Ziemlich schleierhaft

In der deutschen Mode wird seit Black Lives Matter über mehr Vielfalt diskutiert. Aber wo bleibt da eigentlich die deutsch-türkische Community?

Von Silke Wichert

16. April 2021 - 8 Min. Lesezeit

„Viel zu kontrovers, viel zu politisch für eine Modestrecke, da lassen wir lieber die Finger davon.“ Diesen oder ähnliche Sätze bekam die Berliner Stylistin Neslihan Değerli zwei Jahre lang von allen möglichen Fashion-Magazinen zu hören, denen sie ihr Konzept vorschlug. Ihre ach so riskante Idee? Unterschiedliche muslimische Frauen in aktueller Mode zu zeigen und sie auch mit ihren Ansichten und Erfahrungen zu Wort kommen zu lassen. Weil die 23-Jährige, deren Eltern aus der Türkei stammen, ihre Kultur mal jenseits der üblichen Stereotype zeigen wollte. „Veiled Identities + Unveiled Stories“, sollte der Titel heißen. Verschleierte Identitäten, enthüllte Geschichten. Offensichtlich zu viel der Offenbarung. 

Für ihre Modestrecke "Veiled Identities + Unveiled Stories" posierte Stylistin Neslihan Değerli auch selbst. Von den typischen Spitzendeckchen hatte ihre Tante eine ganze Kommode voll, sagt sie.

Für ihre Modestrecke "Veiled Identities + Unveiled Stories" posierte Stylistin Neslihan Değerli auch selbst. Von den typischen Spitzendeckchen hatte ihre Tante eine ganze Kommode voll, sagt sie.

„Einerseits war ich überrascht über die Ablehnung, andererseits aber auch nicht“, sagt die 23-Jährige, die früh in ihrem Beruf anfing und mittlerweile auch Aufträge der amerikanischen Marie Claire bekommt. „Bei Castings für deutsche Kunden wurden arabisch aussehende Models oft nicht mal in Erwägung gezogen. Kopftücher in Shootings waren tabu – bis Stars wie A$AP Rocky oder Rihanna damit anfingen. Dann war es plötzlich trendy“, erzählt Değerli. Erst als durch die „Black Lives Matter“-Bewegung das Thema Diversität in der Modewelt stärker in den Fokus rückte, begannen auch Magazine hierzulande über Vielfalt zu diskutieren und häufiger als früher mit schwarzen Models zu arbeiten. Allein die deutsche Vogue hob in den vergangenen 14 Ausgaben viermal Women of color auf das Cover. „Aber es ging eben fast immer um afroamerikanische Frauen und Themen“, sagt Değerli. Diese etwas einseitige Perspektive habe Angehörige anderer Minderheiten in der Branche durchaus irritiert.

Eigentlich sieht die Modelandschaft gerade vielfältiger aus denn je. Nicht nur der Anteil von nicht weißen Models auf den Laufstegen und in Kampagnen ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Beyoncés Stylistin Zerina Akers gründete die Webseite Black Owned Everything für Labels schwarzer Designer, der junge schwarze Fotograf Tyler Mitchell kann sich vor Aufträgen kaum retten. Obendrein kassieren Modehäuser verlässlich Shitstorms für mangelnde Sensibilität gegenüber Rassismus. Zuletzt etwa Chanel, weil sie sich nicht deutlich genug von ihrem berühmten Stamm-DJ Michel Gaubert distanzierten, der ein Asiaten gegenüber abfälliges Video auf Instagram geteilt hatte.

Ist das Türkische etwa nicht cool oder sexy genug für die Mode?

Aber was Deutschland angeht, gibt es noch eine andere große Community, mit der man Vielfalt zelebrieren könnte. Knapp drei Millionen türkischstämmige Menschen leben hier. Wenn der heimische Markt für Magazine und Marken normalerweise die stärkste Relevanz hat - müsste in der deutschen Mode dann nicht auch die deutsch-türkische Realität sichtbarer sein?

„Bislang ist sie eher unsichtbar“, sagt der Stylist Dogukan Nesanir, genannt Dogi, der Frauen wie Juliette Binoche oder die Sängerin Robyn bei ihrer Garderobe berät und Shootings und Kampagnen für internationale Marken wie Nike oder Kenzo ausstattet. Offensichtlich gelte das Türkische als nicht „fashionable“ oder cool genug im Vergleich zur afroamerikanischen Subkultur mit ihren bekannten Rappern und Musikerinnen wie Beyoncé. „Dabei gibt es in der muslimischen Kultur, jenseits von Politik, genau so viel, das man feiern könnte“, findet Nesanir. Der 25-jährige Berliner fuhr vor ein paar Jahren in das türkische Dorf seiner Familie und inszenierte dort für das Nischenmagazin Indie eine Modestrecke mit Verwandten und Bekannten. 

Die Cousine seiner Oma auf staubiger Straße, mit Kopftuch, Kleid und Pantoffeln, aber einem knallroten Maison-Margiela-Blazer darüber.  

Der Nachbarsjunge steht mit Brioni-Ledermantel auf dem Feld.   

Seine Cousine zweiten Grades inszenierte er am Frisiertisch.

Seine Oma fotografierte er im Zebrakleid.

Die Cousine seiner Oma auf staubiger Straße, mit Kopftuch, Kleid und Pantoffeln, aber einem knallroten Maison-Margiela-Blazer darüber.  

Der Nachbarsjunge steht mit Brioni-Ledermantel auf dem Feld.   

Seine Cousine zweiten Grades inszenierte er am Frisiertisch.

Seine Oma fotografierte er im Zebrakleid.

Die Fotos spielen auch mit einer Art Landeskunde-Blick auf die Landschaft, dörfliche Architektur, typische Details wie Perserteppiche. „Ich bekomme bis heute wahnsinnig viel Resonanz auf die Idee und die Ästhetik der Strecke, aber in einem Mainstream-Magazin habe ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen“, sagt Nesanir. „Oder mal eine deutsch-türkische Politikerin auf das Cover einer Modezeitschrift zu nehmen - was wäre das für ein tolles Statement!“

Nesanir selbst habe am Anfang viel Ablehnung in der Branche erfahren. Weil er übergewichtig, extrovertiert, queer, türkisch, eben anders war.

Nesanir selbst habe am Anfang viel Ablehnung in der Branche erfahren. Weil er übergewichtig, extrovertiert, queer, türkisch, eben anders war.

Noch vor knapp zwei Jahren machte sich bei einer Modenschau in Paris eine deutsche Chefredakteurin lautstark über ihn lustig. Wegen seines Namens auf dem Platzkärtchen neben ihr hatte sie angenommen, er verstehe sie nicht. Jemand, der so heißt, konnte ja kein Deutscher sein.

Dabei gibt es längst eine ganze Reihe Deutsche mit türkischen Wurzeln in der Branche. Eine der ersten und bekanntesten ist die Münchnerin Ayzit Bostan, die 1995 ihr eigenes Label gründete. „Am Anfang fiel ich vielleicht besonders auf, weil ich so etwas wie die deutsch-türkische Quotenfrau war. Aber inzwischen spielt das überhaupt keine Rolle mehr, es geht nur noch um die Qualität der Arbeit“, sagt die Designerin, die auch für das Taschenlabel PB0110 entwirft und im Juli eine Installation im Palais Galliera in Paris zeigt. 

Bostan, 1968 in Ankara geboren, kam bereits mit vier Jahren nach Deutschland. Mit ihrer türkischen Herkunft spielt sie, wenn überhaupt, eher auf abstrakte Art. Vor Jahren etwa druckte sie das türkische Emblem mit Halbmond und Sichel auf schwarz-weiße T-Shirts und Pullover, zuletzt auch den Slogan „Imagine Peace“ – in arabischer Schrift.

„Rein grafisch gesehen sind das einfach wahnsinnig schöne Typografien“, sagt Bostan. In der Mode spiele aber meist nur die westliche Schrift eine Rolle. Umso mehr Reaktionen lösen Träger damit aus. Menschen aus dem arabischen Raum sind begeistert, andere erst mal irritiert, so oder so entsteht ein Dialog.

Labels wie Les Benjamins, Anatol und vor allem GmbH, die schon für den renommierten LVMH Prize im Rennen waren, stehen für die jüngere Generation deutsch-türkischer Designer. Serhat Işık, ein Teil des Berliner Duos von GmbH, wuchs als Kind türkischer Einwanderer in Herne auf. Solchen Designern braucht niemand zu sagen, dass es gerade im Trend liegt, ein möglichst diverses Casting zu haben.

Bei ihren Laufsteg-Präsentationen in Paris waren schon immer ganz unterschiedliche Models zu sehen, neben schwarzen selbstverständlich auch Männer arabischer Herkunft.

Bei ihren Laufsteg-Präsentationen in Paris waren schon immer ganz unterschiedliche Models zu sehen, neben schwarzen selbstverständlich auch Männer arabischer Herkunft.

In deutschen Magazinen oder Kampagnen sind Models mit türkischen Wurzeln hingegen vergleichsweise selten vertreten. Vor allem bei Frauen sei es eben schwierig, welche über 1,70 Meter zu finden, hieß es von den Modelagenturen früher. Eine der „großen“ Ausnahmen ist Hilal Ata, die im pfälzischen Großniedesheim geboren wurde und deren Eltern aus einem Kleinbauern-Dorf namens Paşalar Köyü stammen. Die 25-Jährige war schon auf dem Titelbild der türkischen Vogue, auch hierzulande ist sie gut im Geschäft, wenn sie es auch noch nie auf das Cover eines deutschen Magazins schaffte.

„Es gibt immer noch viele in der Branche, die bei meinem Namen erst mal überrascht sagen, dass ich ja gar nicht türkisch aussehe“, sagt Ata, obwohl die Bandbreite genau so groß ist wie bei anderen Nationen.  

„Es gibt immer noch viele in der Branche, die bei meinem Namen erst mal überrascht sagen, dass ich ja gar nicht türkisch aussehe“, sagt Ata, obwohl die Bandbreite genau so groß ist wie bei anderen Nationen.  

Aber solche Vorurteile oder ihre zwei Kulturen mal zum Thema zu machen? Das fand bislang lediglich das deutsche Modemagazin Achtung spannend, das mit Ata ein Interview zum Thema „Heimat“ führte und sie für eine Modestrecke in Istanbul fotografierte.

Verhüllen vs. enthüllen – dazwischen verbergen sich spannende Geschichten

Wer sich allerdings wundere, warum es nicht mehr türkische oder muslimische Mädchen in der Mode gäbe, dürfe die konservative Einstellung vieler Familien nicht vergessen. „Auch meine Eltern waren erst mal nicht begeistert, dass ich modeln will“, erzählt Ata. Viele Einwandererfamilien seien in ihrer neuen Heimat konservativer als etwa in der Türkei. Leicht bekleidet oder lasziv für Fotos posieren, das widerspreche erst mal einer Kultur, die traditionell eher für die Verhüllung der Frau steht.

Aber genau solche Spannungsfelder können ja eben interessante Themen sein. Ähnliche Fragen werfen auch die Gespräche mit den Frauen in „Veiled Identities, Unveiled Stories“ auf, Değerlis Konzept, das schließlich doch noch veröffentlicht wurde: Im Februar diesen Jahres erschien die Strecke über „Muslimisches Leben heute“ zwar nicht in der gedruckten, aber in der Online-Ausgabe der deutschen Vogue. Frauen mit und ohne Kopftuch, mit marokkanischen oder türkischen Wurzeln, aus Dubai und Berlin, gläubig oder sehr liberal.

Auch Değerli selbst posierte mit ihrer Mutter vor der Kamera.   

Auch Değerli selbst posierte mit ihrer Mutter vor der Kamera.   

„Plötzlich war das Thema relevant“, sagt die Stylistin. Demnächst sollen sämtliche Bilder der Reihe in einer Ausstellung in Berlin zu sehen sein.

Vogue.de greift unter dem Hashtag „Weil Sichtbarkeit das Wichtigste ist“ mittlerweile eine Vielzahl von Themen auf, die sich mit unterschiedlichen Kulturen und Diskriminierung befasst. Und bei „Germany’s Next Topmodel“ hat es gerade die aus Syrien stammende Soulin unter die letzten sechs geschafft. In der Sendung sprach sie mit anderen Kandidatinnen über ihre Kindheit in Aleppo und in der Türkei.

„Bislang fehlte oft der Mut, aber allmählich merkt man, dass sich etwas tut“, glaubt Dogi Nesanir. „Die junge Generation in der Modewelt gibt sich wirklich Mühe.“ Nur in der Umsetzung, vor allem bei Fotoshootings, hapere es noch. Wenn zwar das Model „divers“ sei, aber das ganze Team bei der Produktion aus Deutschen ohne Migrationshintergrund bestehe, wirke es schnell aufgesetzt. „Man muss nicht nur das Cover ändern“, sagt Nesanir, „sondern auch die Einstellung.“

Team

Text: Silke Wichert
Digitales Storytelling: Barbara Vorsamer