Was sich nach Corona ändern muss

In der Krise reden alle von Solidarität. Aber was bleibt davon? Und was können wir in die Zeit nach der Pandemie mitnehmen? Ideen aus der Werkstatt Demokratie.

Von Sabrina Ebitsch

In den vergangenen Monaten war oft die „Ode an die Freude” zu hören, bei spontanen Ständchen, bei solidarischen Serenaden von Balkon zu Balkon, bei Konzerten aus einer neu gewonnenen Wertschätzung für die sogenannten systemrelevanten Berufe heraus. In Schillers erster Version des Textes heißt es noch „Bettler werden Fürstenbrüder” – das haben sich viele gewünscht, die Krise als großer Gleichmacher, als Kampfplatz gegen soziale Ungerechtigkeit. In einer späteren Fassung wurde das dann zum heute gängigeren Vers „Alle Menschen werden Brüder” – und auch das haben sich viele gewünscht, eine neue Brüder- oder besser Geschwisterlichkeit, Gemeinsinn und Gemeinschaft, kurz: mehr Solidarität.

Diese Wünsche, dieses in der Krise entstandene Hoffen war sicher einer der entscheidenden Gründe, warum dieses Thema auch im Zentrum dieser Runde der Werkstatt Demokratie stand. Ende Mai haben mehr als 1500 Leserinnen und Leser in einem Online-Voting abgestimmt und die große Mehrheit hat sich für diese Fragestellung entschieden:

 „Gemeinsinn statt Eigensinn – wie gelingt durch die Krise ein besseres Miteinander?” 


Seitdem hat die SZ-Redaktion Beiträge zu dem Thema recherchiert, hat versucht, gemeinsam mit Ihnen Antworten zu finden, hat mit Leserinnen und Lesern in Online-Debatten diskutiert und in Video-Workshops am vergangenen Samstag versucht, Ideen und Lösungen zu erarbeiten. Weil es deutlich mehr Anmeldungen als Plätze in diesem neuen digitalen Format gab, waren die 20 Teilnehmenden schließlich eine bewusst heterogene Gruppe, aus allen Altersschichten, mit verschiedensten sozialen Hintergründen. Sie saßen an Laptops in München-Sendling, im Münsterland und sogar in Costa Rica. 

Das Projekt heißt auch deswegen Werkstatt Demokratie, weil hier entworfen, gebastelt, geschaffen werden soll. Weil wir bei der Recherche und in den Diskussionen konstruktiv arbeiten wollen. Weil alle mitmachen können beim Entwickeln von neuen Ideen – kleinen, realistischen und großen, utopischen. Die Recherchen der SZ-Redaktion und die Vorschläge aus Zuschriften, die Ideen aus den Online-Diskussionen und aus den Workshops wollen wir nun, am Ende dieser Runde der Werkstatt Demokratie, verweben. In dieser digitalen Abschlusspräsentation haben wir drei überwölbende Thesen entwickelt. Sie und die vielen Ideen, auf denen sie basieren und die im Folgenden in virtuellen Sprechblasen dokumentiert werden, sind mögliche Antworten auf die Ausgangsfrage.

Mittlerweile tritt umso deutlicher hervor, dass das, was in den vergangenen Monaten passiert ist, für viele Menschen ein großes Unglück war. Die Krise einfach nur als „Chance” zu bezeichnen, wie es gerne getan wird, ist angesichts dieser Schicksale zynisch. Und viele Hoffnungen haben sich schon wieder verflüchtigt: Corona ist keine Initialzündung für die Klimawende, vor dem Virus sind nicht alle gleich und das mit der Solidarität ist kein Selbstläufer. Meinungsumfragen zeigen, dass Bereitschaft zu helfen und sich einzuschränken sowie Verantwortungsgefühl gegenüber anderen schon wieder nachgelassen haben. Die Solidarität schwindet mit der Rückkehr der Normalität.

Umgekehrt betrachtet bedeutet das aber auch: Wir „können” Solidarität. Wir waren zu einem großen gemeinsamen und gemeinschaftlichen Kraftakt in der Lage, als es darauf ankam. Auch wenn vieles davon nun vielleicht nicht mehr nötig ist oder zu sein scheint, hat Corona vieles offenbart, angestoßen, bewegt. Und das Danach lässt sich mitgestalten. Was also haben wir gelernt, was wollen wir mitnehmen, was soll sich ändern?

These 1: Seid gut zueinander

Wir sind verbunden, aber nicht gleich

Wir müssen mehr aufeinander achten

Empathie – aus der eigenen Blase rausgehen

Mehr Wertschätzung für das Ehrenamt

Jede/r soll ein Freiwilliges Soziales Jahr machen

Ein wichtiger Baustein, das hat sich in der Werkstatt Demokratie gezeigt, ist der Umgang miteinander – auf einer rein zwischenmenschlichen Ebene. Ganz ohne die christliche Nächstenliebe zu bemühen, waren vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Video-Workshops Empathie, Rücksichtnahme auf und Engagement für die Gemeinschaft ein Anliegen. „Es ist einem häufig gar nicht bewusst, wie gut man es hat und vor welchen Herausforderungen andere stehen”, sagte Agnes Mach, die in der Bildungsarbeit tätig ist. Die junge Frau verwies auf das Beispiel einer ihr bekannten Familie, der für Arbeit der Eltern und Hausaufgaben des Kindes nur ein Computer zur Verfügung steht – und wo die Eltern dann eben nicht immer für Chef und Kollegen verfügbar sein können. Für andere Teilnehmer in den Diskussionsrunden wird Rücksicht gerade beim Maskentragen sichtbar: „Es ist doch selbstverständlich, in der U-Bahn eine Maske zu tragen, wenn ich Erkältungssymptome habe”, sagte der Student Nico Stein.

Das Ehrenamt zu stärken, sei für ihn „ein wichtiger Punkt”, sagte Andreas Becker: „Ich bin bereit, von mir aus etwas zu geben für andere.” Schulpraktika etwa, so ein anderer Vorschlag aus einer Diskussionsgruppe, sollten gar nicht unbedingt berufsvorbereitend sein, also die Schüler dorthin führen, wo sie später arbeiten wollen – sondern ganz im Gegenteil in andere Bereiche, andere Gefüge, um andere soziale Zusammenhänge und Probleme kennenzulernen.

Die Anderen zum Ausgangspunkt der eigenen Überlegungen und Entscheidungen zu machen, ist ein Grundstock von individueller Solidarität, das war in den Gesprächen der Werkstatt Demokratie zentral. Darauf geht auch das Gedankenexperiment von John Rawls in seiner „Theorie der Gerechtigkeit” zurück, in der er überlegt, wie die Menschen eine Gesellschaft gestalten würden, wenn sie ihre eigene Rolle und Position darin nicht kennen. In unserer digitalen Reportage geht es um genau diese Verbindung von der Theorie hin zur Praxis, etwa im Fall dringend notwendiger Verbesserungen bei sozialer Ungerechtigkeit – und zwar gerade bei den Berufsgruppen, bei denen Solidarität oft zur Jobbeschreibung gehört.

Davon ausgehend fragt auch Maja Göpel in ihrem Nachhaltigkeits-Buch Unsere Welt neu denken”, das gerade Konjunktur hat: Wie würden Sie die Welt einrichten, wenn Sie nicht wüssten, in welche Familie, in welches Land Sie geboren werden?” Wie also sähe eine Gesellschaft aus, die für andere, für alle und damit auch für einen selbst gut ist?

Getan ist es mit einer rein individuellen Perspektive natürlich nicht – es braucht schon eher eine Art empathischen Verbund. Wir haben in den vergangenen Monaten viel über Nähe nachgedacht und gesprochen und damit meist eine Nähe im übertragenen Sinn gemeint. Vielleicht muss aber auch stärker eine Nähe im räumlichen Sinn in den Blick genommen werden. Vielleicht wird sie das auch schon: Balkongesang im Karree, Einkaufen für die Senioren gegenüber, Nachbarschaftshilfe. 

These 2: Kommen Sie näher

Gemeinschaftliche Entwicklung, mehr Regionalität

Von den kleinen Strukturen in die großen denken

Stärkere regionale Vernetzung

Menschen digital zueinander bringen

Mehr Bürgerbeteiligung, mehr Mitgestaltung

Das unmittelbare Umfeld ist wichtiger geworden. Oder wie es der Student Marian Hummel in einem der virtuellen Workshops formulierte: „Funktioniert Solidarität auf gesellschaftlicher Ebene oder nicht eher in der Gemeinschaft – ist es nicht eher das Lokale, das interessant ist?” Ähnlich argumentiert auch einer der renommiertesten deutschen Soziologen, Andreas Reckwitz. Er weist darauf hin, dass moderne Gesellschaften nicht vom Gleichklang, sondern eher von der Differenz, der Vielfalt, der Unterschiedlichkeit leben. Die moderne Gesellschaft könne nicht zu einer Gemeinschaft werden, sagt er im SZ-Interview. 

Das muss aber gar keine kulturpessimistische Diagnose sein, weil zum großen Ganzen auch Communitys, also verschiedenartige Wahlgemeinschaften, gehören. Dass die Gesellschaft keine homogene Gemeinschaft mehr ist, bedeutet jedenfalls nicht, dass so etwas wie Gemeinsinn in der Moderne nicht möglich oder nötig wäre, im Gegenteil”, sagt Reckwitz. Ohne soziale Integration, ohne Normen, die alle mittragen, gehe es nicht.

Und verbindend können ja durchaus auch gemeinsame Ziele und Interessen sein, die sich auch in einem digitalen Nahraum verfolgen lassen, also im Netz Menschen zusammenbringen. Oder eben, weiter gedacht, im Lokalen klein anfangen und das, was auf kommunaler Ebene gut funktioniert hat, dann im Größeren weiter entwickeln – dann vielleicht in digitalen Gemeinschaften. Die Welt sei ja durch die Digitalisierung ganz anders erfahrbar geworden für den Einzelnen, sagte der Künstler Lukas Einsele in einem Workshop, vielleicht lasse sich mit ihrer Hilfe der Gemeinsinn von der kommunalen Ebene auch in größere Räume übertragen.

Oder in andere Bereiche – denn Gemeinschaft und Nähe muss nicht nur auf das zwischenmenschliche Miteinander, auf unseren Umgang miteinander bezogen sein. Sie lassen sich auch hinein ins Ökonomische und Politische übersetzen. Die Werkstatt-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer etwa denken dabei auch an stärkere regionale Vernetzung, wenn es um Produktion, Vertrieb und Einkauf geht. Sie wollen – gerade, aber nicht nur bei Lebensmitteln – Güter nicht länger auf weiten Wegen aus anderen Teilen der Welt heranschaffen lassen, sondern Produktionsketten verkürzen, Abhängigkeiten reduzieren, auch eine Art Wirtschaftsgemeinschaft schaffen.

Der logische nächste Schritt ist dann eine größere auch politische Nähe: Gewünscht sind mehr Gestaltungsmöglichkeiten und mehr Bürgerbeteiligung. Auch hier wurden in den Workshops Forderungen nach mehr direktem Einfluss für Bürgerinnen und Bürger auf den öffentlichen Diskurs und damit auch auf politische Willensbildung und Entscheidungen laut.

These 3: Solidarität muss auch von oben kommen

Faire Arbeitsbedingungen, mehr Geld

Respekt vor der Leistung anderer

Im Sinne eines Miteinanders umverteilen

Freiräume schaffen, um sich zu engagieren

Bewusstseinsbildung ins Rollen bringen

Die Corona-Monate haben ihre Spuren hinterlassen, sie haben bereits etwas verändert – und sei es nur, dass wir, wie es in diesem Kommentar heißt, „den etwas angestaubten Begriff der Solidarität wieder rausgekramt” haben, gemeinsam mit den alten Hannes-Wader-Platten. Vielleicht bleibt auf jeden Fall schon mal das: die Einsicht, welche Bedeutung Solidarität für uns hat und wie viel sie bewirken kann.

Zumal diese Einsicht auf fruchtbaren Boden in einer durchindividualisierten Gesellschaft fällt, die schon länger Ermüdungserscheinungen angesichts des Diktats des Neoliberalismus und eines sich zurückziehenden Staates offenbart. Die Folgen dieser langjährigen Entwicklungen zeigten sich in einem kaputtgesparten Gesundheitssystem und einer schärfer ausgeleuchteten sozialen Ungleichheit in der Corona-Krise noch deutlicher. Das Bedürfnis, so auch Reckwitz’ Diagnose, scheint eher dahin zu gehen, dass der Staat wieder stärker eingreift und stabilisiert. Der Soziologe plädiert entsprechend für einen „einbettenden Liberalismus”, der stärker auf Rahmen und Regeln setzt, „um die Dynamik der Spätmoderne – die Dynamik der Globalisierung, der Digitalisierung, der Postindustrialisierung, der Liberalisierung und der ungleichen Lebenswelten – einzuhegen”. Es braucht also auch: einen solidarischen Staat, solidarische Strukturen, solidarische Institutionen.

Gerade hier ist es mit Umdenken, mit Bewusstseinsbildung nicht mehr getan. Größere Umbauten sind nötig, wesentliche Pfeiler und Scharniere unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems werden berührt. In den Recherchen der SZ-Redaktion ebenso wie in den Diskussions-Workshops wurden das Bedürfnis, sogar Forderungen danach immer wieder deutlich. „Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander – ein systemischer Wandel ist notwendig. Es ist gut, dass die Diskussion jetzt aufkommt”, betonte etwa der Projektberater Ralph Kendlbacher im Workshop. Auch in den Online-Diskussionen auf SZ.de wurde die Systemfrage gestellt: „Die Wirtschaft sollte doch eigentlich einen dienenden Charakter haben und nicht Selbstzweck sein. Dann müsste die Politik die Weichen aber komplett anders stellen.”

Ein Aufruf zum „Klassenkampf” soll das aber, wie es an anderer Stelle hieß, nicht sein, vielmehr solle im Konsens und „im Sinne eines Miteinanders” umverteilt werden. Aber bitte „weg vom Kleinklein”, weg von 100 Euro mehr oder weniger. Es solle vielmehr um eine „gesellschaftliche Weiterentwicklung” gehen, sagt der Berufsschullehrer Gerhard Endres, so dass die finanziell Schwächeren tatsächlich spürbar gestärkt werden.

Zu dieser Weiterentwicklung kann auch gehören, Leistungen bestimmter Berufsgruppen nicht nur mit Applaus von den Balkonen zu honorieren. Das gilt insbesondere für die sogenannten „systemrelevanten”, ein diskussionswürdiger Begriff. „Wer ist eigentlich systemrelevant?”, fragt Artur Nowald, seines Zeichens Hausmeister, in einem der Workshops. „Endlich wird darüber nachgedacht!” Es sind oft und gerade Berufe, wie etwa Krankenpfleger oder Erzieherinnen, die sich der kapitalistischen Logik entziehen. Sie produzieren nichts mit „Marktwert”, die Bedeutung ihrer Arbeit lässt sich nicht in Cent und Euro bemessen. Es braucht also andere Stellschrauben, um gängige Wahrnehmungen aufzubrechen – etwa Care-Konten oder eine harte Reduktion der Wochenarbeitszeit, um Menschen Freiräume für Sorgearbeit oder gesellschaftliches Engagement zu ermöglichen.

Experten, Betroffene und Diskutierende waren sich einig, dass es hier nicht nur andere Wahrnehmung und mehr Wertschätzung braucht, sondern auch und natürlich: höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, mehr Personal, Tarifverträge, Qualifizierung. Die Forderungen klingen fast banal, haben aber erschreckenderweise in sehr vielen gerade sogenannten systemrelevanten Berufen ihre Berechtigung. „Wer anerkennt, was wir leisten und wie wichtig unsere Arbeit für die Gesellschaft ist, zahlt uns auch vernünftige Löhne und schafft Arbeitsbedingungen, die uns nicht auf die Dauer ausbrennen lassen”, sagt etwa eine Erzieherin im Gespräch mit der SZ. Was sich gerade nach den Erfahrungen der vergangenen Monate selbstverständlich anhört, ist es im Arbeitsalltag oft nicht – immer noch. Das Klatschen sei ja eine „gut gemeinte Geste” gewesen, sagt ein Pfleger, „aber noch besser wäre es, dass die Leute sich nach dieser Krise an den Applaus erinnern.”

Vieles entzieht sich aber auch den Einflussmöglichkeiten von Eltern, Angehörigen, Patientinnen, Verbrauchern oder Bürgerinnen, weil Politik, Unternehmen und Organisationen gefragt sind. Aber sie und wir alle können: Stellung beziehen, protestieren, Druck ausüben. Und wir können auch mit Alltagshandeln, wenn auch im Kleinen, mitgestalten. Stichwort Billigfleisch, wo sich gerade wie unter dem Brennglas zeigt, wie soziale und ökologische Fragen zusammenhängen. Und was das mit jedem und jeder Einzelnen zu tun hat.

Die Politökonomin Maja Göpel etwa schreibt in ihrem Buch „Unsere Welt neu denken”: „Wir leben nicht über unsere Verhältnisse. Wir leben über die Verhältnisse der anderen.“ Womit wir wieder bei der Solidarität wären. Denn andersherum gedacht kann auch die im Kleinen, mit den Schlachtern, mit den Erntehelferinnen und Kassierern, auch die mit den Tieren und der Umwelt, ins Große hineinwirken. Vielleicht ist ein Anfang gemacht, wie es der Teilnehmer Armin Bortolon in der Werkstatt Demokratie formulierte: „Dass in vielen Bevölkerungsteilen über das Thema Solidarität diskutiert wird, ist schon viel wert.”