Mode-Magazine

The Italian Job

Männlich, und kein klassischer Modefuzzi: Emanuele Farneti hatte nicht die besten Chancen als Nachfolger der legendären Franca Sozzani bei der italienischen „Vogue“. Aber er nutzte sie – vor allem während des Corona-Frühjahrs.

Von Silke Wichert

6 Min. Lesezeit

Es gibt 26 Vogue-ChefredakteurInnen auf der Welt. Die bekannteste heißt Anna Wintour, neuerdings gefolgt von Edward Enninful, der als erster Schwarzer vor rund drei Jahren die britische Ausgabe übernahm. Hierzulande kennt man noch Christiane Arp, vielleicht die französische Diva a.D. Carine Roitfeld. Doch in letzter Zeit sorgte ständig jemand ganz anderes für Aufsehen: Emanuele Farneti. Klingelt nichts? Das liegt womöglich daran, dass weniger er selbst von sich reden machte, sondern das Heft, das er verantwortet – die italienische Vogue. Mit Aktionen, die es so in der Modewelt noch nie gegeben hatte. Mit denen er eine Aufmerksamkeit erreichte, wie sie nicht nur die Vogue nur noch selten erlebt.

Im Januar war dort kein einziges Foto in der gesamten Ausgabe zu sehen. Titelblätter und Modestrecken waren ausschließlich illustriert worden, um auf das Nachhaltigkeitsproblem der Branche aufmerksam zu machen, die für jedes Fotoshooting irren Aufwand mit zig Flügen und großem Gepäck betreibt.  

Auf dem Februar-Cover hielt ein Model eine Steintafel mit Bankverbindung in der Hand – das Allerheiligste im Hochglanzgeschäft war kurzerhand als Spendenaufruf für das vom Hochwasser gebeutelte Venedig zweckentfremdet worden.    

Dann kam Corona. Und dann legten die Italiener erst richtig los. Im April erschien daraufhin die schon jetzt legendäre „copertina bianca“, ein komplett weißes Cover. Ausdruck der totalen Zurückhaltung, aber auch Hoffnung auf einen Neuanfang wie im Editorial zu lesen war. Innen erzählten Designer Alessandro Michele (Gucci) und Pierpaolo Piccioli (Valentino) aus der Isolation, statt der üblichen Modestrecken hatte man Fotografen, Models und andere Persönlichkeiten um Momentaufnahmen aus dem Lockdown gebeten.  

Im Juni gab es dann zwar wieder so etwas wie Mode zu sehen, allerdings gezeichnet von Kinderhand. Krakelige Bilder von Zwei- bis Zehnjährigen, entstanden in der häuslichen Quarantäne. Die Vogue-Leserin, die bei Kleidern für 5000 Euro nicht mal mit der Wimper zuckt, war zu Tränen gerührt. 

 Zum Vergleich die Ausgaben aus Frankreich und den USA: Noch auf der Mai/Juni-Ausgabe der französischen Vogue warben die Schwestern Bella und Gigi Hadid für ein Mode-Spezial „zum Träumen.“  

Die amerikanische Ausgabe hatte Wonder-Woman Gal Gadot auf dem Cover. Überschrift: „Es war einmal in der Mode“.

Besser konnte man den Anachronismus der Zunft, obgleich unfreiwillig, nicht auf den Punkt bringen.

„Wir Italiener haben ja sowieso den Ruf, alles auf die letzte Minute zu machen. In diesem Fall hat es uns zur Abwechslung geholfen, schnell zu reagieren“, sagt Emanuele Farneti diplomatisch im Rückblick auf die vergangenen Monate. Der Mann im blauen Anzug und hellblauen Chambrey-Hemd sitzt in seinem Büro in der Mailänder Innenstadt, dabei müsste er – würde es mit rechten Dingen zugehen – eigentlich gerade im Stau zur Prada-Schau stecken. Schließlich ist Ende September, Fashion-Week-Wahnsinn. 

"Niemand weiß, wie die Welt von morgen aussieht"

Aber nichts ist wie früher, die meisten Schauen finden digital statt, eine ganze Branche sucht nach Antworten auf die großen Zukunftsfragen. Magazine hatten schon vorher mit sinkenden Auflagen und schwindenden Einnahmen zu kämpfen, für 2020 wird mit einem Anzeigenrückgang um 33 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gerechnet. Vor allem der Condé-Nast-Verlag, der Vogue herausgibt, ist längst nicht mehr die Geldruckmaschine von früher. Raf Simons sprach kürzlich in einem Interview davon, dass sich Modemarken bereits auf eine Zeit ganz ohne Magazine einstellen.

„Niemand weiß, wie die Welt von morgen aussieht“, sagt Farneti achselzuckend. Die entscheidende Frage sei mehr denn: „Wie bleiben wir relevant?“ Seinem Gefühl nach suchten die Leute seit Corona wieder nach Informationen aus verlässlichen Quellen, etwa nach echten Wissenschaftlern statt Pseudo-Experten. „Das gleiche könnte für die Mode gelten“, meint der 45-Jährige. Er habe gar nichts gegen Instagramer. „Aber auch die traditionellen Marken haben eine Zukunft – wenn sie gut und kreativ gemacht sind.“ Zumindest seine Januar- und April-Hefte waren seit langem wieder restlos ausverkauft. Aktuell liegt die Auflage bei 93700 Exemplaren, rund 15000 mehr als die der deutschen Vogue.

Dabei war Farnetis Einstieg vor dreieinhalb Jahren alles andere als einfach. Seine Vorgängerin hieß bekanntlich Franca Sozzani, und die Fußstapfen dieser zierlichen Frau mit den langen blonden Haaren waren gigantisch.

Früh hatte sie verstanden, dass eine Vogue in italienischer Sprache international nur mithalten konnte, wenn sie vor allem durch ihre Bildsprache kommunizieren würde. Inhaltlich ging sie dabei um Längen mutiger und visionärer vor als viele Kollegen. Beispielhaft dafür sind die Modestrecken ihres Hoffotografen Steven Meisel.

Sie thematisierten den Schönheits-OP-Wahn.  

2009 ging es um die Ölpest.  

Die „Black Issue“ aus dem Jahr 2008 mit ausschließlich schwarzen Models musste fünfmal nachgedruckt werden.

Nach 28 Jahren an der Spitze des Magazins verstarb Franca Sozzani Ende 2016 an Krebs. Selbst in der Redaktion hatten viele nichts von der Krankheit gewusst.

„Ich weiß noch, wie eine Bekannte bei einem Abendessen klagte, Mailand sei ohne Franca nicht mehr dasselbe. Und das Heft könne sowieso niemand anderes machen“, erzählt Farneti. Was damals keiner am Tisch ahnte: Er hatte für den Job bereits unterschrieben. Die Reaktionen auf seine Ernennung waren, freundlich ausgedrückt, eher verhalten. Nicht nur war der Neue männlich – damals noch die absolute Ausnahme in der Vogue-Welt –, vor allem war der zwar fantastisch aussehende, aber mitunter fast brav anmutende Mailänder in Pullover mit Hemd drunter kein klassischer „Modefuzzi“. 

Bevor er bei verschiedenen Medien arbeitete und zuletzt die Magazine AD und GQ leitete, hatte er Jura studiert. Zu seinen Bekannten gehörten Designer wie Piccioli oder Unternehmer wie Diego Della Valle von Tod’s, aber Farneti hielt auf Events nicht Hof und lächelte nicht ständig mit irgendwelchen Leuten in die Kamera. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder. Sein Instagram-Account, wird manchmal gespottet, sei so „corporate“, dass er sicher von den Redaktionspraktikanten betreut werde.

Selbst mit einer Vogue lässt sich also so etwas wie aktueller Journalismus machen.  

„Wahrscheinlich habe ich den Job vor allem deshalb bekommen, weil ich das größtmögliche Gegenteil von Franca war“, sagt Farneti und meint das nur halb im Scherz. Anfangs hätten die Leute vor lauter Trauer nicht einmal in sein Zimmer kommen wollen, das er aus Respekt nicht gleich umdekorierte. Im Jahr darauf verband er das Unangenehme mit dem Nützlichen und ließ die Redaktionsräume für die Designausgabe von Größen wie Patricia Urquiola umgestalten.

Natürlich brachte Farneti, abgesehen von seinem anderen Geschlecht, noch ein bisschen was mit: Während Vogue-Chefs wie Enninful oder Arp von Haus aus Stylisten sind, ist Farneti gelernter, man könnte auch sagen: gelebter Journalist. Seine Eltern lernten sich beim Magazin Panorama kennen, er sei quasi im Newsroom aufgewachsen, sagt Farneti. Was er wie schon Sozzani schnell verstand: „Mode ist eine Sprache, mit der man alles Mögliche ansprechen kann.“ Selbst mit einer Vogue lässt sich also so etwas wie aktueller Journalismus machen.

„Man würde es hinter seinen perfekten Old-school-Manieren nicht gleich vermuten, aber Emanuele hat einen ausgeprägten Sinn für Provokation“, sagt sein ehemaliger Stellvertreter Alan Prada, heute Chefredakteur des Konkurrenztitels Harper’s Bazaar. „Er verfügt über eine unglaublich gute journalistische Intuition. Manchmal zermarterten wir uns stundenlang das Hirn, und er ließ nicht locker, bis die eine brillante Idee aufkam – von der er sofort wusste, dass es die richtige war.“

Kritiker bemängeln, dass vor lauter Konzept und gestalterischen Spielereien manchmal der eigentliche Inhalt zu kurz komme. Redakteure klagen gelegentlich, dass der Chef bei Modeproduktion nicht ganz so enthusiastisch sei. Farneti hat mal bei der Gazzetta dello Sport gearbeitet, sein Team ist Juventus Turin. Auf die Frage, wofür er mittlerweile mehr brenne – Mode oder Fußball? –, lacht er nur laut, stattdessen sagt er: „Ich mag nicht, wie banal die Mode oft dargestellt wird. Je länger ich in dieser Industrie arbeite, desto mehr sehe ich, wie viele talentierte Leute hier unterwegs sind – und wie extrem kompetitiv die Branche ist.“

Im September bekamen alle 26 Vogues dieser Welt das Oberthema „Hope“ verordnet. 

Farneti ließ, als Hoffnung auf Vielfalt sozusagen, 100 verschiedene Menschen für 100 Cover fotografieren. 

Neuer Rekord.  

 Im aktuellen Oktober-Heft sind nun das Schmuse-Pärchen Justin und Hailey Bieber auf dem Titel, thematisch etwas kühn verknüpft mit dem 100. Geburtstag von Helmut Newton.   

Farneti wusste schon vorher, dass es die einen lieben, die anderen hassen würden. 

Hat er noch genug Knallerideen auf Lager? „Ein paar“, sagt er scherzhaft. Aber man weiß ja nie, was kommt.