Coronavirus

Die Wucht der großen Zahl

Noch gibt es in Deutschland recht wenige Infizierte, doch das kann sich schnell ändern. Warum es wichtig ist, die Ausbreitung des Virus zu bremsen.

8 Minuten Lesezeit

von Christian Endt, Michael Mainka und Sören Müller-Hansen

Um zu verstehen, warum das neue Coronavirus so gefährlich ist, muss man sich klarmachen, was exponentielles Wachstum bedeutet. Der Begriff ist etwas sperrig, das Konzept dahinter aber einfach. Es geht um eine Vermehrung, die sich ständig selbst beschleunigt. Und dieses Muster lässt sich auch beim Coronavirus erkennen. Das ist der Hintergrund, warum nun immer strengere Auflagen verhängt werden, Fußballspiele ohne Publikum ausgetragen, Feste und Kongresse abgesagt werden. Und warum Gesundheitsminister Jens Spahn, Kanzlerin Angela Merkel und andere davon sprechen, man müsse die Ausbreitung des Virus verlangsamen. Sprich: Verhindern, dass es sich exponentiell verbreitet.

Der Mensch ist an lineare Prozesse gewöhnt, die kann er begreifen. Beim linearen Wachstum kommt in festen Zeitabständen eine feste Anzahl an Fällen hinzu, beispielsweise Tausend pro Woche. Beim exponentiellen Wachstum dagegen findet in einem festen Zeitraum jeweils eine Verdopplung der Fallzahl statt. Exponentielles Wachstum ist gefährlich, weil man es am Anfang leicht unterschätzt. Denn zu Beginn läuft die Kurve gemächlich vor sich hin. Dann wird sie immer steiler und schießt bald nahezu senkrecht nach oben.

Die Kurve der Coronafälle sieht in allen Ländern mit größeren Ausbrüchen sehr ähnlich aus.

In Südkorea: flacher Beginn, dann steil nach oben.

Genauso in Italien, dem Land mit den meisten Fällen in Europa.

In Deutschland ist die Kurve noch nicht so hoch geklettert. Aber die Dynamik ist die gleiche.

Ebenso in Frankreich.

Um die enorme Wucht zu veranschaulichen, die exponentielles Wachstum entfalten kann, wird häufig die Legende vom Erfinder des Schachspiels zitiert, der von einem indischen König erbat, in Reiskörnern entlohnt zu werden: Ein Korn für das erste Feld des Schachbretts und von da an immer doppelt so viele – zwei für das zweite Feld, vier für das dritte, acht für das vierte. Nichtsahnend willigte der König ein. Damit hätte er für das letzte Spielfeld eine neunzehnstellige Zahl an Reiskörnern auftreiben müssen, was der globalen Ernte mehrerer Jahrhunderte entspricht.

Mathematisch betrachtet verbreiten sich Epidemien nach dem gleichen Prinzip. Entscheidend für die Geschwindigkeit der Ausbreitung ist die Zeitspanne, in der sich die Fallzahlen jeweils verdoppeln. Beim Coronavirus ist dieser Wert wegen der Dunkelziffer schwer zu bestimmen. „In Italien müssen wir von einer großen Anzahl unerkannter Fälle ausgehen“, sagt Christian Althaus, Leiter der epidemiologischen Forschungsgruppe der Uni Bern. „Die vergleichsweise hohe Zahl an Todesfällen und die vielen Fälle in der Schweiz und anderen Ländern, welche sich vermutlich in Italien angesteckt haben, deuten auf einen viel größeren Ausbruch hin als bislang bekannt.“ Konservativ geschätzt geht Althaus von einer Verdopplungszeit von sechs bis sieben Tagen aus. Ausgehend von den gut Tausend bestätigten Corona-Fällen in Deutschland zu Beginn dieser Woche lässt sich ausrechnen, wozu eine solche Rate in wenigen Wochen führen würde.

Bei ungebremstem Wachstum wären spätestens Mitte Mai mehr als eine Million Menschen in Deutschland mit dem Virus infiziert.

Zwar verläuft die Krankheit bei der Mehrzahl der Infizierten harmlos. Doch etwa jede fünfte Erkrankung nimmt einen schweren Verlauf, die eine Behandlung im Krankenhaus erfordert. Auch diese Zahl könnte also in einigen Wochen im sechsstelligen Bereich liegen. Insgesamt gibt es in Deutschlands Krankenhäusern laut Statistischem Bundesamt etwa 500 000 Betten. Etwa 110 000 davon sind im Mittel ohnehin nicht belegt, verteilt über alle Fachabteilungen in den Krankenhäusern. Sie stehen in der Augenheilkunde, der Kinderchirurgie, der Inneren Medizin. Bei einigen Abteilungen könnte es schwierig werden, Betten für Corona-Patienten umzuwidmen. Andererseits lassen sich geplante Eingriffe verschieben, wodurch sich die Aufnahmefähigkeit erhöht.

Ein Teil der Patienten wird eine intensivmedizinische Behandlung benötigen. Dafür gibt es in Deutschland etwa 28 000 Betten, von denen im Jahr 2017 im Mittel 5890 frei waren. Diese Betten dürften alle mit Beatmungsgeräten ausgestattet sein. Schon Mitte April könnte die Corona-Epidemie alle freien Kapazitäten des deutschen Gesundheitswesens binden. Und zur Erinnerung: Es geht um exponentielles Wachstum. Einige Tage später verdoppelt sich die Zahl der Patienten erneut.

Hinzu kommt, dass es zu Ausfällen beim medizinischen Personal kommen kann, wenn Ärzte und Pflegekräfte selbst erkranken. Das droht vor allem dann, wenn die Schutzausrüstung knapp wird, etwa Masken. Den bisherigen Erfahrungen zufolge sterben etwa ein bis zwei Prozent der Infizierten an Covid-19. Bei einer landesweiten Epidemie könnten das zehntausende Tote sein. Sollte das Gesundheitssystem unter der Last zusammenbrechen, dürfte die Letalität deutlich steigen. "Was mich am meisten beunruhigt, ist die drohende Überlastung der Krankenhäuser", sagt Christian Althaus. „Die ist auch für Patienten problematisch, die beispielsweise wegen eines Herzinfarkts in Behandlung sind."

Dass diese Szenarien eintreten, ist unwahrscheinlich. Sie verdeutlichen allerdings, was ohne Gegenmaßnahmen passieren könnte. Tatsächlich dürfte ein weiterer Anstieg der Fallzahlen eine drastische Reaktion des Staates hervorrufen: Weitere Schulschließungen, Einschränkungen für Gastronomie und Verkehr, Sperrzonen und Ausgehverbote. Dass sich die Epidemie mit solchen Maßnahmen tatsächlich eindämmen lässt, zeigen die Beispiele von China und Südkorea. Auch in China gab es zu Beginn einen exponentiellen Anstieg der Corona-Fälle. Inzwischen hat sich das Wachstum stark verlangsamt. Da täglich eine große Zahl Infizierter als geheilt entlassen wird, geht die Zahl der akut Erkrankten in China den Berichten zufolge derzeit zurück. Einige Beobachter haben indes Zweifel an den amtlichen Daten. In Südkorea gibt es weiterhin eine dreistellige Zahl neuer Fälle pro Tag, aber auch hier hat sich das Tempo der Ausbreitung verlangsamt. Entscheidend dazu beigetragen haben groß angelegte Virentests. Bis dato wurden in Südkorea mehr als 196 000 von ihnen vorgenommen. So ließen sich Infizierte frühzeitig isolieren. In Südkorea sind Museen geschlossen, Konzerte werden abgesagt, die Semesterferien an Schulen und Universitäten wurden verlängert.

Exponentielles Wachstum kann es in der Natur nicht ewig geben. Ab einem gewissen Punkt flacht jede noch so steile Kurve wieder ab, die Zahl der Neuinfektionen geht zurück. Die entscheidende Frage ist, wann dieses Plateau erreicht wird. Es kommt darauf an, die Kurve so früh wie möglich zum Abflachen zu bringen. Das bedeutet zwar nicht unbedingt, dass weniger Menschen krank werden. Solange es keinen Impfstoff gibt, gehen Epidemiologen davon aus, dass weite Teile der Bevölkerung früher oder später das Coronavirus bekommen. Entscheidend ist jedoch die Zeitachse. Das Abflachen bewirkt, dass weniger Menschen gleichzeitig krank sind und eine Behandlung benötigen.

Für die Bekämpfung einer Virus-Epidemie ist weniger die Gesamtzahl der Fälle entscheidend, sondern wie schnell sich der Erreger ausbreitet.

Bei ungebremster Ausbreitung steigt die Zahl der Infizierten sehr schnell an.

Die Epidemie überfordert dann die Kapazitäten des Gesundheitssystems, bestimmt etwa durch die Zahl der Krankenhausbetten, das verfügbare Personal und die medizinische Ausrüstung.

Gelingt es, die Epidemie zu bremsen, gibt es insgesamt eine ähnliche Zahl an Infizierten, allerdings über einen längeren Zeitraum verteilt. Ein Kollaps des Gesundheitssystems lässt sich so vermeiden.

Deshalb fordert Althaus, dass man die Einführung drastischerer Kontrollmaßnahmen in Betracht zieht. "China und Italien sind uns einige Wochen voraus, deshalb sollten wir von den Erfahrungen dieser Länder lernen und lieber jetzt als zu spät handeln."

Beispielhaft dafür, wie wirksam das Verbot großer Menschenansammlungen ist, steht der Ausbruch der Spanischen Grippe 1918 und 1919. Während der Pandemie starben weltweit viele Millionen Menschen, die Sterblichkeitsrate lag bei zwei bis drei Prozent, ähnlich wie beim Coronavirus heute. 

Eine Untersuchung zu verschiedenen US-amerikanischen Städten zeigte, dass drastische – und vor allem schnell umgesetzte – Maßnahmen gegen eine Ausbreitung des Virus die Zahl der Todesopfer erheblich senkte. Die Behörden in Philadelphia ergriffen nach den ersten Fällen keinerlei Maßnahmen, es wurde sogar noch eine große Parade in der Stadt abgehalten. Erst nach drei Wochen, als Krankenhäuser und medizinisches Personal bereits völlig überlastet waren, schloss die Verwaltung Schulen, Kirchen, Theater und andere öffentliche Einrichtungen. In St. Louis hingegen handelten die Verantwortlichen innerhalb von zwei Tagen nach dem Bekanntwerden erster Krankheitsfälle in der Stadt und verhinderten so hohe Todesraten. Erst nachdem etwa einen Monat später die Restriktionen gelockert wurden, stieg die Zahl der Toten merklich.

Quellen und Annahmen

Die Daten zu Corona-Infizierten in verschiedenen Ländern stammen vom Center for Systems Science and Engineering an der Johns Hopkins-Universität, welches die Daten vor allem von der Weltgesundheitsorganisation und nationalen Behörden zusammenträgt. Die Hochrechnungen der Fallzahl in Deutschland basieren auf einer Fortschreibung der aktuellen Ausbreitungsrate, wobei wir mit dem konservativen Szenario rechnen, wonach sich die Zahl der Fälle alle sieben Tage verdoppelt. Teilweise wiesen die zuletzt gemeldeten Daten aus den betroffenen Ländern eher auf eine Verdopplung binnen drei bis sechs Tagen hin. Nicht berücksichtigt sind dabei diejenigen Infizierten, die in der Zwischenzeit als geheilt entlassen werden. Bei der exponentiellen Ausbreitung fallen sie kaum ins Gewicht. Daten zu Kapazität und Ausstattung der deutschen Krankenhäuser stammen vom Statistischen Bundesamt und der Gesund­heits­bericht­erstat­tung des Bundes, sie beziehen sich auf das Jahr 2017. Die Rekonstruktion der Spanischen Grippe stammt aus einer Untersuchung von Richard Hatchett, Carter Mecher und Marc Lipsitch, die 2007 in den Proceedings der Nationalen Akademie der Wissenschaften in den USA erschienen ist. Inspiration kam von Liz Specht, Our World in Data, 3blue1brown und The Economist.