1989: Fall der Berliner Mauer

Eine Flut befreiter Menschen

Die SZ hat zum Jubiläum historische Texte aus 75 Jahren neu aufbereitet. Hier geht es um die ersten Stunden nach der sensationellen Öffnung der DDR-Grenzen. Die sind für viele aus beiden Teilen Deutschlands so unfassbar, dass kaum Zeit zum Nachdenken bleibt.

Was vorher geschah:

Was vorher geschah:

Von Annette Ramelsberger


Es war die Nacht der reinen Freude. Eine Nacht, die sich anfühlte wie Champagner und junge Liebe, wie ein Märchen, das plötzlich wahr wird. Unwirklich und doch ganz real. Alles was danach kam, konnte diese Nacht nicht mehr ausradieren. Nicht der Kampf von Millionen DDR-Bürgern, die verzweifelt versuchten, nicht gemeinsam mit ihrem Land unterzugehen. Nicht die Gier nach dem Westgeld, nicht die Massenarbeitslosigkeit nach der Einführung der West-Mark, nicht die Enttäuschung, die Verbitterung von Hunderttausenden Menschen, die sich fühlten, als hätten ihre Verdienste, ihre Leben im neuen gemeinsamen Land keinen Wert mehr. Dennoch: Diese Nacht ist geblieben, wie ein Edelstein im Geröll der Geschichte.


Ich stand oben auf der Mauer, direkt am Brandenburger Tor, in jener Nacht. Gerade waren Grenzsoldaten der DDR aufgezogen, sie bildeten einen Kordon um das Tor, sie versuchten mit Wasserwerfern die West-Berliner von der Mauer zu spritzen. Was gerade noch so fröhlich war, drohte zu kippen. Nur fünf Monate zuvor hatte Peking grausam den Platz des Himmlischen Friedens von kritischen Studenten geräumt, die DDR hatte dazu gratuliert. Das könnte jetzt auch hier geschehen. Wie ein kalter Luftzug strich die Angst über den Platz am Brandenburger Tor. Da kam ein Fahrradfahrer auf dem Patrouillenweg herangeradelt. Auf dem Weg, wo sonst die Grenzsoldaten Jagd auf Republikflüchtlinge machten. Nun radelte der junge Mann dort völlig ungehindert. Er schwang elegant um die Grenzsoldaten und rief fröhlich: „Ist ja geil hier.“ Und der Luftzug der Angst war so schnell weg wie er gekommen war.

Über die Öffnung der DDR-Grenzen und die Reaktionen darauf berichten aus Berlin Albrecht Hinze, Cathrin Kahlweit und Wilhelm Schmid, aus Leipzig Michael Birnbaum, aus Bonn Stefan Kornelius und aus Lübeck Klaus Brill.  


Der folgende Text ist in der Wochenendausgabe der SZ vom 11. November 1989 auf der Seite 3 erschienen.

Eine Nacht, wie es so schnell keine mehr geben wird. Wann wäre der Streitwagen mit der Siegesgöttin auf dem Brandenburger Tor je derart im Licht gestanden? Die Scheinwerfer der Welt sind auf den Platz gerichtet, zu dem in dieser Nacht Tausende strömen. Es sind bewegende Stunden.