Was, schon so spät?

In der Nacht zum Sonntag werden die Uhren eine Stunde zurückgedreht. Ein Anlass um mal grundsätzlich über die Geheimnisse der Zeit nachzudenken.

14 Minuten Lesezeit

Text: SZ-Autoren, Illustrationen: Stefan Dimitrov

Nichts ist leichter, als die Zeit von einer Uhr abzulesen, und klar, wir leben in der Gegenwart. Aber wie lang dauert ein Augenblick überhaupt, und wie lange die Ewigkeit? Hat die Zeit einen Anfang und ein Ende? Was war davor und was kommt danach? Physiker, Philosophen, Psychologen streiten seit Langem über das Wesen der Zeit. Allein mit Messinstrumenten und Berechnungen wird man ihr Geheimnis nicht lösen können.Jeder Mensch macht sich im Kopf auch seine eigene Zeit.

Warum der Tag nicht zehn Stunden lang ist

Im Alltag dreht sich so ziemlich alles um die Zehn. Die Eins gefolgt von der Null bildet die Grundlage des Zahlensystems. Nur die Zeitmessung schert da aus. Der Tag ist zweimal zwölf Stunden lang, und nicht zwanzig oder zehn. Eine Stunde hat sechzig Minuten, jede Minute hat sechzig Sekunden, die, hoppla, da rutscht die Zeitmessung doch wieder ins Dezimalsystem, jeweils aus 1000 Millisekunden bestehen.

Schuld daran sind wahrscheinlich die Babylonier. Ihr Zahlensystem beruhte auf der Zahl 12, wohl aus religiösen Gründen. Anstoß dazu gab vielleicht die Beobachtung, dass der Mond pro Jahr etwa zwölf Phasen von Neu- zu Vollmond und zurück durchläuft. Vermutlich daran angelehnt wurde irgendwann begonnen, den Tag in zwölf Licht- und zwölf Dunkelstunden zu unterteilen. Die Zwölf ist aber auch sehr praktisch.

Deshalb bekam die Stunde sechzig Minuten und jede Minute sechzig Sekunden zugewiesen, ein Vielfaches von zwölf, mit dem sich sehr viel besser rechnen lässt als zum Beispiel mit der Hundert. 60 lässt sich besser durch kleinere Zahlen teilen als 100. Und hätte die Uhr tatsächlich zehn statt zwölf Stunden, würden die Zeiger bei „Viertel nach“ und „Viertel vor“ nicht mehr bei den vollen Zahlen 3 und 9 stehen.

Mit diesem Problem bekamen es die Uhrmacher nach der Französischen Revolution zu tun, denn die Franzosen führten nach dem gewaltsamen Ende des feudal-absolutistischen Ständestaats die Dezimalzeit ein mit einer Tageslänge von zehn Stunden, die jeweils 100 Dezimalminuten à 100 Dezimalsekunden lang waren. Nach zwei Jahren kehrten die Revolutionäre wieder zur alten Zeitrechnung zurück.Hanno Charisius

So tickt das Universum

Um zu wissen, wie schnell es im Universum zugeht, muss man sehr genau hinsehen, auf ein Atom zum Beispiel. Trifft ein Lichtstrahl darin auf ein Elektron, kann es das Elektron aus dem Atom katapultieren – ähnlich wie eine Billardkugel eine andere wegstößt. Diese Anregung, auch photoelektrischer Effekt genannt, beschrieb Albert Einstein schon 1905. Doch wie schnell das Ganze abläuft, war lange ein Rätsel. 2010 stoppten Münchner Physiker des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik mithilfe von Laserstrahlen den Vorgang. Laut dem Experiment dauert es zwischen fünf und 15 Attosekunden, bis das Elektron das Atom verlässt. Eine Attosekunde ist das Milliardstel Milliardstel einer Sekunde. Vor zwei Jahren perfektionierten die Forscher die Experimente weiter und maßen mit einer Genauigkeit von 850 Zeptosekunden. Eine Zeptosekunde ist wiederum ein Tausendstel einer Attosekunde, oder 0,000000000000000000001 Sekunden. Das Experiment mit der Laserstoppuhr ist die genaueste Zeitmessung, die Menschen bislang gelungen ist.

Im Vergleich dazu, wie schnell das Universum theoretisch ticken kann, ist das eine Ewigkeit. 850 Zeptosekunden dauern rund 16 Quadrillionen Mal länger als die sogenannte Planck-Zeit, die kürzeste Zeitspanne, die theoretisch gemessen werden kann. In Sekunden ausgedrückt hätte dieses Zeitintervall 43 Nullen hinter dem Komma. Die Planck-Zeit ist auch der erste Zeitpunkt nach dem Urknall, von dem an die bekannten Naturgesetze gültig sind. Die Physik, um weiter zurückzuschauen, ist noch nicht entdeckt. Und die Frage ist, ob das Konzept von Zeit in diesen Skalen überhaupt noch eine Bedeutung hat. Christoph von Eichhorn

Der Gang der Großstadt

Die Zeit, die Menschen für ihre täglichen Wege aufwenden, hängt stark von ihrer Umgebung ab. Ein Fußgänger in Singapur legt 60 Fuß (knapp 20 Meter) in nur 10,5 Sekunden zurück. Ein Berliner benötigt 11,2 Sekunden und hängt damit knapp den angeblich so zackigen New Yorker (zwölf Sekunden) ab. Am gemächlichsten scheint es in Blantyre in Malawi zuzugehen: 31,6 Sekunden dauert der kurze Gang, wie ältere Untersuchungen des Psychologen Richard Wiseman nahelegen. Andere Autoren haben gezeigt, dass die Größe der Stadt mit der Gehgeschwindigkeit korreliert. Sie vermuten, dass ein „Übermaß an Stimuli“ die Menschen antreibt – aber auch, dass in Großstädten schlicht mehr junge Menschen unterwegs sind. Berit Uhlmann

In einer Minute

schlagen alle menschlichen Herzen zusammen 560 Milliarden Mal, prasseln 28 Kilogramm kosmischer Staub auf die Erde, werden weltweit 258 Menschen geboren, nehmen sich 1,5 Menschen das Leben, haben 1,5 Millionen Menschen einen Orgasmus, werden 534,82 Millionen E-Mails versendet und empfangen, fließen 8,31 Millionen Kubikmeter Wasser aus den Hähnen der Welt, gibt Amazon

26 275 Euro für Forschung aus, fressen die Vögel der Welt 951 Tonnen Insekten, werden Google 3,8 Millionen Suchanfragen gestellt, werden 285 000 Tiere geschlachtet, verbrauchen die Gehirne der Menschen 150 Gigawatt Energie, scheiden Menschen 62,5 Tonnen Kot aus, betreten 7000 Reisende ein Flugzeug, werden 55 Milliarden Wörter gesprochen, 1,25 Millionen Fotos auf die sozialen Netzwerke geladen und 750 000 Songs auf Spotify abgespielt, sterben 24 Menschen an Infektionskrankheiten, werden 100 Milliarden Wörter gelesen, werden von Männern, Frauen und Kindern 15 800 Liter Tränen geweint, könnte man mit Lichtgeschwindigkeit 420 Mal die Erde umrunden, flog die Apollo 10 Rakete 667 Kilometer, wächst eine Bananenpflanze bis zu 1,1 Millimeter, schlägt ein Amethyst-Kolibri 4680 Mal mit den Flügeln, bewegt sich ein Seestern knapp 1 Zentimeter und ein Faultier auf der Flucht bis zu 32 Meter, zahlt der deutsche Staat 69 906 Euro Zinsen für den Schuldendienst, atmet ein Erwachsener mindestens sieben Liter Luft ein und aus, gehen 431 Quadratmeter Bodenfläche in Deutschland verloren, verdient Amazon-Gründer Jeff Bezos 59 000 Euro (2017).

Die Illusion der Zeit

In einer gewissen Lebensphase rutscht fast jeder in eine Form der Altersarmut ab. Die Betroffenen flippern durch den Alltag und belästigen ihr Umfeld mit einem Satz: „Ich habe keine Zeit.“ Zu einem großen Teil stimmt das natürlich: Kinder, Partner, Familie, Freunde, und der Arbeitgeber kürzt Stellen sowie Budgets, ohne die Aufgaben zu reduzieren. Die Zeitarmut speist sich aber auch zu einem Teil aus einer anderen Quelle: dem Gefühl. So haben Psychologen gezeigt: Das Gefühl der Zeitnot mindert sich, wenn man Mitmenschen Zeit schenkt. Das klingt zunächst widersinnig, verdeutlicht aber: Das Zeitempfinden ist eine höchst subjektive Angelegenheit. Ein paar Minuten auf die verspätete S-Bahn zu warten, kann sich zu einer quälenden Ewigkeit hinziehen. Die gleiche Anzahl Minuten konzentriert sich aber zu einem Augenblick, wenn man sich in einer herrlichen Zerstreuung ergeht. Im Detail enträtselt sind die vielen Facetten subjektiver Zeitwahrnehmung noch nicht. Klar ist jedoch zum Beispiel, dass ein neuer, bis dahin unbekannter Reiz so wahrgenommen wird, als nehme er mehr Zeit in Anspruch als ein exakt gleich langer, aber altbekannter Reiz. Das könnte ein Grund sein, warum die Zeit mit zunehmenden Alter zu rasen scheint: Irgendwann besteht das Leben vor allem aus Wiederholungen, vielleicht trägt auch das zur Zeit-Altersarmut bei. Dass die Zeit in Extremsituationen still stehen kann, ist übrigens eine Illusion des Gedächtnisses: Wenn es ums nackte Überleben geht, speichert das Gehirn Erlebnisse als besonders „dichte“ Erinnerung ab, die sich erst retrospektiv als extrem lang anfühlt. So ist es in der Rückschau: Früher, da war viel mehr Zeit, zumindest fühlt es sich so an. Sebastian Herrmann

Wann hat alles angefangen?

Im menschlichen Alltag, wenn die Zeit bekanntlich allzu schnell vergeht, ist schwer vorstellbar, dass es irgendwann gar keine Zeit gegeben haben soll. Und schon das ist verwirrend, denn wenn es keine Zeit gab, dann konnte es auch keine Zeit geben, in der es keine Zeit gab. Sondern, ja was eigentlich? Genau das, die Nichtexistenz von Zeit vor unserer Zeit, besagt das klassische Bild des Urknalls, der vor 13,82 Milliarden Jahren stattgefunden haben soll. Jenes Ereignis soll nicht nur das heutige Universum, sondern auch alle räumlichen Dimensionen hervorgebracht haben – ebenso wie die Zeit, welche Albert Einstein und Mathematiker wie Hermann Minkowski zur „Raumzeit“ vereinigten. Somit hätte es die Zeit vor dem Urknall schlicht und einfach nicht gegeben. Die Frage nach dem Davor wäre sinnlos. Doch Physiker wären keine Physiker, hätten sie nicht längst weitere, noch viel bizarrere Konstrukte erdacht, die das Wesen der Zeit erklären sollen. Multiversen gehören dazu, die sich ständig wie Blasen eines Schaumbads bilden und vergehen. In diesen würde Zeit eine Rolle spielen. Auch über Universen mit vielen Dimensionen, in denen unsere kleine vierdimensionale Raumzeit wie eine Hundehütte aussähe, denken Kosmologen nach. Gehandelt wird auch die These eines Universums, das sich wie ein Ballon ständig ausdehnt und wieder zusammenschrumpft. In diesem würde die Zeit immer wieder neu entstehen. Jenen, die sich mathematisch mit solchen Theorien befassen, macht das Spielen mit der Zeit große Freude. Normalmenschen wäre schon geholfen, wenn man Zeit im Alltag manchmal anhalten könnte. Dafür haben Physiker noch keine Maschine entwickelt. Patrick Illinger

Das beschleunigte Leben

Herrlich – im Großraumwaggon wird das mit Käse überbackene Schinkenbaguette gebracht, und das Telefonat mit dem Neukunden verläuft erfreulich. Schnell noch ein paar Mails beantwortet, Nickerchen gemacht, die Liebsten angerufen, dann: Verspätungsdurchsage im ICE. Alltagsverrichtungen wie Transport, Arbeit, Nahrungsaufnahme, Kommunikation und Beziehungspflege lassen sich längst unterwegs und manchmal gar gleichzeitig erledigen, doch der Mensch beschwert sich trotzdem, immer weniger Zeit zu haben. Es gehört zu den Paradoxien der Moderne, vor lauter Beschleunigung nicht etwa mehr Ruhe zu haben, sondern regelmäßig überfordert auf der Strecke zu bleiben.

Die Überforderung ist hausgemacht. Ein durchschnittlicher Haushalt um das Jahr 1900 besaß ungefähr 400 Gegenstände. Heute sind die Menschen zu Hause im Mittel von 10 000 Dingen belagert, von denen die stumme Aufforderung ausgeht, beschäftige dich mit mir – und sei es, dass man sich überlegen muss, was man als Nächstes wegwirft. Und ein Pendler, der sich die soziale Tortur öffentlicher Verkehrsmittel antut, sieht auf dem Weg zur Arbeit täglich mehr Zeitgenossen als ein Mensch im Mittelalter während seines ganzen Lebens.

Das geht nicht spurlos an uns vorbei. Der ständige Kontakt, auch wenn er nur passiv stattfindet und man solipsistisch im Gewühl der U-Bahn auf sein Handy starrt, strengt an, denn er erfordert Abgrenzung oder Teilhabe, besondere Konzentration oder den transzendental geschulten Blick ins Leere. Unter Fremden, auch wenn sie friedlich im selben Waggon hocken und geschäftig tun, steigt das Stressniveau. Gesund ist das nicht; Wohl fühlt sich der Mensch nur unter Wohlgesinnten.

Und dann ist da noch das schlechte Gewissen. Wie soll man dieses Dilemma auch lösen: Während ich etwas mit der Familie unternehme, vernachlässige ich das Projekt im Büro. Brüte ich abends noch über Dateien, leidet die Familie, und für mich habe ich auch schon lange nichts mehr getan. Im Fitnessstudio schließlich stähle ich zwar den geplagten Körper, aber die Kinder hätten mich auch gern mal wieder gesehen, und die Kollegen erwarten Feedback. Desynchronisationskrisen nennen Soziologen das typische Symptom der Moderne – weil sich alles beschleunigt, der Tag trotz aller Zeitumstellungen aber meist nur 24 Stunden hat, bleibt ständig das Gefühl, nicht hinterherzukommen. Wie auch? Während ich das eine tue, vernachlässige ich das andere. Schuldig bin ich sowieso.

Mit dem absurden Lob des Multitaskings und dem Hohelied auf flexible Arbeitszeiten hat die Verwertungslogik des Westens den Arbeitnehmer endgültig zum Opfer seiner selbst zugerichtet. Feierabend war früher und klingt heute so altmodisch wie: Kassettenrekorder. Stattdessen Selbstoptimierung, ständig an sich arbeiten, sich mit seiner Leistung identifizieren – doch wehe, nie kann man den Anforderungen ganz genügen, schließlich ist mehr Freiheit und Flexibilität auch an mehr Wettbewerb gekoppelt. Und das Potenzial nie ganz ausgeschöpft.

Die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse macht auch vor dem Liebesleben nicht halt. Wann ist die beste Zeit, den Kinderwunsch umzusetzen, und wieso sich überhaupt zeitaufwendig binden? Nach jahrelanger Beziehung dann die nüchterne Bilanz: Lohnt der Aufwand mit dem erschlafften Partner überhaupt noch – oder anders gesagt: Ist das Liebe, oder kann das weg? Werner Bartens

Reise in die Zukunft

Normalerweise funktioniert die Sache mit der Zeitreise so: Der Reisende gibt in seiner Zeitmaschine ein Reiseziel ein, drückt einen Knopf – und landet in Vergangenheit oder Zukunft. Kann das physikalisch funktionieren? Tatsächlich ist es nach der speziellen Relativitätstheorie von Albert Einstein prinzipiell möglich, in die Zukunft zu reisen, in die Vergangenheit allerdings nicht. Der Kosmonaut Gennadi Padalka, Rekordhalter mit insgesamt 878 Tagen im All auf MIR und ISS, raste mit 27 600 Kilometer pro Stunde durch den Orbit. Er kam, alle Reisen zusammengenommen, um ein Vierundvierzigstel einer Sekunde jünger an, als wenn er auf der Erde geblieben wäre. Um diese Winzigkeit war er tatsächlich in die Zukunft gereist. In der Physik wird dies mit dem Phänomen der Zeitdilatation beschrieben. Zeit vergeht in Systemen, die sich relativ zum Beobachter schnell bewegen, deutlich langsamer. Je schneller ein Raumschiff fliegt, umso langsamer vergeht darin die Zeit relativ zur Erdzeit. Für Raumfahrer auf der ISS ist der Effekt gering, bei deutlich höheren Reisegeschwindigkeiten und größeren Entfernungen kommen ordentliche Zeiten zustande. Physiker schildern hier gern das sogenannte Zwillingsparadoxon. Ein Zwilling bleibt auf der Erde, der andere reist durchs All, beispielsweise zum Proxima Centauri, einem 4,242 Lichtjahre von der Erde entfernten Stern. Würde Zwilling 1 mit 99,99 Prozent der Lichtgeschwindigkeit rasen und wären Effekte beim Beschleunigen, Wenden und Abbremsen des Raumschiffs vernachlässigbar, käme er bereits nach 43 Tagen und 19 Stunden zurück auf die Erde. Der Erdenzwilling wäre zu diesem Zeitpunkt 8,484 Jahre älter geworden. Hubert Filser

Zwei Mal Silvester an einem Tag

An der Ostküste Australiens gehen die Uhren anders – zumindest wenn man die Bewohner von Coolangatta und Tweed Heads fragt. Denn die beiden Nachbarorte liegen auf einer besonderen Zeitgrenze. Tweed Heads gehört zum Bundesstaat New South Wales und folgt der Sommerzeit; der Bundesstaat Queensland, in dem Coolangatta liegt, dagegen nicht. Im Sommer kann das unangenehme Folgen haben: Auch wenn die Öffnungszeiten in den Orten vielleicht die gleichen sind – Kunden sollten doch immer den Zeitunterschied im Hinterkopf behalten. Ein angenehmer Nebeneffekt: Weil auf der Südhalbkugel Sommer ist, wenn im Norden Winter herrscht, fällt auch Silvester in den Sommer. So können die Bewohner von Coolangatta und Tweed Heads in nur einer Stunde zweimal den Jahreswechsel feiern.Sebastian Kirschner

23:00 Uhr: Auftritt der Dinosaurier

Bis ins 19. Jahrhundert hinein war die Geschichte der Erde noch einigermaßen überschaubar; schließlich hatte James Ussher, der Erzbischof von Armagh und Primas in Irland es bereits 1650 ausgerechnet: Die Erde sei am Sonntag, 23. Oktober 4004 v. Chr., erschaffen worden. Noch etwas genauer war sein Zeitgenosse John Lightfoot von der Cambridge University, er wusste sogar die Uhrzeit: neun Uhr morgens. Kann man alles aus der Bibel ableiten.

Da wundert es nicht, dass viele Menschen erschüttert waren, als die moderne Geologie ab Ende des 18. Jahrhunderts herausfand, dass die Theologen etwas daneben lagen – genauer gesagt: um mehr als den Faktor 1000 000. Die Erkenntnisse der Stratigraphen, Paläontologen, Geochemiker und Geochronologen beweisen, dass die Erde etwa 4,6 Milliarden Jahre alt ist. „Dem Geist wird ganz schwindlig zumute, wenn er derart tief in den Abgrund der Zeit schaut“, schrieb der Mathematiker John Playfair im Juni 1788. Wieder einmal eine Kränkung, weil klar wurde, dass diese Erde nicht mit den Menschen erschaffen worden war, sondern für Äonen einsam und kalt durch das Weltall flog, erst nach Hunderten Millionen Jahren erste Einzeller entstanden. Bis heute tut man sich schwer, ein Gefühl für diese Tiefenzeit zu gewinnen, Menschen sind zeitblind. Ganz hilfreich ist, wenn man sich die Geschichte der Erde wie einen einzigen Tag vorstellt. Dann wären erst gegen 21.30 Uhr die ersten Wirbeltiere aufgetaucht, gegen 23 Uhr stiegen die Dinosaurier zu den Herrschern der Welt auf. Und der moderne Mensch, der erschien erst Sekunden vor Mitternacht auf diesem Planeten.Christian Weber

Die Zeit schrumpft den Raum

Die Welt, sie schrumpft seit Jahrhunderten, schuld sind unter anderem die Kutschen. Der Historiker Reinhart Koselleck wies darauf hin, dass sich bereits vor dem Zeitalter der Maschinen der Transport beschleunigte. So verkürzte sich die Postkutschenzeit zwischen Berlin und Köln zwischen 1814 bis 1848 von 130 Stunden auf 78 Stunden, der Grund: besser ausgebaute Straßen. Ein sogenannter Klipper, ein neuartiges Segelschiff mit hohen Masten, schaffte die 19 000 Kilometer von New York über Kap Horn nach San Francisco in 90 Tagen statt wie bisher in bis zu 190 Tagen. Eisenbahn, Auto und Passagierflugzeug gaben dieser Entwicklung dann einen letzten Schub: Misst man die Transportzeiten, dann ist die Welt seit dem 18. Jahrhundert auf circa ein Sechzigstel ihrer ursprünglichen Größe reduziert worden.

Und das hat Folgen für unsere Weltwahrnehmung, wie der Soziologe Hartmut Rosa analysiert hat: Diese Entwicklung ließ „den Raum in Wahrnehmung und Relevanz für viele soziale und kulturelle Vorgänge gleichsam schrumpfen und schließlich geradezu zu einer Funktion der Zeit werden“. Die Fußreisenden der Vergangenheit konnten ihre Umgebung noch fühlen, riechen und sehen, mussten mit Wind und Wetter zurechtkommen. Spätestens mit der Erfindung der Autobahn wurde der Raum dann völlig abgeblendet, die Orientierung erfolgt nicht mehr über Wegmarken, sondern über Straßenschilder, Displays und Navis. Der schweifende Blick in die Landschaft wird zum Risiko. Beim Fliegen, so Rosa schließlich, „stellt sich der Raum nur noch als abstrakte leere Distanz“ dar. Der moderne Flugreisende kämpfe nur noch mit der Uhr. Christian Weber

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