Die Implant Files
Das gefährliche Geschäft mit der Gesundheit

Frausein als Störfaktor

In der Medizin gilt männlich zu sein bis heute als Normalzustand. Medizinprodukte werden für Männer gemacht - aber auch Frauen eingesetzt. Über die fatalen Folgen einer Gleichbehandlung.

Alle Menschen sind gleich, unabhängig von Hautfarbe und Religion, Geldbeutel und Geschlecht: Das ist eine tolle Sache, wenn es zum Beispiel ums Wahlrecht geht, um Aufstiegschancen, um die Kinderbetreuung oder ums Müllruntertragen. Keine gute Idee ist die Gleichbehandlung von Männern und Frauen allerdings in der Medizin. Aber gerade da wird sie ständig vollzogen, viel häufiger, als es sinnvoll ist.

Ärzte behandeln Frauen wie Männer. Die Folgen sind fatal - für die Frauen.

Ausgerechnet in der Heilkunde, dort also, wo es wirklich physiologische, anatomische und hormonelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, werden diese Unterschiede kaum berücksichtigt. Das führt zu einer Reihe von Gesundheitsschäden bei Frauen, die aus reiner Ignoranz geschehen. Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass Frauen und Männer nicht gleich sind.

So wird ein Herzinfarkt bei Patientinnen regelmäßig übersehen, weil bei ihnen die Symptome nicht so offensichtlich zu erkennen sind. Frauen zeigen eher Atemnot, Übelkeit oder Erbrechen. Auch leiden Frauen um bis zu 70 Prozent häufiger an Nebenwirkungen von Arzneimitteln als Männer. Da überrascht es nicht, dass Frauen auch bei Fehlentwicklungen von Medizinprodukten die Hauptleidtragenden sind. Am Schrott im Körper leiden sie im Grunde sogar doppelt.

Männlich zu sein, gilt in der Medizin bis heute als der Normalzustand, von dem Frauen auf seltsame, gar nicht so genau erforschte Weise abweichen. Deshalb werden alle Menschen tendenziell behandelt wie Männer. Sogar die Skelette, die in vielen Arztpraxen und Anatomie-Seminaren herumstehen, stellen fast immer Männer dar. Als wären breite Becken und schmale Schultern nur ein Versehen der Natur.

In Praxen, Hörsälen und Klassenzimmern sollen Skelette die menschliche Biologie vermitteln - fast nie sehen sie weiblich aus.

Chris Pearsall/imago/blickwinkel

In Praxen, Hörsälen und Klassenzimmern sollen Skelette die menschliche Biologie vermitteln - fast nie sehen sie weiblich aus.

Mit diesem männlichen Menschenbild im Kopf verschreiben Ärzte Frauen häufig Medizinprodukte, die eigentlich für Männer gemacht sind. Die Geräte, Prothesen und Implantate werden von Männern, mit Männern und für Männer entwickelt. Frauen fallen den Konstrukteuren oft erst am Ende ein - wenn es gilt, die Produkte erfolgreich zu vermarkten. Bis dahin spielen Geschlechterunterschiede in der Regel kaum eine Rolle. Und wenn man sich nicht darum bemüht, Nutzen und Risiken eines Medizinprodukts gezielt getrennt nach Geschlecht auszuwerten, dann findet man natürlich auch keine Unterschiede.

Negative Folgen für Frauen fallen den Entwicklern und Anwendern auch deshalb selten auf, weil Frauen in den Studien, in denen die Produkte getestet werden, in der Regel unterrepräsentiert sind. So sind in den Untersuchungen, die Hersteller vor dem Markteintritt für ihre Medizinprodukte gegen Schlaganfall oder Herzinfarkt machen, oft nur 30 Prozent der Probanden weiblich. Bei modernen Herzschrittmachern namens CRT waren es zuletzt sogar nur 20 Prozent. Wenn Frauen also unter einer Nebenwirkung besonders leiden oder ein Produkt ihnen gar nicht hilft, kommt das statistisch nicht so leicht zum Tragen. 

Am Ende werden Frauen dann als menschlicher Sonderfall eben einfach nach Männer-Art mitbehandelt.

Dieser Männerblick auf eine Männerwelt ist zum großen Teil historisch begründet: Junge Männer – nicht selten die eigenen Studenten – waren in der Regel leicht verfügbare und willige Probanden für Professoren, die an den Universitäten ihre Erfindungen testen wollten. Es gibt aber noch andere Erklärungen für die Fokussierung der Forschung auf männliche Patienten: So haben die Hersteller von Medizinprodukten ebenso wie Pharmafirmen Angst davor, ihre Geräte und Substanzen aus Versehen an Schwangeren zu testen und dabei ungeborenes Leben zu gefährden. Die Sorge ist zwar berechtigt, wie der Contergan-Skandal gezeigt hat, als wegen eines als harmlos geltenden Schlafmittels Tausende Kinder mit Missbildungen zur Welt gekommen waren. Aber in Zeiten von Schwangerschaftstests und Anti-Baby-Pillen ließe sich eine Lösung finden. Gänzlich überkommen hingegen ist der Vorsatz, zuallererst den Ernährer der Familie am Leben zu halten, also den Mann in den Mittelpunkt aller Bemühungen zu rücken. Und noch einen Grund für den Ausschluss von Frauen aus Forschungsstudien dürfte es eigentlich nicht mehr geben: Firmen befürchten, dass der weibliche Zyklus mit seinen Hormonschwankungen Studienergebnisse beeinflussen könnte.

Das ist zynisch: Man weiß, dass der weibliche Körper in manchen Aspekten besonders ist, aber statt Produkte unter dem Einfluss dieser Besonderheiten zu testen, schließt man Frauen mitsamt ihren Hormonen, Beckenstellungen und Herzkranzgefäßen einfach ganz aus - wie Störfaktoren.

Denn wenn ein Medizinprodukt erst einmal auf dem Markt ist, sind Frauen natürlich gern gesehene Kundinnen: Sie bekommen in manche Körperteile sogar erheblich mehr Medizinprodukte eingebaut als Männer. So gehen knapp zwei Drittel aller künstlichen Hüft- und Kniegelenke an Frauen. 

SZ-Grafik

Wahrscheinlich spielt es eine Rolle, dass Frauen älter werden und ihre Gelenke anders gebaut sind, weshalb sie leichter verschleißen. Weil die Prothesen aber ursprünglich für Männer entwickelt wurden, kommen Patientinnen mit ihnen oft nicht so gut zurecht.  

Das "Frauen-Knie", das Frauen nicht passte

Jahrelang hatten Patientinnen mit neuen Kniegelenken mehr Probleme als Patienten, zum Beispiel beim Treppensteigen oder wenn sie in die Hocke gingen. Die Gelenke lockerten sich häufiger. Der Grund: Weibliche Knie sind kleiner und haben andere Proportionen. Eine amerikanische Firma, die ihre Knieprothesen anhand von Daten entwickelt hatte, in denen besonders wenige Frauen vorkamen, nutzte ihre späte Erkenntnis noch zur Publicity: Sie vermarktete eine neue Prothese als spezielles "Frauen-Knie". Doch das Frauen-Knie brachte gar keine besseren Ergebnisse für Frauen, zumindest nicht in den ersten drei Jahren. Das wenig überraschende Fazit aus der Geschichte: So wie es im Schuhgeschäft nicht nur Frauen-Modelle bis Größe 40 und Männer-Modelle ab Größe 40 geben darf, so brauchen nicht alle Frauen kleine Knie. Sondern Knie, die ihnen passen.  

In dem Fall hatten die Frauen noch Glück, dass das "Frauen-Knie" wenigstens keine negativen Folgen für sie hatte. Bei anderer Gelegenheit bekamen ihnen vermeintliche Innovationen aber schlecht. 

Verkantete Hüftprothesen

Seit Ende der 1990er-Jahre sind bei künstlichen Hüftgelenken Großkopfprothesen sehr erfolgreich. Sie haben einen kürzeren Schaft, deshalb muss für ihren Einbau ein nicht so langes Stück vom Oberschenkelknochen weichen. Die Teile, die in den Hüftknochen und den Oberschenkelhals eingesetzt werden, sind aber größer als bei anderen Prothesen. Das ist für Frauen, die nun mal oft kleinere Knochen haben als Männer, nicht nur unpraktisch, sondern auch gefährlich. Es kommt leicht zu Verkantungen und in der Folge zu Problemen für die Patientinnen.

Doch Hersteller und Ärzte ignorierten diese Fakten lange. Schon 2010 zeigten entsprechende Register aus Schweden, Großbritannien sowie Australien, dass Frauen mit der Innovation zweieinhalbmal so häufig erneut operiert werden mussten wie mit einer klassischen Hüftprothese. Trotzdem wurden die übergroßen Teile Frauen noch fünf weitere Jahre eingebaut, bis die Firma das Produkt zurückrief.

Oft vom Fortschritt ausgeschlossen

Dem weiblichen Körper nicht angepasst sind oft auch Kunstherzen und Herzschrittmacher. "Die Geräte für die mechanische Kreislaufunterstützung waren in der Frühphase immer zu groß für Frauen und haben deshalb Probleme gemacht", sagt die Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek von der Berliner Charité, eine der Mitbegründerinnen der Gendermedizin in Deutschland. So führten manche Kunstherzen bei Frauen häufiger zu Blutungen oder Schlaganfällen. Das Modell Heart Mate II zum Beispiel war vor seiner Markteinführung in Studien an dreimal so vielen Männern wie Frauen getestet worden. In der breiten Anwendung zeigte sich laut einer Studie mit knapp 500 Patientinnen und Patienten, dass es bei Frauen mehr als doppelt so viele Schlaganfälle auslöste.

Dafür sind Frauen, wenn es denn schon mal echte Innovationen gibt, oft vom Fortschritt ausgeschlossen. Patientinnen bekommen zum Beispiel moderne, fortschrittliche Schrittmacher seltener eingesetzt als Männer. Dabei nützen ihnen solche Geräte sogar mehr als männlichen Patienten: Ihre Sterblichkeit nach solchen Eingriffen ist geringer, Nachoperationen sind seltener, ihre Lebensqualität ist höher.

Was ist der Grund für die schlechtere Versorgung? 

Frauen verdienen meist weniger Geld und sind schlechter versichert. Außerdem drängen Frauen ihre Ärzte seltener, ihnen das Neueste vom Neuesten zu verschreiben. Ohnehin werden Frauen von Ärzten weniger ernst genommen, wie Gendermediziner wissen. Selbst schwere körperliche Leiden werden bei ihnen deshalb häufig übersehen und als psychische Probleme abgetan, sagt Alexandra Kautzky-Willer, Internistin und Gendermedizinerin an der Medizinischen Universität Wien. Statt Frauen die Therapien zu geben, die sie brauchen, verschreiben Ärzte ihnen gerne Psychopillen, das war schon in den 1960er-Jahren so, als Valium zu "Mother's little helper" wurde. "Bis heute werden Frauen zwei- bis dreimal so häufig Psychopharmaka verordnet wie Männern", sagt der Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske, Professor für Arzneimittelsicherheit an der Universität Bremen. Man könnte den Eindruck bekommen, Frauenseelen an sich seien nun mal behandlungsbedürftig.

Das Mann-Frau-Problem sollte wenigstens bei Medizinprodukten aus dem gynäkologischen Bereich nicht existieren, möchte man meinen - die wurden ja eigens für Frauen entwickelt. Aber Frauen droht oft Übles, wenn sich die Hersteller speziell um sie als Kundinnen bemühen: Implantate werden in die sensiblen Organe der Fortpflanzung eingebaut oder sollen Brüste vergrößern. Mögliche Folgen: Unfruchtbarkeit und hormonelle Störungen bis hin zu Krebs. Einige dieser Produkte können hochgefährlich sein. Das ist der zweite Grund dafür, dass Frauen an Medizinprodukten besonders leiden.

Brustimplantate zum Beispiel können die weibliche Gesundheit gefährden. Das hat Diana Zuckerman, die Präsidentin des National Center for Health Research in Washington, D.C., herausgearbeitet: "Die Forschung zeigt ganz klar, dass die Implantate mit signifikanten gesundheitlichen, kosmetischen und wirtschaftlichen Risiken in Zusammenhang stehen", schreibt Zuckerman. Und die Langzeitrisiken seien immer noch nicht bekannt, weil nie saubere wissenschaftliche Studien durchgeführt wurden. Seit den 1960er-Jahren schon gibt es Brustimplantate mit Silikonfüllung, zunächst waren sie nicht sehr begehrt. Doch mit den 1980er-Jahren, als Schulterpolster in Jacken Frauen ein breiteres Kreuz verschaffen sollten, ließen sich Frauen auch zunehmend die Brust vergrößern. Schulterpolster mögen allerdings nur das allgemeine ästhetische Empfinden verletzt haben, Silikonkissen weitaus mehr.

Jede vierte Patientin, die wegen einer Krebserkrankung Brustimplantate erhielt, musste sich binnen sieben Jahren einer Nachoperation unterziehen, nach einer kosmetischen Brustvergrößerung war es jede achte, wie eine aktuelle Untersuchung von knapp 100.000 amerikanischen Frauen zeigt, die seit 2007 Implantate bekommen haben. Insgesamt litt jede zweite Frau nach einer Rekonstruktion in den ersten sieben Jahren unter Komplikationen, nach einer Brustvergrößerung war es jede dritte. Häufig waren die Frauen nicht zufrieden mit dem Ergebnis der OP oder ihr Körper wehrte sich gegen das Implantat und umhüllte es mit einer schmerzhaften Kapselfibrose. Aber oft war auch Materialschwäche der Grund: Die Implantate rissen bei acht bis 16 Prozent der Frauen. 

Gesundheitsrisiko Brust-OP: gerissenes und intaktes Implantat.

Stefanie Preuin

Gesundheitsrisiko Brust-OP: gerissenes und intaktes Implantat.

Auch wenn es um ihren Unterleib geht, müssen Frauen Medizinprodukte fürchten. Vaginalnetze etwa sollen den Beckenboden straffen, wenn er zum Beispiel von Geburten strapaziert wurde. Aber weil die Netze mit dem Gewebe im Unterleib verwachsen, leiden Frauen, bekommen Schmerzen oder eine verkürzte Vagina. Im schlimmsten Fall müssen Eierstöcke oder Gebärmutter entnommen werden.

Hochaktuell ist der Skandal um das Bayer-Verhütungsmittel Essure. Es besteht aus zwei Metallspiralen, die in die Eileiter eingesetzt werden, aber schlimme Nebenwirkungen hervorrufen können: starke Blutungen im Unterleib, große Müdigkeit, Inkontinenz, Depressionen. Tausenden Patientinnen wurde die Gebärmutter entfernt. Bayer hat Essure inzwischen in Europa vom Markt genommen, in den USA wird das Produkt von 2019 an nicht mehr verkauft. Der Konzern betont auf Anfrage allerdings, dass das Produkt sicher und wirksam sei. 

Seit ein paar Jahren haben Essure-Patientinnen eine prominente Mitstreiterin: Erin Brockovich. Ihr Kampf gegen verseuchtes Trinkwasser ist mit Julia Roberts in der Hauptrolle verfilmt worden. Im November 2015 prangerte Brockovich im australischen Fernsehen die Ungleichbehandlung und die mangelnde öffentliche Aufmerksamkeit an. Wenn das Problem männliche Geschlechtsteile betreffen würde, so Brockovich, hätte es schon längst Konsequenzen gegeben.

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Dieser Artikel erschien erstmals am 25.11.2018 in der SZ. Die besten digitalen Projekte finden Sie hier.

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