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Wie der Bundestag den Klimawandel verdrängte

Vor mehr als 40 Jahren diskutierten Abgeordnete schon über den Klimawandel, doch dann geschah lange fast nichts. Eine SZ-Datenrecherche rekonstruiert ein historisches Versäumnis.

Als Bundeskanzler Helmut Schmidt am 4. Juli 1979 in Bonn ans Redepult des Deutschen Bundestages tritt, steht er noch unter dem Eindruck des Wirtschaftsgipfels in Tokio.

Was Schmidt den Bundestagsabgeordneten von dem Treffen mitbringt, sind Formulierungen wie diese: „In den letzten drei Jahrzehnten haben sich die Emissionen an Kohlendioxid auf der ganzen Welt verdreifacht.

Es ist eine der ersten Debatten des Bundestages, in denen es um den Klimawandel geht, auch wenn ihn noch keiner so nennt. Der Ausstoß von Treibhausgasen durch die Menschheit führt zu einer beschleunigten Erhitzung der Erde: Dass dieser Zusammenhang besteht, hat die Wissenschaft damals längst belegt. Die „möglichen Konsequenzen für das Klima seien „noch nicht sicher abzuschätzen, sagt Schmidt.

40 Jahre später sind die Folgen des menschengemachten Klimawandels nicht nur abzuschätzen, sondern längst messbar und die Prognosen sind düster. Seit gut einem Jahr demonstrieren junge Menschen deshalb in aller Welt für mehr Klimaschutz. Und nun sprechen die Abgeordneten mehr und vor allem anders über den Klimawandel.

Nicht nur die Protestierenden von Fridays for Future werfen der Politik vor, das Thema jahrzehntelang ignoriert zu haben und immer noch nicht ernst genug zu nehmen. 

Stimmen die Vorwürfe? Warum hat die Politik nicht - oder zu wenig - gehandelt? Und wie diskutiert der Bundestag heute über den Klimawandel?

Die SZ ist diesen Fragen mithilfe einzigartigen Datenmaterials nachgegangen: Wir haben die Protokolle aller Bundestagsdebatten seit 1949 ausgewertet und untersucht, wie die deutsche Politik über die Klimakrise spricht. Um sinnvoll beurteilen zu können, wie sich der Diskurs in mehr als 4200 Sitzungen entwickelt hat, haben wir neuartige computerlinguistische Verfahren weiterentwickelt und eingesetzt, die uns im ersten Schritt etwa 455 Millionen Datenpunkte geliefert haben - und im zweiten Schritt konkrete Antworten.

Die Auswertung begleitet die Abgeordneten durch die Jahrzehnte. Sie zeigt, wie Generationen von Bundestagsmitgliedern das Thema diskutieren - und lässt erkennen, wie wenig sie die Bedrohung beachten, die vom Klimawandel ausgeht. 

Der Bundestag entdeckt den Klimawandel

Um zu verstehen, wie sich der politische Diskurs verändert, lohnt es, erst einmal auf die Wörter zu sehen. Der Begriff Klimawandel, heute das Schlagwort schlechthin, fällt erst ab den Neunzigerjahren regelmäßig im Bundestag. Dieses Schaubild zeigt, wie häufig Bundestagsabgeordnete das Wort Klimawandel über die Jahre hinweg benutzt haben. Die horizontale Achse ist nach Legislaturperioden aufgeteilt. Die vertikale Achse gibt die Anzahl der Nennungen pro 100 000 Wörter an. 

Doch schon von Mitte der Achtzigerjahre an ist vom Treibhauseffekt die Rede. Selbstverständlich ist der Begriff nicht deckungsgleich mit Klimawandel: Der Treibhauseffekt ist natürlich; er bewirkt, dass die von der Erde reflektierte Wärmestrahlung nur zu einem Teil wieder ins Weltall verschwindet.

Wenn die Abgeordneten in den Achtziger- und Neunzigerjahren vom Treibhauseffekt sprechen, meinen sie den menschlichen Beitrag: Treibhausgase, die die industrialisierte Welt ausstößt, sammeln sich in der Atmosphäre an und beschleunigen die Erhitzung der Erde. 

Gleichzeitig mit dem Treibhauseffekt zieht die Klimakatastrophe in den politischen Diskurs ein. Doch bald rücken beide in den Hintergrund - für gut zehn Jahre. In den Neunzigerjahren wird kaum über das Thema gesprochen. Erst ab 2006, im Jahr nach der Ratifizierung des Kyoto-Protokolls, bestimmt der Klimawandel den Diskurs. 

Später sprechen die Abgeordneten auch von Erderhitzung oder Erderwärmung, von einer Klimaveränderung oder Klimakrise oder von globaler Erwärmung.

Wie auch immer die Sache mit dem Klima genannt wird: Es dauert Jahrzehnte, bis sie das Parlament ausführlich beschäftigt.

Heute kommt der Begriff Klimawandel in 100 000 gesprochenen Wörtern durchschnittlich 9,5 Mal vor. Zum Vergleich: Das ist, als würde das Wort in dem langen Text, den Sie gerade lesen, zwei- bis dreimal vorkommen. Alle anderen genannten Begriffe würden weniger als einmal vorkommen. 

Jahrzehntelang ist also das Interesse gering: Die Folgen des Klimawandels sind zwar bekannt, aber in Deutschland noch nicht sichtbar.

Die Politik scheint das Thema auch gemessen an den ergriffenen oder unterlassenen Maßnahmen nicht sehr ernst zu nehmen: Vom am weitesten verbreiteten Treibhausgas CO₂ stößt Deutschland 1990 mehr als eine Milliarde Tonnen aus. 2018 sind es knapp 800 Millionen Tonnen - ein Rückgang von etwa einem Fünftel nach fast 30 Jahren.

Der erste Abgeordnete, der im Plenarsaal von einem Klimawandel spricht, ist der damalige Oppositionsführer Helmut Kohl im Januar 1982. (Das Protokoll der Sitzung können Sie hier nachlesen.) Kohl ist aber nicht um die Erdatmosphäre besorgt, sondern um das gesellschaftliche Klima. Das Beispiel zeigt: Um tatsächlich zu verstehen, wie sich die Debatte über die Jahrzehnte verändert hat, reicht es nicht, nur das Vorkommen von Wörtern zu zählen. Es kommt auf den Zusammenhang an: das Framing.

Gemeint ist damit ein Assoziations- und Deutungsrahmen für Begriffe: Wer „Zitrone hört, denkt an „sauer oder „gelb. Framing beschreibt, wie Begriffe oder Sprachmuster einen Deutungsrahmen setzen und letztlich das Denken und auch das Handeln steuern. Das lässt sich politisch instrumentalisieren. „Klimawandel und „Erderwärmung klingen zum Beispiel weniger bedrohlich als „Klimakrise und „Klimakatastrophe.

Die SZ hat einen Algorithmus eingesetzt, um zu untersuchen, in welchem Kontext Wörter verwendet werden. Jedes Wort wird dazu in 300 Zahlen verwandelt. Diese Datenpunkte beschreiben einen Bedeutungsraum. Alle Wörter sind in diesem Raum verortet, so ist es möglich zu errechnen, welche Wörter sich inhaltlich besonders nahe oder ähnlich sind. Das erlaubt die Analyse eines Diskurses, weil ersichtlich wird, wie sich der Kontext und die Bedeutung eines Wortes verschieben.

Wie hat sich der Kontext, also der Bedeutungsrahmen, für den Klimawandel verändert? Als im Jahr 1998 die Grünen zum ersten Mal Regierungsverantwortung übernehmen, identifiziert der Algorithmus diese neun zentralen Begriffe. 

Je weiter oben ein Wort in der Liste steht, desto näher ist es dem Wort Klimawandel inhaltlich. Die Wörter zeigen, welche Aspekte eines Themas diskutiert werden, wie also der Kontext ist. Die Schrift-Dicke signalisiert, wie stabil oder beständig die Begriffe sind, also vereinfacht gesagt, wie zuverlässig der Algorithmus sie in diesem Zusammenhang findet. 

Dem Wort Klimawandel in der 14. Legislaturperiode am nächsten sind Klimaveränderung, Umweltzerstörung und Umweltproblem.

Der damalige Rahmen wirkt klein und harmlos im Vergleich zum heutigen. In der laufenden Legislaturperiode seit 2017 sind diese Begriffe in der Liste zwar noch im Rahmen enthalten, aber nach unten gerutscht. Dem Klimawandel am nächsten sind menschengemacht, Klimakrise und Artensterben

Ein Blick auf die im Kontext stehenden Wörter erhärtet den Eindruck, dass die Abgeordneten erst anfangen, das Thema ernst zu nehmen, als es sich nicht mehr verdrängen lässt.

Die Grünen kommen ins Parlament, aber nicht der Klimaschutz

Natürlich ist für das Verständnis einer so großen Debatte wie der über das Klima nicht nur der Diskurs im Bundestag relevant - sondern auch der gesellschaftliche Kontext. Seit wann diskutiert der Bundestag über Umweltthemen, seit wann über das Klima - und warum beginnen die beiden Diskurse zu unterschiedlichen Zeitpunkten?

Wyhl, Brokdorf, Gorleben, Wackersdorf: Ab Mitte der Siebzigerjahre wächst der Widerstand gegen die Atomkraft. Vermutlich wegen dieser Protestbewegung warnt Kanzler Helmut Schmidt, ansonsten kein ausgewiesener Naturfreund, in der eingangs zitierten Rede vor dem Klimawandel. Er fordert einen Ersatz für Erdöl und einen Ausbau erneuerbarer Energien - aber auch ein Festhalten an der Kohleenergie und vor allem einen Umschwung hin zu mehr Atomkraft. 

„Schmidt ist auf diesen Klima-Zug aufgesprungen, weil das die Kernkraft besser aussehen lässt, erklärt der Historiker Franz Uekötter. Er forscht zu den Schwerpunkten Umwelt-, Landwirtschafts-, Technik- und Wissenschaftsgeschichte und lehrt an der University of Birmingham.

Doch Schmidt hofft vergeblich auf Unterstützung von klimaschützenden Kernkraft-Fans.

Die Umweltbewegung beschäftigt sich noch nicht hauptsächlich mit dem Klima, ebenso wenig wie die Abgeordneten im Bonner Bundestag. In den Achtzigerjahren hat sie ganz andere Probleme auf dem Schirm.

Was die industrialisierte Menschheit anrichten kann, wird immer deutlicher: in Form von saurem Regen, der Zerstörung der Ozonschicht oder dem greif- und sichtbaren Waldsterben.

Im Bundestagswahlkampf 1983 wird das Waldsterben heftig diskutiert. „Es ist ein Thema, das grüne Belange in ihrer Breite gesellschaftsfähig macht - und die Grünen wählbar, sagt Historiker Uekötter. 

Im Herbst ziehen 28 Grünen-Abgeordnete, davon ein nicht voll stimmberechtigter aus West-Berlin, in den Bundestag ein. Marieluise Beck bringt Kanzler Helmut Kohl einen verdorrten Tannenzweig mit, als Symbol für Waldsterben und sauren Regen.

Die Grünen bringen diese Themen nicht nur symbolisch mit in den Bundestag: Von 1983 an diskutieren die Abgeordneten Begriffe wie Waldsterben oder Ozonloch, wie dieses Schaubild der Nennungen pro 100 000 Wörter zeigt.

Ab Mitte der Achtzigerjahre wird auch über den Treibhauseffekt und die Klimakatastrophe gesprochen.

Aber warum verfangen die Diskussionen nicht? Wieso bringt die Umweltpartei das Thema nicht stärker auf die Agenda? Und wieso beharrt sie weder in der Opposition noch später als Regierungspartei darauf, wirksamere Maßnahmen zu ergreifen?

Die verschleppte Globalisierung

Die Veränderung der Erdatmosphäre macht nicht an den Grenze zwischen Nationalstaaten Halt. Aber die Idee internationalen Handelns scheint lange Zeit nicht im Fokus der Abgeordneten und der Politik im Allgemeinen zu stehen. Nach einem ersten, von Meteorologen ausgerichteten, Treffen in Genf vergeht fast ein Jahrzehnt, bis sich die internationale Gemeinschaft erneut mit dem Klima auseinandersetzt: bei Weltklimakonferenzen in Toronto (1988) und wieder in Genf (1990). Die jährliche Klimakonferenz der Vereinten Nationen findet erst von 1995 an statt.

Historiker Uekötter sieht diese Klimakonferenzen als ein Produkt der Endphase des Kalten Kriegs. Eine internationale Zusammenarbeit ist nun leichter denkbar, und bei der Bekämpfung des Ozonlochs hat die Staatengemeinschaft auch gezeigt, dass sie etwas bewegen kann: Im Montrealer Protokoll von 1987 bekennen sich alle Staaten zu ihrer Verpflichtung, die Ozonschicht zu schützen. „Zugleich gibt es noch starke, handlungsfreudige Nationalstaaten, die noch nicht durch die Globalisierung geschwächt sind, sagt Uekötter.

In dieser Zeit diskutieren die Abgeordneten im Zusammenhang mit dem Treibhauseffekt munter das Ozonloch und andere „grüne Themen der Zeit.

Von 1990 an kommen Begriffe wie Bevölkerungswachstum hinzu. Durch sie erlangt die Debatte erstmals ein globales Framing. 

In den Neunzigerjahren gewinnt eine zentrale Erkenntnis stark an Bedeutung: der Treibhauseffekt ist anthropogen, also menschengemacht. Mit Massenarmut und Wüstenbildung gelangen zwei Wörter in die Debatte, die die Folgen des Effekts verdeutlichen. 

Das Kyoto-Protokoll entsteht in dieser Zeit - Uekötter zufolge genau in dem Geiste, den Erfolg im Kampf gegen das Ozonloch beim Klima zu wiederholen. Die Vereinbarung der Vereinten Nationen legt erstmals Ziele für den Ausstoß von Treibhausgasen in den Industrieländern fest. Doch obwohl die Vereinbarung - vor allem, um die USA an Bord zu holen - vage gehalten ist, dauert es sieben Jahre, bis sie größtenteils ratifiziert ist. In dieser Zeit, 1998, kommt Rot-Grün an die Macht und gibt sie 2005, bald nach der Kyoto-Ratifizierung, wieder ab. Aber die Debatte im Bundestag verändert all das kaum.

In Angela Merkels erster Amtszeit im Kanzleramt wird der Begriff Klimawandel, wie eingangs gezeigt, häufiger gesagt als in den Jahren vorher und nachher. Diskutiert werden konkrete Gründe und vor allem Konsequenzen: Es geht im Zusammenhang mit dem Klimawandel um das Ökosystem, das Artensterben und die Bedrohung der Artenvielfalt, um Hunger und Ernährungskrisen sowie die Ressourcenknappheit. Der Fokus im Bundestag ändert sich also zu dieser Zeit des Post-Kyoto-Prozesses ab Anfang 2005, in dem vergeblich um eine Nachfolgeregelung gerungen wird.

Die Themen bleiben 2009 bis 2013 etwa dieselben wie bislang - auf internationaler Ebene wie im Bundestag -, wobei die wenigen Ressourcen für die vielen Menschen wieder weiter oben auf der Liste stehen und die bedrohte Flora und Fauna weiter unten. 

2012 wird „2052: Der neue Bericht an den Club of Rome veröffentlicht. Der Text beschreibt eindrücklich, wie die weltweite Durchschnittstemperatur ansteigen und welche drastischen Folgen das für Menschheit und Natur haben kann. Die USA verweigern trotzdem die Ratifizierung des Kyoto-Protokolls - US-Präsident George W. Bush erklärt achselzuckend, daran kein Interesse zu haben. 

Später tauchen erstmals die Verstädterung und der in dieser Zeit viel diskutierte sogenannte Flüchtlingsstrom auf. Zudem häufen sich offenbar die Sorgen, dass der Klimawandel zu Ressourcenknappheit und Dürre beitragen kann.

In dieser Legislaturperiode finden zwei UN-Klimakonferenzen auf europäischem Boden statt: 2013 in Warschau werden unter anderem die Rolle der Entwicklungsländer beim Klimaschutz und das Global Weirding, also die Zunahme von Wetterextremen durch den Klimawandel, besprochen. 2015 vereinbaren die Delegierten bei der Pariser Klimakonferenz, eine Erwärmung der Welt um mehr als zwei Grad Celsius zu verhindern und sie sogar auf möglichst 1,5 Grad begrenzen zu wollen. 

Heute wird der Klimawandel - wie übrigens auch die Klimakrise - schließlich erstmals gehäuft mit der Globalisierung verknüpft. 

Wie die Auswertung bisher gezeigt hat, gilt das Klima ursprünglich eher als eines von vielen Umweltthemen. Eine gemeinsame internationale Anstrengung ist lange Zeit undenkbar. Seit den Neunzigern treffen sich die Staatenlenkenden jährlich zum Klimagipfel. In einigen Jahren treffen sie wichtige Entscheidungen, in den meisten eher nicht. Unterdessen sammelt sich mehr und mehr CO₂ in der Erdatmosphäre: 1960 kamen 317 CO₂-Moleküle auf eine Million Luftmoleküle (parts per million), heute sind es 407.

Verirrt auf der Suche nach einem Weg?

Welche Rolle spielt Deutschland, einer der zehn Staaten mit dem höchsten CO₂-Ausstoß weltweit, in der Klimapolitik? Welchen Einfluss können unsere Bundestagsabgeordneten überhaupt auf das Erdklima haben? 

In der ersten Amtszeit der später gelegentlich so genannten „Klimakanzlerin hat Deutschland 2007 die EU-Ratspräsidentschaft inne und sitzt den G 8 vor. Sowohl auf dem EU-Gipfel im März als auch auf dem G-8-Gipfel im Juni versucht die Kanzlerin, wie es später heißen wird, den Industriestaaten Zugeständnisse beim CO₂-Ausstoß abzuringen. Im August lässt sie sich in einem roten Nullerjahre-Anorak vor dem grönländischen Eqi-Gletscher ablichten. Zwei Tage lang sehen sich die Kanzlerin und der damalige Umweltminister Sigmar Gabriel in Grönland um. Der Eqi-Gletscher ist als kalbender Gletscher, von dem sich viel Eis ablöst, ein beeindruckendes Naturschauspiel. Er ist aber auch ein Symbol für den Klimawandel, denn das grönländische Eis geht rasant zurück. 

Das Schaubild der Nennungen pro 100 000 Wörter zeigt, wie zu dieser Zeit die Verwendung des Begriffs Klimaschutz im Bundestag ansteigt.

Zwei Jahre nach Inkrafftreten des Kyoto-Protokolls intensiviert sich also diese Debatte. Aber was ist mit diesem Klimaschutz genau gemeint?

In der Legislaturperiode von 1987 an wird Klimaschutz vor allem mit Ressourcenschonung bereits unter anderem mit dem Energiebereich in Verbindung gebracht.

Das Thema Energiesparen rückt weiter in den Fokus. Und schon jetzt wissen die Mitglieder des ersten gesamtdeutschen Bundestags: Für Klimaschutz ist CO₂-Minderung wichtig.

Diese wird sogar noch zentraler. Als die FDP noch Regierungspartei ist, wird Klimaschutz außerdem stark mit Forschung und Innovation in Verbindung gebracht.

Mit der rot-grünen Bundesregierung ändert sich die Wörterliste sichtlich. Nun bringen die Abgeordneten den Klimaschutz mit dem Begriff Energiewende in Zusammenhang. Erstmals taucht auch die Energieeffizienz auf, während das Energiesparen kurzzeitig verschwindet. Die Beschlüsse der Regierung - das Eneuerbare-Energien-Gesetz 2000, dessen Novelle 2004, das 100 000-Dächer-Programm, der Atomkonsens - laufen darauf hinaus, fossile und atomare langfristig durch erneuerbare Energien zu ersetzen. 

Im 15. Bundestag wird Klimaschutz außerdem mit Emissionshandel verknüpft. Der EU-Emissionshandel ETS wird 2003 von den EU-Institutionen beschlossen und tritt 2005 in Kraft. 

In den Nullerjahren finden sich auf der Liste unter anderem Armutsbekämpfung und Energieversorgungssicherheit.

In der 17. Legislaturperiode, in der die Abgeordneten zwischenzeitlich den Ausstieg vom Atomausstieg und dann, nach der Fukushima-Katastrophe, wiederum den Ausstieg davon beschließen, bleiben beide Begriffe, wobei der Stellenwert von Armutsbekämpfung eher wächst und der von Energieversorgungssicherheit eher sinkt. Dann verschwinden beide wieder von der Liste. Der dem Klimaschutz nächste Begriff ist nun die Energieeffizienz.

Im Herbst 2013 schreiben CDU, CSU und SPD eine Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes in den Koalitionsvertrag, die der Bundestag 2014 beschließt - und die Klimaschutzvereine als unzulänglich kritisieren.

Die Abgeordneten diskutieren in dieser Legislaturperiode die Baupolitik, den Gebäudebereich oder die Wärmewende, also den Plan, durch andere Wärmeerzeugung und bessere Dämmung Treibhausgase einzusparen. Sie beschließen, die Energieeinsparverordnung zu novellieren.

Was ist Klimaschutz für die Abgeordneten in Zeiten von Fridays for Future? Dazu gibt es natürlich noch nicht viele Daten. Es fällt auf, dass heute ganz oben auf der Liste Umweltschutz, Artenschutz und - erstmals - eine Mobilitätswende stehen.

Pläne für diese Mobilitätswende sind entsprechend Bestandteil des Groko-Klimapakets. So werden etwa Zugtickets günstiger und Elektroautos subventioniert.

Das Klimapaket, das die große Koalition im September 2019 vereinbart, geht vielen nicht weit genug; etwa diesen wenige Tage später vor dem Kanzleramt Demonstrierenden:

Bundestag und Bundesrat billigen es im Dezember 2019 - trotz der Kritik am Paket der sogenannten Klimakanzlerin.

Mit dem politischen Diskurs über den Klimawandel ändert sich also der über den Klimaschutz. Das bestätigt der Blick auf alle Legislaturperioden:

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Auch hier gilt: Die Begriffe bilden den Rahmen für die Klimaschutzdebatte, die Reihenfolge zeigt die Nähe zu Klimaschutz; die Farbe signalisiert, wie beständig die Begriffe sind: Ein blaues Feld zeigt einen Zusammenhang in der jeweiligen Legislaturperiode. Je dunkler das Feld, desto häufiger konnte der Algorithmus den Begriff als einen identifizieren, der dem Klimaschutz inhaltlich nahe ist. In der linken Hälfte der Grafik sind alle Felder weiß, weil über Klimaschutz vor 1987 kaum gesprochen wurde. 

Um die Erwärmung der Erde zu bremsen, sind Ressourcenschonung, Energieeinsparung beziehungsweise Energiesparen und CO₂-Minderung nötig. So simpel ist das in den Achtziger- und Neunzigerjahren.

Von 1998 an werden im Zusammenhang mit Klimaschutz die Begriffe Energiewende und Energieeffizienz verwendet. Das deutet auf ein verändertes Framing hin, denn Sparen tut weh, aber Effizienz ist smart und nicht unbedingt unbequem.

Von 2005 an rücken außerdem Waldschutz und Energieversorgungssicherheit in den Fokus und von 2017 an der Artenschutz und die Mobilitätswende.

Was sich in der Diskussion über konkrete Maßnahmen aber nicht niederschlägt: dass es immer schwieriger wird, die Klimakrise abzuwenden. 

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Wie sich die Diskussion entwickelt, zeigt auch ein Blick auf den Begriff Klimapolitik, zu dem diese Überblicksgrafik gehört. Der Klimapolitik im Laufe der Jahrzehnte sehr nahe ist vor allem die Energiepolitik.

Beständig im Zusammenhang mit Klimapolitik sind aber auch, gerade in der aktuellen Legislaturperiode seit 2017, Wirtschaftspolitik, Industriepolitik und Steuerpolitik. Ein Hinweis darauf, dass den Abgeordneten erst jetzt so richtig bewusst wird, dass Maßnahmen in mehreren Politikfeldern nötig sind, um das Schlimmste zu verhindern.

Die AfD verharmlost das Problem


Die bisherige Analyse lässt erahnen, warum die Politik es in all der Zeit versäumt hat, umfassend zu handeln. In jüngster Zeit kommt hinzu, dass im Bundestag eine Fraktion sitzt, die sich aktiv gegen dieses Handeln wehrt: die AfD.

Seit Beginn der öffentlichen Diskussion zu Zeiten der Bonner Republik leugnen manche den Klimawandel, häufig sind sie Befürworter der Kohleindustrie. Sie säen Zweifel und wollen das Bild vermitteln, dass die Wissenschaft sich über die Natur des Klimawandels nicht im Klaren sei.

Heutzutage werden längst keine „Gegentheorien zum menschengemachten Klimawandel mehr in seriösen Publikationen veröffentlicht. Die Tatsache, dass jedes weitere Grad dramatische Folgen haben wird, ist wissenschaftlicher Konsens; auch wenn einzelne Modelle, wie sich diese Folgen gestalten werden, leicht voneinander abweichen. Ausgerechnet in dieser Zeit aber vertreten AfD-Abgeordnete Thesen, die die Klimakrise verharmlosen oder gar abstreiten.

Seit jeher blockieren jene, die die Klimakrise leugnen, wirksame Maßnahmen. Heute aber sind sie dabei selbst Gegenstand des politischen Diskurses, wie das Schaubild zeigt, in dem die Häufigkeit der Begriffe Klimaleugner und Klimaskeptiker pro 100 000 Wörter abgebildet ist. 

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Erstmals wird in der aktuellen Legislaturperiode Klimawandel mit leugnen verknüpft, wie diese Überblicksgrafik zeigtZu sehen sind die Begriffe, die von 1994 bis heute vor allem mit Klimawandel in Zusammenhang gebracht wurden. Ein blaues Feld zeigt wieder einen Zusammenhang in der jeweiligen Legislaturperiode - je dunkler das Feld, desto beständiger kommt der Begriff im Kontext von Klimawandel vor.

Dass der Klimawandel tatsächlich menschengemacht ist, wird seit 2013 diskutiert. Ob der Aufstieg der AfD mit der Thematisierung des Leugnens zusammenhängt, lässt sich nicht mit unserem Algorithmus prüfen. Aber vieles deutet darauf hin.

Klimahysterie, das Unwort des Jahres 2019, wurde von 2018 bis heute 19-mal im Bundestag gesagt, sechs weitere Male ging es um abgewandelte Formulierungen wie klimahysterisch. Einmal kam das Wort von einem CDU-Politiker, sonst immer von AfD-Abgeordneten.

Solche Begrifflichkeiten passen dazu, dass die AfD heute vor allem versucht, den Stellenwert der öffentlichen Debatte und die angeblich überzogene Energiepolitik der Bundesregierung zu kritisieren. Denn eine eindeutige Festlegung der AfD zum Thema gibt es nicht. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die von ihr propagierte „Skepsis nicht unbedingt dem Wunsch des Wahlvolks entspricht. So ermittelte der ARD-Deutschlandtrend im Mai 2019, dass eine Mehrheit von 60 Prozent der AfD-Anhängerschaft einen Einfluss der Menschheit auf das Klima sieht. 

Was die Protokolle über den Klimadiskurs aussagen

„Wie könnt ihr es wagen, so lange wegzuschauen? Als Greta Thunberg 2019 ihre berühmte „How dare you-Rede vor Staatenlenkenden aus aller Welt hält, sind der erste Weltklimagipfel und die Klima-Debatte unter Helmut Schmidt 40 Jahre her. 

Seit Langem ist der menschengemachte Klimawandel bekannt und auch der Politik bewusst. Aber in all dieser Zeit findet niemand so deutliche Worte für die Lage, wie sie die jugendliche Aktivistin Thunberg schließlich formulieren wird. Auch im Bundestag ist der Diskurs zunächst verharmlosend, wie die Analyse der Bundestagsprotokolle zeigt.

Die SZ-Datenrecherche kann die Frage, warum die Politik nicht gehandelt hat, sicher nicht abschließend beantworten. Aber sie kann Vermutungen bestätigen und neue Hinweise auf die Ursachen dieses Versagens geben:

Das gesellschaftliche Interesse an Umwelt- und Naturschutz brachte die Grünen in den Bundestag, aber das Interesse war nicht stark genug, um eine nachhaltige Veränderung beim Klimaschutz anzustoßen. Zunächst galt das Klima als eines von vielen Umweltthemen.

Eine gemeinsame internationale Anstrengung war lange Zeit undenkbar.

Die Politik konnte sich nicht auf Lösungsvorschläge verständigen und diese verfolgen.

Bis heute wird das Problem bagatellisiert oder sogar geleugnet.

Wenn Sie sich die Ergebnisse gern selbst genauer erschließen möchten, klicken Sie sich durch unser interaktives Schaubild-Tool: 

Was unsere Datenrecherche aber auch zeigt: Heute sprechen die Bundestagsabgeordneten nicht nur mehr, sondern auch anders über den Klimawandel als bis noch vor wenigen Jahren. Spannend wird sein, ob das so bleiben wird. Womöglich hat sich der Klima-Diskurs unter der Reichstagskuppel ja nachhaltig verändert.

Mithilfe des neuen Algorithmus hat die SZ auch den Diskurs zum Thema Flucht und Migration ausgewertet; die Ergebnisse finden Sie hier:

Und wie die Methode funktioniert und wie wir sie angewendet haben, erklären wir hier: