Helden auf Abruf

Können Medaillen darüber hinwegtäuschen, dass die olympische Idee schwer angeschlagen ist? Eindrücke aus Südkorea.

Text: Holger Gertz, Fotos: Sebastian Wells

Wenn einer zu den Olympischen Spielen fährt, schmuggelt sich ein Wort ins Handgepäck, das Wort reist von Anfang an mit, schon während der ersten Etappe, noch in Deutschland. Da liegt diese Bahnzeitschrift im ICE, Mobil, auf dem Titelblatt steht: „Olympia – Das essen unsere Helden am liebsten.“ Am Flughafen Frankfurt, LH 712 nach Seoul, stehen neben gewöhnlichen Reisenden auch einige Athleten und Trainer in der Warteschlange beim Abflug, man erkennt sie an den offiziellen roten Trainingsjacken mit dem Aufdruck Germany. Sagt eine ältere Frau zu ihrem Mann, Bordkarte in der Hand: „Na, da sind wir ja mit ’nem richtigen Heldenflieger unterwegs“, aber sie lässt nicht durchblicken, ob sie das für ein gutes oder eher mittelgutes Zeichen hält. Ankunft in Südkorea, sie haben tatsächlich überall Internet hier, also während der Weiterfahrt im Schnellzug Richtung Pyeongchang kurz die Lage checken, auf den Nachrichtenseiten steht: „Die eingeölte Heldenbrust von Rio wird Pita Taufatofua in Pyeongchang gut verpacken“ oder „Südkorea? Das wissen unsere Olympia-Helden“. Gemeint sind hier die Olympia-Helden aus Österreich, und ein Snowboarder sagt im Video, was er von Südkorea weiß: „Es gibt keine Almen und keine Kühe auf den Weiden.“

Wenn einer zu den Olympischen Spielen fährt, begleitet ihn wie ein Forschungsauftrag der Begriff „Held“, es wird herauszufinden sein, was damit gemeint ist. Olympia ist das angemessene Labor, um das zu untersuchen, dort versammeln sich diese Helden, von denen geschrieben wird, aber geschrieben und geredet und geplaudert ist erst recht bei Olympia immer leicht.

Der Held im Sport, war der nicht mal auch, bewusst großzügig formuliert: ein Vorbild?

Jemand, an dem die Leute sich orientiert haben, an den sie auch einfach mal so zwischendurch gedacht haben, mit dem sie gefühlt haben, wenn er auf eine Bühne kletterte, um neue Taten zu vollbringen. Hat man nicht gebangt mit Gold-Rosi Mittermaier und mit Wasi Wasmeier, ganz früher auch mit den Eispoeten Kilius/Bäumler und danach mit dem Eisschnellläufer Erhard Keller, viel später auch noch mit der klugen Skifahrerin Katja Seizinger und natürlich mit Katarina Witt? Wer leidet bei Olympia heute mit seinen Helden?

Die Zeit ist gekommen: Ein Biathlet bekommt seinen Transponder für die Zeitnahme um den Knöchel geschnallt.
Die Zeit ist gekommen: Ein Biathlet bekommt seinen Transponder für die Zeitnahme um den Knöchel geschnallt.

Die Zeiten sind eigentlich nicht schlecht für Vorbilder im Sport, denn politisch und gesellschaftlich sind gerade derart viele Figuren mit schweren Schrammen an der Macht, dass das Publikum, wenn es Orientierung suchte, unter Athleten durchaus fündig werden könnte. Das ist ja sozusagen der Urgrund des Sports, seine tiefere Berechtigung, die große Idee: dass man sich miteinander misst, und während man sich misst, hält man sich freiwillig an Regeln. Und so strahlt von den Sportlern, Vorbildern, Helden eine Erkenntnis ins Bewusstsein des Publikums ab. Nur im fairen und ehrlichen Umgang miteinander werden wir im richtigen Leben Aufgaben bewältigen, die noch schwieriger sind, als ein Biathlon-Rennen bei minus 14 Grad zu überstehen, mit festgefrorenem Schnodder am Kinn.

Das ist die Idee. Jetzt die Wirklichkeit. Der allererste Held, der einem in Pyeongchang begegnet, ist einer aus der Schaufensterabteilung. Alle haben ihn gesehen, Pita Nikolas Taufatofua war bei der Eröffnungsfeier, als einziger Starter der polynesischen Wintersportnation Tonga, und zwar ist er mit eingeöltem nackten Oberkörper ins Stadion einmarschiert, während auf der Tribüne jeder seinen Hals und andere bedrohte Körperteile mit mehreren Schals umwickelt hatte. Taufatofua war so eingeölt wie bei den Sommerspielen in Rio, bei denen er in der Disziplin Taekwondo an den Start gegangen war, das hatte damals Aufsehen erregt. Und da hat er die Nummer einfach noch mal gebracht.

In Pyeongchang startet Taufatofua als Skilangläufer und damit in der Rolle des „Tongan cult hero“ (Herald Sun). Solche Exoten sind nach dem Geschmack des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), sie liefern diese zu Herzen gehenden Bilder. In Pyeongchang hecheln die Langläufer die 15 Kilometer runter, ein Ecuadorianer wird 112., der Mann aus Tonga 114., ein Kolumbianer 115. Gemeinsam warten sie dann im Ziel auf den Allerletzten, einen 43-jährigen (und damit uralten) Mexikaner. Am Ende tragen sie ihn auf den Schultern. Der Letzte sieht aus wie der Erste.

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