Im Bauch der Erde

Mit winzigen Mikroben begann einst das Leben. Ihre Ursprünge lassen sich noch heute in kilometerlangen Höhlensystemen erkunden

11 Minuten Lesezeit

Fotos: Robbie Shone, Text: Hanno Charisius

Wäre die Fledermauskacke nicht so ein toller Dünger, vielleicht wäre die unglaubliche Lechuguilla-Höhle in Amerika nie entdeckt worden. Nachdem findige Geschäftsleute in den Hügeln von New Mexico einen riesigen Dungberg abgetragen hatten, kam plötzlich eine unscheinbare Grotte zum Vorschein, für Höhlenforscher eigentlich komplett uninteressant. Nur gelegentlich verirrten sich welche zu dem Loch. In den 1950erJahren aber hörte eine Gruppe starken Wind durch das Geröll am Boden pfeifen.

Manche Höhlen atmen. Zieht draußen ein Tiefdruckgebiet vorbei, pfeift Luft aus der Höhle heraus, Hochdruckgebiete pressen sie wieder in das unterirdische System hinein. Aus der Stärke des Windes schlossen die Speläologen, dass es eine sehr große Höhle dort unten geben muss. Erst am 26. Mai 1986 fanden Höhlenforscher aus Colorado den Durchschlupf in einen Gang. Es folgte die Erkundung einer der spektakulärsten Höhlen der Welt, die bis heute andauert.

Gerade ist Hazel Barton wieder dorthin aufgebrochen. Die wohl bekannteste Höhlenmikrobiologin der Welt sucht dort nach Millionen Jahre alten Lebewesen — Bakterien, die in der Tiefe die Zeiten überdauert haben, vollkommen unbeeinflusst von den Menschen. Fernsehteams und Hochglanzmagazine haben Barton auf ihren Exkursionen in die Unterwelt begleitet, von denen sie immer erstaunliche Kreaturen mit ans Tageslicht bringt. Die Organismen sind zwar so winzig, dass man ein Mikroskop braucht, um sie zu sehen. Doch sie haben das Gesicht der Erde geprägt. 

Mikrobiologin Hazel Barton  nimmt eine Probe.
Mikrobiologin Hazel Barton nimmt eine Probe.

Seit etwa 3,8 Milliarden Jahren gibt es Leben auf der Erde. Die längste Zeit davon war es mikroskopisch, es bestand aus einfachen Einzellern wie jenen Kreaturen, die Barton in der Lechuguilla-Höhle sucht. Ihre Rolle in der Erdgeschichte ist jedoch fundamental. Lange bevor es Pflanzen gab, haben Bakterien Sauerstoff produziert, ohne den es kein Leben auf der Erde geben würde, wie wir es heute kennen: keine Pflanzen, keine Tiere und keine Menschen.

Als „Kritische Zone“ bezeichnen Geowissenschaftler die dünne Schicht zwischen der Oberfläche des verwitterten Gesteins in der Tiefe und der Spitze der Vegetation. In diesem Bereich trifft Gestein auf Leben. Dort wickelt der Planet wichtige Stoffkreisläufe ab. Und überall, bis fünf Kilometer tief in die Erde hinein, spielen Mikroben die Schlüsselrolle. Grob geschätzt entspricht ihr aufsummiertes Gewicht der Masse der Lebewesen auf der Oberfläche.

Da ist es erstaunlich, wie diese unsichtbare Mehrheit so lange unbemerkt bleiben konnte. Bis in die 1990er-Jahre haben Geologen das mikrobielle Mitmischen in der Erdgeschichte noch weitgehend ignoriert. Bis heute ist das Ökosystem unter der Erdoberfläche kaum verstanden.

Dank Höhlen wie jener bei Carlsbad in New Mexico ändert sich das allmählich. „Höhlen sind ein Guckloch in die oberste Schicht der Erdkruste“, sagt Barton. Als Schülerin interessierte sie sich früh für Mikroben, später kroch sie als Hobby in Höhlen hinein. Um die Jahrtausendwende kombinierte sie ihre beiden Leidenschaften und war eine der Ersten, die in Höhlen nach Bakterien suchten. Seither bringt sie immer wieder Sensationen aus der Tiefe ans Tageslicht.

3D-Karte des Labyrinths der 222,6 Kilometer langen Lechuguilla-Höhle. Sie ist nicht nur eine der größten, sie zählt auch zu den schönsten Höhlen der Welt.
3D-Karte des Labyrinths der 222,6 Kilometer langen Lechuguilla-Höhle. Sie ist nicht nur eine der größten, sie zählt auch zu den schönsten Höhlen der Welt.

Vor zwei Jahren beschrieben Barton und ihr Team im Wissenschaftsjournal Nature Communications , wie sie ein Bakterium fanden, das dort seit vier Millionen Jahren vollkommen isoliert lebt und trotzdem gegen 26 verschiedene Antibiotika resistent ist. Solche multiresistenten Keime kennen Ärzte vor allem aus Krankenhäusern, in denen Massen der keimtötenden Mittel verordnet werden, aber nicht aus der unberührten Natur.

Das Bakterium, genannt Paenibacillus, ist kein Krankheitserreger, es ist nur sehr gut darin, den Abwehrstoffen anderer Mikroben zu entgehen. Barton fand die Mikrobe am tiefsten Punkt der Höhle, fast 500 Meter unter der Erde. Es dauert 10 000 Jahre, bis Wasser von der Oberfläche dorthin kommt. Woher also hat Paenibacillus diese Fähigkeiten?

Bakterien sind die natürlichen Erzeuger vieler Arzneistoffe der Humanmedizin. Bakterien produzieren Antibiotika, um sich gegen Konkurrenten durchzusetzen, der Mensch nutzt diese Stoffe, um Krankheitserreger zu bekämpfen. Damit sie an dem Gift nicht selbst zugrunde gehen, haben die Mikroben immer auch einen Abwehrmechanismus gegen ihre eigenen biologischen Waffen.

Solche Fähigkeiten können Bakterien einfach durch kleine Erbgutschnipsel mit anderen Mikroben teilen, und aus irgendeinem Grund hat der Paenibacillus in der Lechuguilla-Höhle davon besonders viele abbekommen. „Die Entdeckung hat unser Verständnis von den Resistenzen verändert“, sagt Barton. „Resistenzen entstehen nicht erst seit der medizinischen Anwendung von Antibiotika in Krankenhäusern, sie sind fest verbaut im Erbgut der Mikroben.“ Die Anhäufung von Resistenzmechanismen könnte eine Überlebensstrategie der Bakterien sein, die in einer äußerst kargen Welt überleben müssen. Da hilft es, die biologischen Kampfstoffe der Konkurrenten unschädlich machen zu können.

Auf ihrer jüngsten Reise wollte Barton nach „Resistenzbrechern“ suchen, wie sie sagt. Damit meint sie Biomoleküle, die in der Lage sind, die Abwehrkräfte eines Bakteriums gegen ein Antibiotikum abzuschwächen. „Das wäre für klinische Anwendung total hilfreich.“ Es kann Jahre dauern, bis sie ihre Funde in einem Fachjournal veröffentlicht. Höhlenmikroben geben ihre Geheimnisse nicht einfach preis.

Manchmal brauchen Mikrobiologen auch einfach Glück. Und manchmal liegt das Glück in Thüringen.

Wer mit dem ICE auf der neuen Strecke zwischen Berlin und München fährt, zischt mit fast 300 Sachen durch die Tunnel – und durch eine Welt, die über 200 Millionen Jahre alt ist, durch Kalk, Schiefer und Sandstein. Im Zug bekommt man von der Erdgeschichte zwar nicht viel mit. Beim Bau der Strecke aber eröffnete sich tief unter dem Bleßberg ein Fenster in diese alte Welt, oder vielmehr: ein Loch.

So etwas kennen Tunnelbohrer. Vor allem wenn sie durch Kalk graben, stoßen sie regelmäßig auf irgendwelche Hohlräume. Eine herbeigerufene Truppe Thüringer Höhlenforscher stieg durch das Loch, in ein über 1000 Meter langes Labyrinth mit einem Bach, einem See, riesigen Tropfsteinen. Den Fachleuten gilt die Höhle als eine der schönsten in Deutschland. Für Mikrobiologen wie Kirsten Küsel war die Entdeckung ein seltener Glücksfall. 

Kalkablagerungen an Gesteinsbröckchen formten diese Höhlenperlen.
Kalkablagerungen an Gesteinsbröckchen formten diese Höhlenperlen.

Kurz bevor die Mineure der Bahn den künstlich geschaffenen Zugang im Tunnelstollen wieder verschließen sollten, durfte die Professorin für Geomikrobiologie von der Universität Jena in die Karsthöhle steigen und Proben nehmen. Zurück im Labor entdeckte die Wissenschaftlerin in ihren Proben mikroskopisches Leben, eine Vielzahl von Bakterien, die seit Millionen Jahren mitten in Deutschland vollkommen isoliert unter der Erdoberfläche lebten. „Das war das Spannende“, sagt Küsel, „die meisten Höhlen sind irgendwie mit der Oberfläche verbunden, durch größere Risse oder Spalten, sodass Lebewesen von der Oberfläche dort hineinkommen.“ Die Bleßberghöhle war komplett isoliert, bis die Tunnelbohrer kamen.

Bei ihrer Suche nach neuen Bakterien müssen die Forscherinnen und Forscher manchmal Frevel begehen und über Millionen Jahre gewachsene Strukturen aus der Höhle brechen. In anderen Fällen können sie auch mit Wattestäbchen Abstriche machen, wie ein Arzt im Mund eines Patienten. Nimmt sie Gesteinsproben, zerreibt Hazel Barton die Bröckchen und mischt sie mit Wasser aus der Höhle, dass sie zuvor sterilisiert hat. „Das Gemisch analysieren wir in Ruhe im Labor.“

Doch selbst für die Aufbereitung der Proben in der Höhle muss sie ein kleines Labor dorthin bringen. Schon ohne große Rucksäcke dauert es Tage, bis die Forscherin in die tiefsten Winkel der Höhle gekrochen ist. Fünf Tage am Stück unter der Erde hatte sie für ihre jüngste Exkursion vorgesehen, inklusive Schlafen, Essen und was sonst so zum Alltag gehört. Sechs Forscher werden sie begleiten, wovon zwei alleine dafür zuständig sein werden, die übrigen mit Material und Proviant zu versorgen.

Solche Sinterbecken entstehen durch Calcitablagerungen. Wasserbewegung prägt die Form.
Solche Sinterbecken entstehen durch Calcitablagerungen. Wasserbewegung prägt die Form.

So entbehrungsreich ist nicht jede Höhle. Wenn zum Beispiel Tillmann Lüders Proben in Sulzbrunn im Allgäu nehmen möchte, ruft er den Höhlenwart an, der am Tag vor Lüders Besuch das Wasser abpumpt und die Tür öffnet, damit Luft hineinkann. Die Höhle von Sulzbrunn wurde vor vier Jahren berühmt. Eigentlich ist es nur eine halbe Höhle, zur anderen Hälfte ist es ein Stollen, der zu einer jodreichen Heilquelle führt, die ab dem 19. Jahrhundert genutzt wurde. 2014 entdeckten Lüders und sein Team in der halbkünstlichen Höhle lebende Tropfsteine aus Schleim. Decke und Wände sehen so aus, als würden Millionen Rotznasen tropfen. Die Probennahme ist hier eher einfach und geschieht auch mal unabsichtlich mit Schulter oder Ellbogen, wenn man sich nicht vorsieht.

Der Mikrobiologe Lüders leitet die Arbeitsgruppe Molekulare Ökologie am Institut für Wasserökologie des Münchner Helmholtz-Zentrums. Er interessiert sich besonders für das Leben und Wirken von Bakterien im Grundwasser, die dort zum Beispiel Gifte abbauen, die der Mensch in die Umwelt gelassen hat. Aber als er von dem Schacht in Sulzbrunn hörte, war ihm „schnell klar, dass die Höhle sensationell ist“. Die Forscher hatten eine Lebensweise entdeckt, die so bislang unbekannt war.

Aus den Tiefen steigt Methan auf und sammelt sich im Stollen. Dort entsteht eine „mikrooxische Atmosphäre mit sehr wenig Sauerstoff“, sagt Lüders. „Höhere Lebewesen überstehen das nicht.“ Die kommen sonst immer, sobald irgendwo Bakterien leben, die ersten Glieder der Nahrungskette. Nicht so in Sulzbrunn. Für die Mikroben aber ist das Methan eine schier unbegrenzte Nahrungsquelle, weshalb sie zu riesigen Kolonien heranwachsen.

In vielen sauerstoffhaltigen Höhlen entwickeln sich hingegen ganze Nahrungsnetze unter der Erde – unabhängig von jenen auf der Oberfläche des Planeten, die Energie hauptsächlich aus der Sonne beziehen. Ohne diese Möglichkeit müssen Lebewesen die Energie aus ihrer Umgebung ziehen. Zu diesem Trick sind sogenannte lithotrophe Bakterien in der Lage, was man mit „Felsenfresser“ übersetzen kann, die in der Lage sind, Mineralien zu verwerten.

„Jede Höhle hat ihre eigene Chemie, die sie einzigartig macht“, sagt Hazel Barton. „Die Höhlen bestimmen, was wir in ihnen erforschen können.“ In Lechuguilla faszinieren sie zurzeit die Abwehrkräfte der Mikroben, in einer brasilianischen Höhle hingegen stieß sie auf Bakterien, für die Eisen das ist, was der Sauerstoff in der Luft für Menschen ist. Eigentlich ist das eisenhaltige Gestein dort extrem hart und verwittert kaum. Die Bakterien aber wirken darin wie Weichmacher, sodass Wasser das Gestein auswaschen kann. Dadurch sind riesige Höhlen entstanden, die es ohne Zutun der Mikroben nicht geben würde.

In Frankreich kamen kürzlich Biologen dem rätselhaften Phänomen der Heliktiten auf die Spur, einer Art von Stalaktiten, die jedoch nicht gezogen von der Schwerkraft gerade von der Decke herunter wachsen, sondern in alle möglichen Richtungen ragen.

Sich in alle Richtungen streckende Heliktiten wachsen wahrscheinlich unter Mithilfe von Bakterien.
Sich in alle Richtungen streckende Heliktiten wachsen wahrscheinlich unter Mithilfe von Bakterien.

Das Wachstum dieser merkwürdigen Höhlenminerale scheint ebenfalls von Bakterien gesteuert zu werden. Kirsten Küsel aus Jena hat im Grundwasser Bakterien gefunden, die Energie aus Schwefel- oder Stickstoffverbindungen ziehen, und Kohlendioxid binden können, ähnlich wie Pflanzen. Und in der Bleßberghöhle stieß sie sogar in Stalaktiten auf eine mikrobiologische Lebensgemeinschaft.

„Diesen Lebensräumen ist in der Regel gemein, dass es sehr, sehr wenig Energie gibt, da das Sonnenlicht fehlt“, sagt Küsel. Dadurch wird das mikrobielle Wachstum extrem langsam. Manche Bakterien in sehr tiefen Erdschichten teilen sich hochgerechnet nur alle hundert bis tausend Jahre einmal. Wie Hazel Barton nutzt auch Küsel vor allem Erbgutanalysen, um neue Bakterien aufzuspüren, denn die Höhlenbewohner lassen sich nur widerwillig im Labor züchten. „In 0,01 Prozent der Fälle gelingt uns das“, sagt Barton. So bleibt nur das Erbgut, das die Forscher in ihren Gesteins-, Sediment- oder Wasserproben finden, um etwas über das Leben dort zu erfahren.

Viele der Mikroben, auf die Küsel bislang gestoßen ist, haben ein kleines Genom. „Um Energie zu sparen, haben sie die Anzahl ihrer Gene reduziert und sind daher auf die Hilfe von anderen angewiesen“, sagt Küsel. Diese Arbeitsteilung im Mikrokosmos hat sich im Lauf der Evolution entwickelt. Für die Geomikrobiologin liegt auf der Hand, dass sich das Leben viel aus der Geologie abgeschaut hat. „Dass die ersten Lebewesen Steine gefressen haben, liegt auf der Hand“, sagt Küsel, „es gab ja nicht viel anderes.“

Wenn Leben an solch extremen Orten nicht nur möglich ist, sondern dort wahrscheinlich sogar begann, dann liegt die Frage nahe, ob das nicht auch an anderen Orten im Universum passiert sein könnte. Bakterien, wie sie in isländischen Eishöhlen leben, könnten wohl auch auf dem Jupitermond Europa gedeihen, der wahrscheinlich von gefrorenem Wasser überzogen ist. Gibt es tatsächlich Wasser unter der Marsoberfläche, könnten dort Bedingungen herrschen wie in den mexikanischen Unterwasserhöhlen von Yucatán. Barton hält es für möglich, dass Mikroben eine Reise durchs All überstehen und Mars und Erde in den letzten paar Milliarden Jahren immer wieder Leben ausgetauscht haben, durch Brocken, die von einem Planeten zum anderen flogen.

„Astrobiologie klingt sexy“, sagt Kirsten Küsel. „Aber letztlich erforscht man, wie Leben auf der Erde entstanden sein könnte, und man sucht nach Spuren von ehemaligem oder noch immer vorhandenem Leben.“ Das könnte noch sehr hilfreich werden. Nämlich dann, wenn Proben vom Mars doch einmal die Erde erreichen sollten. Küsel sagt: „Ich glaube, wir werden dann sehr viele Überraschungen erleben.“

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