Nachtleben

Gebt uns die Kugel

Nichts wird momentan in der Mode so gefeiert wie glitzernde Disco-Klamotten – obwohl die Clubs bekanntlich überall geschlossen sind. Ist das Eskapismus, Hoffen auf die große Party danach oder schon pure Nostalgie?

Von Silke Wichert

7 Min. Lesezeit

„Was macht ihr am Wochenende?“ In Videos auf Social Media lässt man die notorische Frage neuerdings von einem selbstgebastelten Glücksrad beantworten. Allerdings mit einem Schlüssel als Zeiger, der dann leider nicht im Feld „Feiern“, „Essen gehen“, oder „Konzert“ stehen bleibt, sondern immer unweigerlich nach unten ins Feld „ZU HAUSE BLEIBEN“ zeigt.

Die Politiker in Europa versuchen dieser Tage mit allen Mitteln, die Menschen am Ausgehen zu hindern. Die Mode hingegen ist interessanterweise so sehr auf Disco und Party gepolt wie lange nicht mehr. Das zeichnete sich schon in den aktuellen Winterkollektionen ab: Marken wie Versace, Attico oder das englische Halpern interessieren sich traditionell mehr für die Anlässe nach Sonnenuntergang.

Aber auch beim eher an Streetwear orientierten Label Off-White gibt es diesmal ein Donatella-haftes Silberkleid.

Bei Balenciaga einen irrsinnig funkelnden Jumpsuit.    

Celine sieht sogar Männer in 70er-Jahre-Metallic-Blousons.   

Und dann ist da natürlich noch dieses hochgeschlossene, bodenlange rote Paillettenkleid von Bottega Veneta, das zwar auf dem Laufsteg mit Teletubbie-Gummistiefelchen kombiniert wurde, aber den Körper wie eine flüssige Christbaumkugel umspielt. 

Der ganz große Auftritt für die Weihnachts- und Silvesterfeiern; wenn denn welche stattfinden werden.

Allerdings wurde das alles logischerweise noch vor dem Lockdown entworfen und präsentiert, als noch niemand ahnte, dass der Glamourfaktor des öffentlichen Lebens bald einen historischen Tiefstand erreichen würde. Umso überraschender, dass die weitgehend während Corona entstandenen Kollektionen für nächstes Frühjahr keineswegs nur auf elastische Bündchen und eher runtergedimmte Alltagskleidung setzen, sondern bisweilen noch einmal stärker aufdrehen.

Isabel Marant machte aus ihrer Show in Paris eine Open-Air-Sause mit Tänzern, die sich laufend umarmten, während die Models in schulterfreien Glitzer-Minikleidern und Westernstiefeln durch die Nacht stolzierten. 

Balmain, dessen aktuelles Taschenmodell eh schon „Disco“ heißt, präsentierte eine Reihe knallharter Partykleider, zu denen die Models gar nicht erst die High Heels anlegten, sondern gleich barfuß aufliefen.  

Auch die Kreationen von Paco Rabanne sind prädestiniert fürs Nachtleben, weil die aneinandergereihten Metallplättchen so irre unter der Lichtorgel reflektieren.   

Für nächsten Sommer verpackt der Designer Julien Dossena mit einer Art Disco-Burka gleich noch den Kopf mit.  

Sogar bei Louis Vuitton war ein silberner Anzug auf dem Laufsteg zu sehen.

Sollten wir jemals wieder feiern gehen, an Garderoben-Optionen wird es nicht mangeln.    

Kommt sie denn überhaupt jemals, die große Party?

Aber wie genau hat man diesen Trend jetzt zu verstehen – als Vorgeschmack und Versprechen auf bessere Zeiten? Als eine Zukunftsvision des Sommers 2021, wenn wir hoffentlich endlich wieder ohne Einschränkungen zusammenkommen dürfen und umso ausgelassener die ganz große Party schmeißen, von der am Anfang des Lockdowns so oft die Rede war? Ehrlicherweise wird die ja jetzt nicht mehr ganz so oft angekündigt, weil der Zeitpunkt ständig in noch weitere Ferne rückt.

Im Anschluss an die Schauen in Mailand und Paris war weniger von Optimismus, sondern eher von Eskapismus die Rede. Kein Mensch weiß, wie lange diese Situation noch anhält, aber ein bisschen was zum Träumen für zwischendurch wird ja wohl erlaubt sein. Die zahlreichen Partylooks erscheinen hier als wortwörtlicher Gegenentwurf zur aktuellen Situation, und da die meisten von uns derzeit ziemlich viel Zeit auf der häuslichen Couch verbringen, ist so eine Ladung Cinderella-Glitzerstaub eben nicht der originellste, aber immer noch wirksamste Kontrast, um dem Alltag für einen Moment optisch zu entfliehen. Hätte es all die „Sparkle“- und „Glitter“-Filter auf Instagram nicht schon vorher gegeben, spätestens jetzt hätte sich jemand daran gemacht, unserem Leben wenigstens künstlich ein bisschen Glanz zu verpassen.

„Tagwalk“, eine Art Google für Laufsteglooks, registrierte für das Schlagwort „Disco“ bereits einen Anstieg der Suchanfragen um 174,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Offensichtlich verspüren also tatsächlich sehr viele Menschen eine Sehnsucht nach all dem, wofür diese strahlende Kugel symbolisch steht. Die mit lauter kleinen Spiegelplättchen nicht nur das Licht, sondern im besten Fall auch die Gedanken, Hemmungen und Sorgen zerstreut. Unter deren silberner Sonne alles gleich ein bisschen bunter, poppiger, glamouröser aussieht.

Statistisch gesehen begann der Tod der Disco schon viel früher

Wobei man jetzt doch mal vorsichtig fragen muss: Wie oft gingen die meisten Leute eigentlich vor Corona noch an diesen sagenumwobenen Ort? Sehnen wir uns nicht vielleicht deshalb so sehr nach Dancefloor und flackernden Lichtern, weil dieser Zustand gerade unerreichbar erscheint, er in Wirklichkeit aber schon vor der Pandemie immer mehr der Vergangenheit angehörte?

Zumindest die Statistiken sprechen schon seit Längerem eher für den „Death of Disco“, ein Aussterben des klassischen Tanzschuppens. In den Niederlanden, England und Italien ist die Zahl der Diskotheken in den vergangenen Jahren um bis zu 50 Prozent gesunken. Der britische Guardian berichtete 2018 von einer Krise des klassischen Nachtlebens auf der Insel, weil die junge Generation schlichtweg weniger hedonistische Interessen habe. Nur noch etwa elf Prozent der Erwachsenen gaben an, einmal im Monat einen Club zu besuchen. Lieber, so beklagen Nachtclubbesitzer, würden die gesundheitsbewussten Jungen von heute sich zum Essen treffen oder sogar abends ins Gym gehen, statt sich in stickigen Räumen volllaufen zu lassen. Nicht mal zum Abschleppen muss man ja noch ewig an der Theke rumsitzen, das geht über Tinder und andere Dating-Apps sehr viel einfacher und ökonomischer.

Insofern ist es bei Designern wie Isabel Marant (Jahrgang 1967), Hedi Slimane von Celine (Jahrgang 1968) oder Burberrys Riccardo Tisci (Jahrgang 1974) womöglich ebenso viel Nostalgie wie Eskapismus, der sich da in ihren Kollektionen widerspiegelt.

Von Kylie Minogue (Jahrgang 1968) erscheint diese Woche ein Album mit dem Titel, kein Witz: „Disco“. Auf dem Cover trägt sie Dauerwelle und lange, sechsspurige Strassohrringe.

Alles Reminiszenzen an die Feierkultur der eigenen Jugend, die ihren Zenit ohnehin längst überschritten hatte und nun womöglich endgültig wegstirbt.     

Jede Ära, von der aufgekratzten Disco in den Siebzigern bis zum eher harten Technoclub der Neunziger, hatte ihre eigene Musik, ihren eigenen Tanz.   

Aber allen war eines gemeinsam: das Streben, mit möglichst vielen Leuten eine möglichst intensive Zeit zu erleben, was meist „auf möglichst engem Raum“ bedeutete.  

Nachtclubszenen aus Filmen wie „Kids“ (1995) oder „Trainspotting“ (1996) kann man sich aktuell kaum anschauen, ohne spontan zusammenzuzucken, dass die da ja gar keine Masken tragen und ziemlich wild durcheinanderschwitzen.

Die harten Türsteher der Zukunft könnten Laboranten sein

Sicherlich wird es ein Nachtleben nach Corona geben (so wie es ja offensichtlich an vielen Orten auch ein Nachtleben während Corona gibt). Aber wie sorglos und ausgelassen das letztlich aussehen wird, ist momentan schwer absehbar. Der Apolo Club in Barcelona plante in Zusammenarbeit mit dem Primavera-Sound-Festival und einem lokalen Krankenhaus für Oktober ein Pilotprojekt mit Masken und Schnelltests. Aktuell liegt der Plan auf Eis, aber die harten Türsteher der nahen Zukunft könnten Laboranten sein.

Dass die Millennials und die Generation Z sehr wohl noch tanzen, beweist ein einziger Blick auf Tiktok, wo viele der User die ganze Zeit kaum etwas anderes zu tun scheinen. Nur wird sich das Feiern womöglich noch mehr ins Private, in den kleineren Rahmen verlagern.

Dua Lipa (Jahrgang 1995) hat gerade ihr neues Video „Levitating“ veröffentlicht, in dem die meiste Zeit in einem intergalaktischen Aufzug mit Retro-Leucht-Dancefloor getanzt wird, Rollschuh-Disco wie in den Siebzigern inklusive. 

Für den 27. November, einen Freitag, hat die Sängerin nun das Streaming-Event „Studio 2054“ angekündigt. Die Erinnerung ein Phänomen, das ihre Generation höchstens noch vom Namen kennt, schwingt hier schon im Titel mit.   

Geplant ist eine Art Live-Musikvideo zum Mitverfolgen von zu Hause. Der „Eintritt“ kostet 9,99 Euro.

Auch für solche digitalen Events kann man sich natürlich – und darauf hoffen die Modemarken – trotzdem aufbretzeln und immerhin ein paar hübsche Bilder für Instagram machen. Für viele, auch das war bereits vor Corona so, ohnehin der wirklich wichtige soziale Raum, um die neuesten Klamotten vorzuzeigen.