt sie die Kartoffelsuppe auf kleiner Flamme). Ansonsten macht sie um ihr Essen und den Garten, in dem sie Kartoffeln anbaut, so wenig Gewese wie um ihre Kleidung, ihre Kostüme, ihren Friseur, ihren Urlaubsort.

Sie kennt die Insignien der Macht, sie weiß, wo der Hammer hängt, aber sie streichelt die Machtsymbole nicht. Sie ist eine Kanzlerin der machtbewussten Bescheidenheit. Heribert Prantl

Sprung ins Ungewisse

Merkel ist für ihre Zurückhaltung bekannt, doch im entscheidenden Moment bewies sie Machtinstinkt.

Michael Kappeler/DPA

Zu den berühmtesten politischen Eigenschaften Angela Merkels gehört die Geduld. Das Abwarten. Das Erkennen des richtigen Augenblicks. Viele Konkurrenten hat das in den Wahn getrieben. In den eigenen Reihen wie beim politischen Gegner. Sie wollten immer wieder mit ihr kämpfen, jedenfalls ein Duell ausfechten. Und Merkel hat stets so lange gewartet, bis die anderen mürbe wurden, um dann das durchzusetzen, was sie erreichen wollte.

Dieser Fähigkeit voraus gingen freilich zwei Aktionen, bei denen Merkel exakt das Gegenteil unter Beweis stellte. Es waren Momente in ihrem politischen Leben, in denen sie nicht zögerte, sondern sprang – und so alle anderen überraschte. Man kann sagen, dass sie ihre Macht in zwei Schritten aktiv zementierte, um danach in die perfekte Defensive zu wechseln.

Die Rede ist zunächst vom Dezember 1999. Der Skandal um illegale Parteispenden brachte der CDU jeden Tag neue schlechte Nachrichten – und jede Woche einen weiteren Absturz in den Umfragen. Der damalige Parteichef Wolfgang Schäuble war wie gefesselt; auch er trug in dieser Affäre gefährlichen Ballast mit sich herum. Seine Generalsekretärin Merkel aber entschied sich zum Angriff. In einem spektakulären Schritt rief sie die CDU in der FAZ zum endgültigen Abschiednehmen auf. Die Partei, so Merkel, müsse sich von Kohl lösen und den Neuanfang wagen.

Im Rückblick gilt dieser Gastbeitrag vor allem bei den Merkel-Fans als heroische Tat und politische Wegscheide. In den Tagen danach aber war nichts heroisch; für Merkel folgten schwarze Nächte, in denen sie um ihre Zukunft fürchten musste. Die Partei war hin- und hergerissen; Schäuble war erbost, weil er nicht informiert worden war. Und Merkels gleichaltrige Konkurrenten um Günther Oettinger, Roland Koch und Peter Müller waren wütend, weil sie den Brief zu Recht als Frontalangriff auf ihre eigenen Ambitionen interpretierten.

Entsprechend wackelig, so weiß man heute, beging Merkel den Jahreswechsel. Vorbei war das erst, als Roland Koch Anfang Januar die Lüge seiner Landes-CDU in einer Schwarzgeldaffäre einräumen musste. Erst da war klar, dass Merkel aus deren Ecke fürs Erste nichts mehr befürchten musste. (siehe Text 6)

Zwei Jahre später freilich folgte das zweite Duell mit der Männertruppe. Und das gewann Merkel durch einen Winkelzug, den ihre Gegner zunächst als Niederlage Merkels begriffen. Es ging um die Kanzlerkandidatur 2002, und es war klar, dass Merkel im Duell mit Edmund Stoiber selbst in der CDU kaum Rückendeckung erhalten würde. Unmittelbar bevor die Kochs, Müllers und Oettingers Merkel auf einer CDU-Klausur stoppen wollten, reiste Merkel zu Stoiber nach Wolfratshausen, verzichtete auf die Kanzlerkandidatur und sicherte sich ihre Zukunft. Zunächst unbemerkt holte sie sich an diesem Morgen von Stoiber die Zusage, nach der Bundestagswahl auch die Fraktion führen zu können. Partei- und Fraktionschefin – im Herbst 2002 hatte Merkel die ganze Macht und gab sie lange nicht mehr ab. Stefan Braun

Ziemlich beste Freunde

Merkels Beziehung zu Wolfgang Schäuble ist intensiv. Achtung und Skepsis schließen sich nicht aus.

Michael Kappeler/dpa

Es war im Sommer 2012, als Angela Merkel eines Tages Wolfgang Schäuble vorschlug, zusammen ins Kino zu gehen. Ziemlich beste Freunde, die berührende und zugleich fröhliche Geschichte eines Querschnittgelähmten und seines Pflegers. Als Merkel Schäuble einlud, zögerte sie plötzlich: „Oder ist das jetzt blöd?“, fragte sie. „Ha, warum sollen wir eigentlich nicht ins Kino gehen“, antwortete er.

Merkel und Schäuble, die Ostdeutsche und der Badener. Es ist eine der intensivsten und doch am wenigsten durchschaubaren politischen Beziehungen – womöglich sogar für die beiden selbst. Zwischen ihnen war immer Nähe und Distanz, Achtung und Skepsis, Respekt und Misstrauen. Er war schon Bundesminister, als sie in der DDR promovierte. Er war der Verhandler des Einheitsvertrags, als sie nach der Wende in die Politik kam. Er wurde Vorsitzender der CDU und machte sie zur Generalsekretärin. Doch dann wurde sie, was er werden sollte: Kanzler. Sie war verantwortlich dafür, dass er nicht wurde, was er auch hätte werden können: Bundespräsident. Schäubles Karriere besteht neben allem, was er erreicht hat, auch aus dem, was er nicht erreicht hat. Merkels Karriere nicht.

Schäuble hat der jungen Ministerin geholfen. Er war der Erste, der Merkel für kanzlertauglich erklärte. Sie berief ihn in drei Kabinette, schätzte seine Kompetenz, kannte aber auch seinen Einfluss in der Union. Der war gut für ihn und wichtig für sie. Merkel und Schäuble waren oft nicht einer Meinung. Aber sie brauchten einander.

Als der Finanzminister Schäuble während der Euro-Krise viele Wochen krank ausfiel, hielt sie ihn trotzdem im Amt. Das hat er ihr nicht vergessen. Danach gingen sie ins Kino. Aber Dankbarkeit ist keine Kategorie in der Politik. Oder doch? In der Flüchtlingskrise machte Schäuble kritische Andeutungen, zuckte aber letztlich davor zurück, sich öffentlich gegen die Kanzlerin zu stellen. Sie bemühte sich, das politische Verhältnis inniger darzustellen, als es mittlerweile geworden war: Wohl kaum einen Satz hat Merkel so oft mit Würdigung seines Urhebers zitiert wie Schäubles Definition der Flüchtlingskrise als ein „Rendezvous mit der Globalisierung“.

Nach der Bundestagswahl 2017 drängte sie ihn in ein Amt, das er erst nicht wollte: Bundestagspräsident. Im Herbst 2018 war Schäuble der erste prominente CDU-Politiker, der „Erschütterungen“ nach den Wahlen in Bayern und Hessen voraussagte. Und er formulierte einen seiner gefürchteten Sätze, die das Gegenteil dessen meinen, was sie aussagen: Wenn Merkel auf dem Parteitag noch einmal für den CDU-Vorsitz kandidiere, würde sie wohl gewählt. Das klang nach gequälter Loyalität und sollte eher die Mahnung sein, nicht mehr anzutreten. Die brauchte die CDU-Vorsitzende gar nicht mehr. Nico Fried

Die Kunst des Kleinredens

Die Linguistin Elisabeth Wehling über Merkels reduzierte Sprache und ihr rhetorisches Talent.

SZ: Viele namhafte Politiker heuern nach ihrer Karriere bei Redneragenturen an. Könnten Sie sich das für Angela Merkel vorstellen?

Elisabeth Wehling: Angela Merkel als bezahlte Rednerin? Ja, klar. Ich glaube nur nicht, dass sie nach ihrer Zeit als Politikerin Lust hat, in der Weltgeschichte herumzureisen und Keynote-Reden zu halten. Aber Ihre Frage rührt vermutlich daher, dass Frau Merkel im Vergleich zu anderen Politikern sprachlich und rhetorisch nicht auf den Putz haut.

Sie umschreiben ziemlich freundlich, was Kritiker auch „leidenschaftslos“, „bürokratisch“ oder „verwaschen“ nennen. Sie sehen das anders?

Ich finde die Art, wie Frau Merkel redet, jedenfalls interessant. Andere Politiker sprechen viel aggressiver, viel aufrührender. Angela Merkels Gestik, Mimik, auch ihre Lautstärke ist da ganz anders. Sie schreit wenig. Im Vergleich zu anderen Politikern auf ihrem Machtniveau fällt sie damit vollkommen aus der Rolle. (siehe Text 2)

Man könnte auch sagen: Angela Merkel ist eine Meisterin des Ungefähren.

Richtig ist, Frau Merkel bleibt sprachlich sehr oft im Eventuellen. Wenn ich mich als politische Führungsfigur nicht als Visionärin, sondern eher als Managerin verstehe, dann ist diese Art zu reden aber nur ehrlich. Sie verspricht nichts, was sie nicht auch halten kann. So gesehen gibt es bei Angela Merkel keine Dissonanz zwischen ihrem Reden und ihrer Programmatik. Mit dieser managenden Art, Politik zu machen, kann man natürlich trotzdem unzufrieden sein.

Angela Merkels Redestil ist ja meist sehr reduziert, geradezu schlicht. Das steht in einem bemerkenswerten Widerspruch zu ihrer Machtfülle.

Menschen glauben intuitiv, dass der laute Auftritt auch Macht bedeutet. Das ist eine eher männlich geprägte Vorstellung. Macht muss aber nicht laut sein. Im Streit bedeutet laut zu werden oft Hilflosigkeit. Im unaufgeregten Sprechen liegt dagegen sehr viel mehr Macht.

Agiert Angela Merkel so, weil sie es nicht besser kann? Oder ist es Strategie?

Das ist eine bewusste Entscheidung. Wenn sie sich sprachlich nicht festlegt, verringert sie ja auch die Angriffsfläche. Sie können diese Art zu sprechen über lange Jahre ihrer Karriere beobachten. Dahinter steckt vermutlich eine tiefe Gewissheit über ihre Macht. Angela Merkel muss das nicht durch polternde Auftritte belegen.

Wären nicht trotzdem manchmal klärende Worte nötig gewesen?

Es gab Zeitpunkte, in denen sie rhetorisch komplett gescheitert ist. Da fehlte die Einordnung ihrer Politik. 2015 ist ein schlimmes Beispiel. Da gab es den Satz „Wir schaffen das“, und es hätte eigentlich einen rhetorischen Donnerschlag gebraucht, eine ideologische Positionierung. Die kam nicht. Da hat Merkel die Menschen sprachlich in ein Vakuum laufen lassen. Davon hat sich die Gesellschaft meiner Meinung nach bis heute nicht erholt.

Trägt Merkels Art, die Probleme im Wortsinne kleinzureden nicht dazu bei, dass sich die Menschen von der Politik abwenden?

Ja, natürlich. Wenn jemand in so einem politischen Amt über Jahre rhetorisch immer wieder so tut, als ob gar nichts sei, wenn er die wichtigen Themen in der Gesellschaft sprachlich so klein macht, beschädigt er den politischen Diskurs. Man müsste sich nur einmal vorstellen, dass Politiker hierzulande alle so sprechen würden wie Angela Merkel – wir hätten keinen echten politischen Streit. Frau Merkel konnte ihre Rolle über Jahre nur deshalb durchhalten, weil andere den Job erledigt haben: zuspitzen, polemisieren, auch polarisieren. Das alles braucht eine Demokratie, um lebendig zu bleiben. Interview: Jan Heidtmann

Am Ende des Schweigens

Merkel wird oft vorgeworfen, ihre Flüchtlingspolitik nicht erklärt zu haben. Versucht hat sie es aber.

Sven Hoppe/dpa

Schweigen sei eine Form von Kommunikation, hat Angela Merkel einmal gesagt. Auf sie trifft das in vielerlei Hinsicht zu: Im Gesicht der schweigenden Kanzlerin zum Beispiel kann man manchmal mehr ablesen, als man zu hören bekommt, wenn sie spricht. Das ist auf den Bildern vom CSU-Parteitag 2015 besonders gut zu sehen, als Horst Seehofer sie wegen ihrer Flüchtlingspolitik runtermachte. Auch ist Verschwiegenheit von politischen Vertrauten für Merkel ein besonders wichtiger Nachweis der Loyalität. Aus ihrer Morgenlage im Kanzleramt, dem Kreis der engsten Mitarbeiter, ist in 13 Jahren Kanzlerschaft praktisch nichts entwichen.

Viele Politiker gehen mit bedeutenden Sätzen in die Geschichte ein. Kennedy sagte, er sei ein Berliner, Willy Brandt wollte mehr Demokratie wagen. Es ist bemerkenswert, dass auch von Merkel ein Satz in allen Geschichtsbüchern auftauchen wird – „Wir schaffen das!“ – den sie selbst aber nach einiger Zeit bewusst nicht mehr gesagt hat. (siehe Text 12) Sie fühlte sich missverstanden und fand, die drei Worte würden falsch gedeutet. Mit der Streichung des Satzes aus ihrem Repertoire verfiel sie quasi in ein nachträgliches Schweigen.

Ohnehin wird Merkel häufig vorgeworfen, sie habe ihre Flüchtlingspolitik nicht ausreichend erklärt. Es ist eine Kritik, der schon ihr Vorgänger Gerhard Schröder ausgesetzt war, als ihn die Politik der Agenda 2010 immer mehr Zustimmung und letztlich das Amt kostete. Auf Merkel trifft der Vorwurf für die ersten Wochen und Monate nach dem September 2015, als sie die Grenzen für die Flüchtlinge aus Ungarn offen gehalten hatte, zumindest quantitativ nicht zu. Sie äußerte sich in zwei Talkshows in der ARD jeweils eine Stunde lang, antwortete auf Fragen in zahlreichen Pressekonferenzen in Berlin, Brüssel und anderswo, gab Interviews, erhielt nach einer leidenschaftlichen Rede auf dem CDU-Parteitag großen Applaus und stellte sich auf dem Parteitag in München und in einer langen Debatte auf der Klausur in Kreuth auch der Kritik der CSU. Merkel hat in dieser Zeit nicht geschwiegen, eher hat sie sich den Mund fusselig geredet. Nur konnte sie ihre Kritiker eben nicht überzeugen.

Richtig ist aber auch, dass Merkel schweigsamer wurde, je wütender die Diskussion um die Flüchtlingspolitik geriet. Sie hatte sich entschieden, auf die Vorwürfe von Horst Seehofer nicht einzugehen, der als CSU-Chef eine Herrschaft des Unrechts kritisierte oder als bayerischer Ministerpräsident der Bundesregierung mit dem Verfassungsgericht drohte. Auch die Attacken aus der AfD oder von Pegida, die in der Kanzlerin das personalisierte Feindbild sahen („Merkel muss weg!“), ignorierte sie. Jede Reaktion, so Merkels Überzeugung, würde die Kritik nur aufwerten und die Kritiker bestärken.

Es gibt einen ganz kleinen Kreis an absolut zuverlässigen Vertrauten, in dem Merkel aus ihrem Herzen keine Mördergrube macht. „Absprechen“ nennt es die Kanzlerin selbst, wenn sie sich Luft macht in dieser Runde, in der Horst Seehofer immer wieder mal Gegenstand der Erläuterungen gewesen sein dürfte. Öffentlich aber ließ sich Merkel kein Wort entlocken. Es war ihr Versuch, die Situation nicht weiter zu eskalieren – aber die Kanzlerin nahm damit auch den Eindruck in Kauf, sie habe der Kritik nichts mehr entgegenzusetzen.

Merkel wollte die Kritik an ihrer Politik und die Polarisierung der Gesellschaft durch Handeln überwinden und nicht durch Reden. Das ist ihr nicht gelungen, weil das Handeln zum Beispiel bei den Abschiebungen nicht die Erfolge zeitigte, die sie weniger angreifbar gemacht hätten, und weil der Versuch, über andere Probleme als die Flüchtlingspolitik zu reden, von ihren Gegnern als Ausweichmanöver gewertet wurde. Als Verschweigen.

Letztlich ist Merkel nicht daran gescheitert, dass sie ihre Politik nicht erklärt hat, sondern daran, dass ein Teil der Partei und der CDU-Wähler diese Politik nicht wollte. Ihr Abschied in Raten ist auch eine Konsequenz aus diesem Umstand. Nico Fried

Niemandes Mädchen

Eine Feministin wie Alice Schwarzer war Merkel nie. Aber die Sache der Frauen hat sie vorangebracht.

Reuters

Brüste also. Haut. Ein weiblicher Körper. Und dann noch der von Angela Merkel. Die Welt riss die Augen auf, als die Bundeskanzlerin 2008 in der Osloer Oper auftauchte (unser Bild), in einem Abendkleid mit furchtlosem Ausschnitt und mit einem Gesichtsausdruck, als habe sie sich neu erfunden. Es gab viel Lob damals und ebenso viel Geläster über die Machtfrau Merkel, die ihr Dekolleté doch bittschön nicht so offen zeigen möge. Sie hat das Kleid in der Öffentlichkeit nie wieder getragen.

Vielleicht sollte man gar nicht versuchen, das Frausein der Angela Merkel an herkömmlicher Weiblichkeit zu messen. Die Kanzlerin, die sich gern in blickabweisende Blazer verpackt, unterläuft Äußerlichkeiten ja aus Prinzip. Seit Jahren muss sie sich Kommentare über ihre nicht immer glücklichen Frisuren anhören oder über Spuren der Weltpolitik auf der Haut. Frau zu sein, ganz oben und keine Schönheitskönigin, das löst in Deutschland Irritation aus und führt zu Spitznamen wie „Kohls Mädchen“, „schwäbische Hausfrau“, „Mutti“.

Meist sind es Männer, die zu derlei Diminutiven greifen, in einer Mischung aus Hilflosigkeit und Zorn. Wladimir Putin versuchte es mit seinem Hund (siehe Text 18), der Einschüchterungsversuch misslang. Aber auch Frauen haben Merkel unterschätzt, gerade in der Frauenfrage. Die ehemalige Familienministerin Manuela Schwesig etwa glaubte, mit der Kanzlerin lasse sich in der Frauenpolitik nichts erreichen. Sie irrte. Merkel half Schwesigs Vorhaben über manche Hürde, wenn auch ramponiert. Selten hat man die Kanzlerin so strahlen sehen wie am Tag, als der Bundestag der Frauenquote zustimmte.

Nein, eine Feministin wie Alice Schwarzer war Merkel nie, schon ihrer ostdeutschen Herkunft wegen. Die Kratzbürstigkeit westdeutscher Frauenrechtlerinnen ist ihr wesensfremd. Aber die Jahre an der Spitze haben feine Stacheln wachsen lassen. „Schön männlich“, spottete Merkel, als die Junge Union einen Vorstand ohne Frauen wählte. „Sehen Sie sich als Feministin?“, wurde sie 2017 auf einem Podium gefragt. Was folgte, war ein verlegenes, aber irgendwie fröhliches Blinzeln. „Ehrlich gesagt, ähm, möchte ich. Also“, antwortete Merkel. Sie wolle sich nicht mit fremden Federn schmücken. Gelächter im Saal. Die Kanzlerin hatte schon mal überzeugender tiefgestapelt. Constanze von Bullion

Kalkül und Überzeugung

Wie Merkel zur Machtmaschine wurde – und warum sie die Maschine abschaltete.

Steffen Kugler/dpa


Als Angela Merkel eines Morgens erwachte, war sie in eine Vorsitzende verwandelt. Sie merkte mit Erstaunen, dass sie reden konnte wie einst Helmut Kohl. Sie verstand es wie einst er, ja noch viel mehr als er, alle zufriedenzustellen: den schnarrenden Ex-General Jörg Schönbohm, den listigen Heiner Geißler, die junge Hildegard Müller, die damals erste weibliche Bundesvorsitzende der Jungen Union war. Es war wie ein Pfingstwunder. Jeder hörte sie in seiner Sprache, jeder verstand sie so, wie er sie gern verstehen wollte.

Die Sprechblasen der Angela Merkel stiegen also auf in der Essener Grugahalle und platzten nicht an der Decke. Sie schwebten wie Luftballons und die Zuschauer sagten Ah und Oh. So verflog die Trübsal des Kohl-Kiep-Skandals, der die CDU fast in den Orkus gerissen hatte; und an die Stelle von Verzweiflung trat bei der CDU die Begeisterung nicht nur über die Neue, nein: Fast jeder in der Halle war begeistert von sich selbst – über die befreiende Tat, eine Frau an die Spitze gewählt zu haben. Ohne den Kohl-Skandal hätte es eine weibliche CDU-Vorsitzende, wenn überhaupt, erst zwanzig Jahre später gegeben. Nachdem man nun Merkel gewählt hatte, fühlte sich fast jeder als Reformator.

Das war Merkels Anfang als Parteichefin. Sie wurde nicht Vorsitzende der CDU, weil sie profiliert war, sondern weil sie nicht profiliert war; das war ihre prägende Ur-Erfahrung. So erklärt sich der lange, verschlungene Weg einer ideologisch nicht festgelegten, aber innerlich gefestigten und machtbewussten Frau – bei dem sie erst am Schluss wieder ganz bei sich selbst ankam, nämlich bei den Prägungen durch ihr sozial engagiertes Eltern-Pfarrhaus.

Der Anfang vom April 2000 ist wichtig, um zu verstehen, wie Merkel wurde, was sie dann eineinhalb Jahrzehnte lang war. Sie wollte es allen recht machen. Sie hatte anfangs keine Hausmacht: sie war nicht Ministerpräsident; sie war nicht Fraktionschefin, das wurde sie erst später; sie war nur Vorsitzende des CDU-Landesverbandes Mecklenburg-Vorpommern. Sie musste sich die Macht erst schaffen – starke Konkurrenten beseitigen und sich am starken Zeitgeist festhalten, der neoliberal war. Das Ergebnis war der Parteitag von 2003 in Leipzig, bei dem der alte Sozialpolitiker Norbert Blüm von der Bühne gebuht wurde. Die Nachwehen dieser Sache hätten sie 2005 fast den Wahlsieg gekostet.

Merkel zog die Lehre: Die Dinge in der Schwebe lassen; sich möglichst lang nicht festlegen; vielgesichtig sein und verschieden interpretierbar. Sie vermied es strikt, ihr Inneres nach außen zu tragen – nicht ihre glucksende Lebensfreude, nicht ihre Empathie, nicht ihre Grundhaltungen; allenfalls auf Kirchentagen erlaubte sie einen Einblick. So entstand der Merkelsprech, eine geformelte, fast maschinelle Sprache ohne Begeisterungskraft (siehe Text 12). Selbst ihre von DDR-Erfahrungen geprägte Freiheitsrhetorik blieb blass.

Merkel wurde zur Machtmaschine, der man das Mächtige nicht ansah und mit deren Durchhaltevermögen sich kaum jemand messen konnte. So konnte sie letztlich sogar auf eine neue, europafreundlichere Linie einschwenken. Ohne Merkel hätte ein Wolfgang Schäuble den Austritt Griechenlands aus dem Euro erzwungen und Athen wäre von den Russen und den Chinesen gekapert worden.

Im Sommer 2015 dann ein Saulus-Paulus-Erlebnis. Das 15-jährige Flüchtlingsmädchen Reem aus Libanon bittet sie bei einem Bürgerdialog in Rostock anrührend um Hilfe für ihre Familie; Merkel antwortet ausweichend, Reem beginnt zu weinen. Als gefühlskalt wurde Merkel daraufhin kritisiert, obwohl sie es nicht war. Sie war halt Kanzlerin in diesem Moment.

Aber dieser Moment war der Anfang der Flüchtlingspolitik vom Herbst 2015, Wurzel des „Wir schaffen das“. Merkel machte, als Ströme von Flüchtlingen kamen, Herz und Grenzen nicht dicht. „Wir schaffen das“: Das war ein Ausdruck einer anständigen inneren Haltung und das Ende der Machtmaschine Merkel. Wer Merkel jetzt erlebt, der spürt, dass sie die Panzerungen abgelegt hat. Heribert Prantl

Wahre Leidenschaft

Ausgleich? Abtauchen? Flucht? Das Ehepaar Merkel-Sauer und die Liebe zur klassischen Musik.

Michaela Rehle/Reuters

Wenn es um Angela Merkels Hobbys und Leidenschaften geht, fallen meistens drei Stichworte: Wandern (gerne in Südtirol), Hausmannskost (alles rund um die Kartoffel) und natürlich: Musik, Richard Wagners vor allem. Was nun die Musik betrifft, um die es hier gehen soll, ist das Wort Leidenschaft das treffende. Dass es eigentlich ihr Mann sei, Joachim Sauer, der Wagner, überhaupt die klassische Musik so liebe, und sie nur mitgehe, ist falsch. Das kann man nicht nur in verschiedenen Interviews lesen. Wenn man die Kanzlerin in Salzburg, in der Berliner Philharmonie und natürlich in Bayreuth beobachtet, sieht man, dass sie keinesfalls die Mitgeherin ist, im Gegenteil: Was den Grünen Hügel anbelangt, so zählen sie und ihr Mann genau zu den wahren Pilgern, wie Richard Wagner sie sich gewünscht hat (siehe Text 9). Die Premiere mit ihren flatterigen Aufgeregtheiten ist nur der Auftakt, denn die beiden bleiben ja allsommerlich länger da. Erst nach der Eröffnung tauchen sie wirklich ein, Herr Sauer und Frau Merkel. Zur Bunten sagte sie mal, sie möge es, wenn „der Tag auf die abendliche Aufführung geradezu zuläuft, dann erlebt man die Musik viel intensiver“. Der Opernbesuch zu Hause finde „ja meist gleich nach dem Büro statt und oft genug gehen einem dann während der Vorstellung noch tausend andere Dinge durch den Kopf.“ Und zur FAZ: „Wenn ich in Bayreuth oder Salzburg bin, kommt es mir geradezu verschenkt vor, dass ich sonst zum Beispiel mitten in der Woche in eine Oper gehe. Der Kopf ist dann nicht so frei, man ist innerlich nicht so vorbereitet.“

Sie gehen aber trotzdem in die Oper, ins Konzert, auch mitten in der Woche. Sauer wird seiner Frau bei Unbekannterem vermutlich auf der Hinfahrt im Wagen noch kleine Werkeinführungen geben und drängen, dass sie doch jetzt bitte das Handy ausschalten möge. Vor Jahren hatte man auch gehört, dass Sauer es sei, der zu Saisonbeginn der Berliner Philharmoniker schon genau wisse, was er mit seiner Frau unbedingt hören wolle. Es hieß damals, Sauer kaufe alle Karten auf einmal. Dann sieht man sie beide im Publikum sitzen und manchmal auch bei Empfängen nach den Konzerten. Nicht lange, und sie kommen mit genau den Solisten ins Gespräch, von denen man weiß oder deren Spiel und Gesang man anhört, dass sie Zweifler sind, Ringende, Diener an der Musik. Deshalb treffen sie ja ins Herz. Renate Meinhof

Die ewige Kanzlerin

Merkel ist länger CDU-Chefin, als der Berliner Schüler Fritz Bauer auf der Welt ist. Ein Gespräch.

SZ: Sie sind 17 und können sich an keine andere Kanzlerin erinnern. Wie nimmt die sogenannte Generation Merkel ihren Rücktritt wahr?

Fritz Bauer: Ich finde es richtig, dass sie den Weg frei macht, es war Zeit für sie und Deutschland, dass mal jemand Neues kommt. Ich persönlich hätte mir den Schritt schon vor der letzten Wahl gewünscht.

Was haben Sie von ihrer Kanzlerschaft mitbekommen?

Das Thema, das man mit ihr verbindet, ist die Flüchtlingskrise, das Jahr 2015, in dem sie den Flüchtenden Deutschland als offenes Land angepriesen hat. Dieser Schritt wird immer in Erinnerung bleiben. Hätte sie damals eine konservativere Politik betrieben, wie es etwa die CSU macht, würde die Flüchtlingsdebatte eventuell gar nicht so aufflammen. Aber ich finde, es war die richtige Entscheidung, auch aus humanitären Gründen.

Sie kennen sich sehr gut mit Politik aus, wie kommt das?

Ich bin politisch interessiert und habe Politik als Leistungskurs in der Schule, gerade nehmen wir die EU und Europa durch. Und ich gehe zweimal am Tag auf die Tagesschau-App, wische nach oben, um die neuen Themen zu sehen. Und wenn da etwas aufpoppt, das kontrovers ist, diskutiere ich mit meiner Familie darüber.

Krachen Sie da mit Ihren Eltern auch einmal aneinander?

Also, wenn wir streiten, dann eher nicht über Politik. Das letzte Mal haben wir über den CDU-Vorsitz geredet, da waren wir uns alle relativ einig, dass es keiner von den drei Kandidaten werden soll.

Warum nicht?

Die CDU ist einfach nicht meine Partei, ich kann mit der Politik nichts anfangen. Am ehesten würde ich noch Annegret Kramp-Karrenbauer nehmen, weil sie ein bisschen ist wie Merkel, die auch nicht unbedingt CDU-Politik betrieben hat während ihrer Kanzlerschaft. Meine Mutter sagt, Merkel hätte während der Flüchtlingsdebatte eigentlich zur SPD wechseln müssen.

Viele Schulen veranstalten vor einer Bundestagswahl Schülerwahlen – wie ging die an Ihrem Gymnasium aus?

Wir hatten eine Probewahl im Leistungskurs Politik, da gewannen eindeutig die Grünen. Das war zwar nicht repräsentativ, hat aber die Stimmung der Jugend gut wiedergegeben, glaube ich.

Können Sie denn mit einem Politiker wie Robert Habeck etwas anfangen?

Mir gefällt, wie er sich hochgearbeitet hat, er kam durch gute Ideen an die Grünen-Spitze. Meine Mutter sagt, der sollte endlich Kanzler werden, und ich finde den auch gut.

Oft wird gewitzelt, ob nach Merkel nun auch ein Mann Kanzlerin werden kann.

Das habe ich auch schon gehört. Aber das ist nur eine Frage der Gewöhnung, und wenn mal ein Mann ein Jahr lang Kanzler ist, wird man das Gefühl haben, dass die Kanzlerschaft von Merkel ewig vorbei ist.

Ist sie für Jugendliche ein Vorbild, gerade für Mädchen vielleicht?

Wenn man Amtsträger auf einer hohen Ebene ist, hat man automatisch eine Vorbildfunktion. Aber die Mädchen in meinem Alter identifizieren sich sicher nicht mehr mit Angela Merkels Regierungsstil, weil sie eine Frau ist. (siehe Text 14) Da ist die Begeisterung für den Habeck größer. Interview: Verena Mayer

Immer Ärger mit den Jungs

Wie die Kanzlerin sich den Spielen von Putin und Trump verweigert und sich so Respekt verschafft.

DPA

Angela Merkel hat in ihrer Amtszeit vier britische Premierminister, drei amerikanische und drei französische Präsidenten, zwei chinesische und zwei russische Staatschefs erlebt. Im Europäischen Rat ist sie die mit Abstand am längsten regierende Vertreterin – Präsidentin Dalia Grybauskaitė aus Litauen verfügt als Zweitplatzierte über vier Jahre weniger Erfahrung an den Brüssler Ratstischen.

Es ist diese politische Langlebigkeit, die vor allem den männlichen Hauptdarstellern im globalen Staatstheater Respekt abnötigt. Ganz besonders jenen, die ihre Macht mit allen Mitteln zu verlängern wissen. Ganz oben auf der Liste steht da natürlich Wladimir Putin. Der russische Präsident ist, wenn man ehrlich ist, von größerer politischer Langlebigkeit als Merkel. Das Interregnum von Dimitrij Medwedew (2008 bis 2012) kann man eigentlich auch auf das Konto von Putin gutschreiben.

Dazu kommt, dass sich Merkel und Putin gefühlt noch mal zwanzig Jahre länger kennen. Sie sind nahezu gleich alt und haben die prägenden Jahre ihres jungen Erwachsenenlebens wenige hundert Kilometer voneinander in der untergehenden DDR erlebt. Sie sprechen die selben Sprachen und lesen den anderen sogar, wenn er nichts sagt.

Putin erinnert Merkel an die Stasi-Offiziere, die sie im Studium kennenlernen und überhaupt in der DDR beobachten durfte. Die Geschichte mit Koni, dem Labrador, den Putin bei einem der ersten Besuche auf sie losließ (unser Bild) – alte Stasi-Schule. Oder die Szene während der Ukraine-Verhandlungen: Merkel ist bereits bei Putin eingetroffen, Frankreichs Präsident Hollande kommt Minuten später an. Der Tisch im Kreml ist aber nur für zwei Personen gedeckt – Putin macht klar, was er von einem Doppelbesuch hält.

Ob mit Trump, Erdoğan oder Orban – Merkel hat sich für deren Provokationen keine besondere Strategie zurecht gelegt. Sie gibt sich einfach banal bodenständig und verweigert das Spiel. Sie kann warten und schweigen und dabei ein Pokergesicht aufsetzen. Meistens reicht das.

Wenn Putin wieder einmal zu spät zu einem Termin kommt (und eigentlich kommt er immer zu spät), dann tadelt sie ihn mit mütterlichem Spott – ach Wladimir, du bist so durchschaubar. Als Wladimir merkte, dass Angela immer ein Argument mehr zu bieten hatte, vertiefte er sich noch besser in seine Dossiers. Die Argumentationsschlachten der beiden müssen Zuhörern zufolge bemerkenswert sein.

Merkel und die starken Männer, das ist die Kraft der Bullis gegen die Ausdauer und die Gradlinigkeit der Langstreckenläuferin. Merkel sagt, was sie denkt. Als bekannt wurde, dass die Amerikaner ihr Mobiltelefon abgehört hatten, reagierte sie gleichgültig: Was sie denke, sei dem Präsidenten eh bekannt. Merkel spielt kaum taktische Spiele. Aber sie kann warten. (siehe Text 13) Und sie erinnert sich: an alte Zusagen, Schulden, Abhängigkeiten.

Die Riege der starken Männer wird jetzt vom US-Präsidenten angeführt, ausgerechnet. Den hat Merkel gleich am Morgen nach seiner Wahl an gemeinsame demokratische Werte erinnert. Trump hat das offenbar beeindruckt. Mit Merkel-Tiraden hält er sich zurück. Stefan Kornelius

Im Nebel des Unabsehbaren

Merkel bewundert den Historiker Jürgen Osterhammel – und arbeitet an ihrem Bild in der Geschichte.

Sie redet befreit, fast leidenschaftlich, und formuliert Vermächtnisse, vor allem gegen den Nationalismus: Vielen Beobachtern fällt auf, dass Angela Merkel an ihrem Bild in der Geschichte arbeitet (unser Foto: mit Barack Obama 2015 in Oberbayern). Dass dieses Bild vorerst umstritten bleibt, ist absehbar. Zwei Schwergewichte der Zeithistorie beurteilen ihre Kanzlerschaft gegensätzlich. Heinrich August Winkler wirft ihr in der Flüchtlingsfrage Alleingänge aus gesinnungsethischer Selbstüberforderung vor. Herfried Münkler bewundert einen weiblich zurückgenommenen Politikstil, der rationale Kalküle bei der Abwägung von größeren und kleineren Übeln umsetzt. Winkler tadelt ideologischen Überschuss, Münkler schätzt eine Ideologiefreiheit, die auch problematische Nebenfolgen für höhere Zwecke in Kauf nimmt.

Doch wie steht es um Merkels eigenes Geschichtsbewusstsein? (siehe Text 7) Dazu gibt es drei Feststellungen: Sie ist Naturwissenschaftlerin, sie hat die Erfahrung eines Systembruchs hinter sich und sie bewundert den Historiker Jürgen Osterhammel. Die beiden ersten Faktoren mögen sie gegen geschichtsphilosophische Konstrukte immunisieren, gegen die großen Bögen, wie Winkler sie in seiner „Geschichte des Westens“ entwirft. Winkler ist der bei deutschen Politikern heute mit Abstand beliebteste Historiker. Er schreibt eine ideengeschichtlich veredelte Politikgeschichte, in der es um ein „normatives Projekt“ – um Menschenrechte, Verfassungsstaat, Rechtsstaat – geht, das sichere Kriterien der Entscheidung bereitstellt. Winklers Vorwurf der „Gesinnungsethik“ gegen Merkel ist insofern paradox. Aber eben: Der „Westen“ darf auch Interessen haben.

Doch als sich Merkel 2014 während eines Skiurlaubs das Becken brach und mehrere Wochen liegen musste, griff sie in der so gewonnenen Lesezeit nicht zu Winkler, sondern zu Jürgen Osterhammels „Verwandlung der Welt“, einer monumentalen, 1600 Seiten dicken Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts. Merkel war so beeindruckt, dass sie den Historiker bat, einen Festvortrag zu ihrem 60. Geburtstag zu halten. Osterhammel folgte dem Ruf und lieferte eine beispielreiche Betrachtung zu den Zeithorizonten der Geschichte, mit allerlei Seitenblicken auf die anwesenden Politiker als historisch Handelnde: „Für Politik nicht erst in der Gegenwart müsste es ein Wunschtraum sein, wenn alle Veränderungen, die sie auslöst und in die sie eingreift, experimentell und korrigierbar wären.“ Rationalität im Nebel des Unabsehbaren, das ist das Beste, was historisch bewusste Politik überhaupt versuchen kann.

Osterhammel schreibt eine Geschichte, die den ganzen Erdball einbezieht, die in Vergleichen und Konstellationen lebt – die Alternativlosigkeit infrage stellt wie kaum ein anderer historischer Ansatz. Er interessiert sich für Umwelt, Musik, Mobilität, für Zivilisierung und Ausgrenzung, für Verkettungen von Ursachen, die niemand absehen kann. Hier ist nichts selbstverständlich, nichts ordentlich. Ein Gedankenspiel: Müsste Merkel unter den großen Historikern des 19. Jahrhunderts wählen, dann würde sie sich gegen den fortschrittsfrohen Heinrich von Sybel (den Winkler von damals) und für den Skeptiker Jacob Burckhardt entscheiden. Gustav Seibt

Dieser Artikel erschien erstmals am 30.11.2018 in der SZ. Die besten digitalen Projekte finden Sie hier.

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