Politisch-persönliche Notizen zur Corona-Krise

Woche 7:  Von Hack statt Leber, von lobbygetriebener Lockerungswillkür - und vom Trost spendenden Fischreiher.


Von Carolin Emcke

Lese-Tag.

"Verstehen ist immer eine aufsteigende Bewegung; deshalb muss das Verstehen immer konkret sein."

- Simone Weil, Cahiers, Heft 1 (1933 - 1940) -

Eine aufsteigende Bewegung des Verstehens ist nicht zu erkennen. Wirklich nicht. Es liest sich, als ob ungeheure Anstrengung darauf verwandt worden wäre, nur ja nicht konkret zu werden, nur ja kein tieferes Verstehen zuzulassen, nur ja nicht die Verbrechen in einem Kontext zu situieren, nur ja alles zu vermeiden, was aufklären könnte, welche Strukturen diese Taten ideologisch und praktisch-logistisch ermöglicht haben. Es liest sich wie das ernsthafte Bemühen, jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex zu verhindern. 

Es ist eine quälende Lektüre, diese dreitausendfünfundzwanzig Seiten lange Begründung des Urteils im NSU-Prozess. Dreitausendfünfundzwanzig. Sie lag schon seit letzter Woche vor, aber es brauchte Zeit, sie auch zu lesen. Erst hatte ich gedacht, es würde guttun, sich mit etwas anderem als Covid-19 zu beschäftigen. Ein Gegenprogramm zur alles verschluckenden Krise der Pandemie. Das braucht es auch. Jede Woche mehr. Ich weiß nicht, was ich von dem Urteil erwartet hatte, aber nicht das. Auf 3025 Seiten findet sich kein einziger Satz, der die Opfer tatsächlich würdigt, kein einziger Satz, der auch nur andeutet, wer sie waren, die da hingerichtet wurden, dass sie jemandes Ehemann und Vater waren, jemandes Bruder und Onkel, jemandes Tochter und Nichte waren, dass sie rausgerissen wurden aus dem Leben in einer Familie, einer Nachbarschaft, einer Gesellschaft, in der sie zählen, kein Satz, der das Leid der Angehörigen adressiert, kein Satz, der ihnen vielleicht keinen Trost, keine Versöhnung verspräche, aber wenigstens Anerkennung zollte. Auf dreitausendfünfundzwanzig Seiten wäre ein solcher Satz möglich gewesen. Für einen solchen Satz hätte sie gelohnt, diese monumentale Urteilsbegründung, einen solchen Satz hätten die Angehörigen nicht nur verdient, sondern auch gebraucht. 

Die respektlose Haltung gegenüber den Opfern durchzieht das Urteil gleich auf zweifache Weise: Einerseits werden sie mit solchem Desinteresse erwähnt, dass sie im Verlauf immer abwesender, immer marginaler werden. Und andererseits, wenn sie überhaupt auftauchen, werden sie als das beschrieben, als was ihre rassistischen Mörder sie sehen wollten. "Monstrosität und Unsichtbarkeit sind zwei Unterarten des Anderen", schrieb die amerikanische Philosophin Elaine Scarry in ihrem Aufsatz "Das schwierige Bild des Anderen", "die eine übermäßig sichtbar und die Aufmerksamkeit abstoßend, die andere unzugänglich für die Aufmerksamkeit und daher von Anfang an abwesend." 

Die Opfer tauchen in der juristischen Rekonstruktion der Taten eben in ihrer Rolle als Opfer auf, aber es ist stets nur ein Auftritt in der Szene am Tatort, stets "versahen sie sich keines Angriffs" (eine Formulierung, die signalisiert, dass das Gericht das Mordmerkmal "Heimtücke" und "niedrige Beweggründe" annimmt), aber sie zeichnet nichts aus, sie haben keine Leben, keine Beziehungen, keine Individualität. Das mag wie der sachfremde Einwand einer Nichtjuristin klingen. Das ist richtig: Ich lese hier als Laie. Ebenso richtig ist: Eine Urteilsbegründung ist kein literarisches, poetisches Genre. Der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München ist nicht Roberto Bolaño, ein schriftliches Urteil ist nicht "Der Teil von den Verbrechen", jenes Kapitel in dem Roman "2666", in dem über 342 Seiten die brutalen Femizide in der Stadt Santa Teresa beschrieben werden. Das ist alles richtig. Aber leider ist es nicht bloß eine Gattungsfrage. Denn hier wird nicht überall gleich ambitionslos formuliert. Wenn mehr liebevolle Akribie auf die Beschreibung einer Christstollen-Dose mit Sprengvorrichtung verwandt wird ("rot, weihnachtlich mit Sternen verziert") als auf nur ein einziges Opfer der NSU-Mordserie, dann ist doch Skepsis angebracht, ob es wirklich am Genre des Textes liegt oder nicht doch an einer inneren Gleichgültigkeit den Menschen gegenüber, die getötet wurden.

Wenn etwas mehr über die einzelnen Opfer ausgesagt wird, dann vornehmlich aus der Perspektive der Täter. Das liest sich dann so: "Aufgrund der durch sein Aussehen naheliegenden südländischen Abstammung gehörte Enver Şimşek zu der von den drei Personen ausländerfeindlich-rassistisch definierten Opfergruppe." (S. 91) Das könnte ein unglücklicher Lapsus sein. Unsensibel, aber nicht verwerflich. Wäre es nicht die Form, in der jedes migrantische Opfer des NSU vorgestellt wird. "Aufgrund der durch sein Aussehen naheliegenden südländischen Abstammung gehörte Abdurrahim Özüdoğru zu der von den drei Personen ausländerfeindlich-rassistisch definierten Opfergruppe." (S. 110). Es lässt sich ahnen, wie diese Passage kopiert und eingefügt wurde. Wie lediglich der Name geändert wurde alle paar Seiten. Vermutlich hat jemand gedacht: Ist ja eine Mordserie, da ist etwas serielle Redundanz unvermeidbar. "Aufgrund der durch sein Aussehen naheliegenden südländischen Abstammung gehörte Süleyman Taşköprü zu der von den drei Personen ausländerfeindlich-rassistisch definierten Opfergruppe." (S. 114) So setzt sich das fort. Alle migrantischen Opfer des NSU werden auf diese Weise im Blick-Regime der Terroristen beschrieben.

"Verstehen ist eine aufsteigende Bewegung", aber hier steigt einfach gar nichts auf. Es sinkt nur tiefer. Die Technik des schlichten "Copy-and-Paste", der Wiederholung derselben Textbausteine an anderer Stelle, sie scheint auch sonst gelegentlich eingesetzt worden zu sein. Über weite Strecken gibt es identische oder fast identische Formulierungen zu Beate Zschäpes Funktion im Verbund des NSU als diejenige, die Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die Legenden für ihre Abwesenheiten lieferte, die das Geld aus den Raubüberfällen verwaltete und die das Bekenner-Video veröffentlichen sollte für den Fall, dass beide gefasst würden. Warum das stetig wiederholt wird, ist strategisch sogar verständlich: Hier soll die These von der Mittäterschaft der Angeklagten belegt werden, obgleich sie am Kerngeschehen selbst nicht mitwirkte und auch nicht am Tatort anwesend war. Also wird die Arbeitsteilung der drei Personen wieder und wieder erwähnt, damit sich die Unabdingbarkeit des Beitrags von Zschäpe für die Taten einprägt. Aber das repetitiv Gleichförmige des Textes wirkt auf Dauer nicht nur phrasenhaft, sondern arbeitsscheu. 

Es wäre auch durchaus Raum gewesen, um die weitreichenden Verknüpfungen der Angeklagten in die rechtsextremistische und neonazistische Szene in Thüringen und Sachsen in den 90er Jahren zu beschreiben. Nicht nur, um die soziale Eingebundenheit der Terrorgruppe zu dokumentieren, sondern auch, um alle die zu benennen, ohne deren Hilfe diese Serie an Morden, Sprengstoffanschlägen, Raubüberfällen und Mordversuchen kaum denkbar gewesen wäre. Es mag dramaturgische Gründe für verschlichtende Personalisierung dieses gewaltförmigen Archipels an rechtsextremistischen Figuren und Netzwerken in Spielfilmen geben. Es mag quotenheischende Gründe für die emotionalen Mythifizierung des "Trios" geben. Aber in einer juristischen Aufarbeitung möchte ich schon die Hintergründe und Zusammenhänge gewürdigt sehen. Wozu sonst wäre dieser Jahrhundertprozess geführt worden? Wozu sonst wäre mehr als fünf Jahre, vom 6. Mai 2013 bis zum 11. Juli 2018, vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München verhandelt, wozu sonst wären 541 Zeugen und 46 Sachverständige gehört worden? Um jetzt ein Urteil zu formulieren, dass die Taten auf sich wiederholende Abläufe zusammenschnurren lässt und die Täter eher als semi-autarke Einheit denn als breit vernetzte und unterstützte Terror-Organisation beschreibt? 

Zu den Zeugen, die gehört wurden vor Gericht, zählte auch Andreas Temme, der Mitarbeiter des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz, der sich zeitgleich in eben jenem Internetcafé in Kassel aufhielt, in dem der Eigentümer Halit Yozgat durch zwei Schüsse getötet wurde. Eben jener Andreas Temme, der, wie sich mittlerweile herausstellte, mit dem Mörder des CDU-Politikers Walter Lübcke, Stefan E., "dienstlich befasst" gewesen sein soll. Temme wird in dem NSU-Urteil nicht erwähnt. Ich konnte das erst nicht glauben. Ich dachte, ich hätte den Passus überblättert. Es schien undenkbar, dass der Mann, der am Tatort in Kassel war, der Zeuge, der ausführlich in der Hauptverhandlung angehört wurde, einfach herausgefallen sein könnte. Ich habe sicherheitshalber zwei Mal mit der Suchfunktion das Dokument nach dem Namen Temme durchsucht. "Keine Ergebnisse". 

Mag sein, dass man schon dankbar sein muss, dass das Gericht nicht die Version von Beate Zschäpe als harmlosem, katzenliebendem Heimchen am Herd geglaubt hat. Mag sein, dass dieses Urteil so geschrieben wurde, damit es unbedingt Bestand hat und nicht in der nächsten Instanz aufgehoben wird. Mag sein. Aber wenn diese Demokratie an der Aufklärung der historischen Wahrheit interessiert ist, wenn sie wirklich verstehen will, was der NSU-Komplex war und wie sich verhindern lässt, dass so etwas wieder geschieht, dann reicht das nicht. Dann braucht es eine Wahrheitskommission, in der alle Akten zugänglich, alle Informationen offen, alles Wissen geteilt, alle verdeckten Figuren sichtbar werden. Das schuldet diese Gesellschaft nicht nur den Opfern, sondern auch sich selbst. 

Um das letzte Wort den Angehörigen der Opfer zu geben, sei hier Elif Kubaşık zitiert, die Witwe von Mehmet Kubaşık, in ihrem Kommentar zur Urteilsbegründung: 

"Jetzt haben Sie viel Zeit verstreichen lassen, bis Sie uns das Urteil geschickt haben. Das Urteil ist sehr lang. Aber warum haben Sie dann nicht wenigstens aufgeschrieben, wonach Sie uns gefragt haben, was Sie von all den Zeugen, von uns und allen anderen gehört haben, was diese Morde mit uns und unseren Familien angerichtet haben?"

"Früher war mehr Lametta"

- Loriot -

Das mit den Masken ist ja optisch durchaus apart, aber es erschwert doch akustisch die reibungslose Verständigung. Eine Freundin aus Frankfurt/M. schrieb mir gerade von folgendem Dialog mit einer Fachverkäuferin im Laden:

A.: "Haben Sie Kalbsleber?"
B.: "600 Gramm Rinderhack?"
A.: "Nein, Kalbsleber?"
B.: "600 Gramm?"
A.: "Also, ne Grammzahl hatte ich eigentlich noch gar nicht genannt, aber wenn Sie meinen..."

Die Freundin schreibt, hier habe es erste Lachanfälle im Raum gegeben.

B.: "Wir haben nur noch 400 Gramm."
A.: "500 würden mir reichen."

Mittlerweile völlig enthemmtes Gelächter der anderen Kunden im Laden.

A.: "Mit Maske hört man nix!"
B.: "Ja, mitunter rät man einfach, was die Kunden wollen, und wenn sie sich nicht wehren..."

Hätte Loriot nicht besser schreiben können.

Abends beim Ritual der Nachrichten breitet sich niedergeschlagenes Unbehagen aus. Nicht, dass hirnlose Anpassung an die Einschränkungen mich schon so sediert hätte, dass nichts mehr quälte oder ich aufgehört hätte, mich nach Lockerungen zu sehnen. Aber das, was da angekündigt wurde, ist einfach keine überzeugende, keine glaubwürdige, keine gerechte Öffnung. Nicht nur, weil sie vor lauter Eile, wieder zur Normalität zurückzukehren, über die Kriterien, welche Normalität wir wollen sollen, gar nicht mehr nachgedacht zu haben scheinen. Als ob die Krise nicht doch sehr triftige Gründe geliefert hätte, sich dringend für eine nachhaltige Mobilitätswende einzusetzen, eine Stärkung der sozialen Infrastruktur und Sicherungssysteme zu finanzieren und dramatisch mehr in Bildung und Digitalisierung zu investieren.

Sondern auch, weil diese Lockerungen zu sehr nach lobbygetriebener Willkür aussehen und zu wenig nach bewusstem Ausbalancieren von medizinischen und sozialen und ökonomischen Gesichtspunkten. Als ob es reichte, nur zu drängeln und zu fordern, um als unverzichtbar und immun zu gelten. Die lokalen Differenzierungen leuchten ja durchaus ein. Es macht Sinn, der unterschiedlichen Dichte und den unterschiedlichen Infektionsraten in den Landkreisen Rechnung zu tragen. Aber es fällt schwer, die nun veränderten, aber immer noch geltenden Einschränkungen und ihre sozialökonomischen Auswirkungen zu akzeptieren, wenn lobbyschwache Sparten wie Kultur oder Schulen und Kitas ungleich stärker belastet und weiter begrenzt werden sollen. Man könnte sich wie ein dämlich-braver Tropf fühlen, wäre da nicht die Vermutung, dass all diese Lockerungen zu weitreichend sind - und später noch bereut werden.

Die öffentlich-rechtlichen Nachrichtenprogramme, ob "Tagesschau" und "Tagesthemen" oder "heute" und "heute journal", leisten seit Wochen wirklich Spektakuläres: Nicht nur durch die ruhigen Analysen und Berichte aus dem Inland, sondern vor allem, wie sie immer wieder den Fokus öffnen, immer wieder der regressiven Neigung zur Nationalisierung der Krise widerstehen und internationale Bezüge und Kontext beleuchten. Das gelingt der BBC und CNN schon lange nicht mehr. Weil sie sich dafür nicht mehr ausreichend interessieren, weil sie so mit den politischen oder medizinischen Katastrophen in ihren Ländern befasst sind oder weil sie ohnehin kaum Korrespondenten mehr rausschicken und glauben, endlose Studio-Talkrunden ersetzten Berichte aus der Welt. Dabei zeigt diese Krise mehr denn je, warum es beides braucht: exzellenten Lokaljournalismus und Auslandsberichterstattung, warum Recherchen in der Nähe, in den Kommunen und Ländern unverzichtbar sind, aber eben auch Reportagen aus der Welt, mit der wir verbunden und verwoben sind. Vielleicht wäre das auch eine Lehre aus dieser Krise für das "Danach": dass die Nachrichten insgesamt länger und um einen richtigen Block aus internationalen Berichten ergänzt werden. Täglich.

An dieser Stelle jedenfalls: ein Dank also an alle, die uns durch die Vervielfältigung der Perspektiven auch zwingen, die asynchronen Entwicklungen in der Welt auszuhalten. In Brasilien regiert eine unheimliche Mischform von rechtsradikalem, demokratisch gewähltem Präsidenten und einigen Generälen, die ihm in dieser Krise nicht mehr trauen und ihn in einem intransparenten Modus "beraten". Wirklich gesicherte Informationen gibt es kaum. Es lässt sich nur ahnen. Eine absurde Konfiguration, in der eher Militärs als schützende Instanz für die Bürger*innen gelten als ein gewählter Präsident, der das Virus und seine vernichtende Wirkung einfach leugnet. Mittlerweile hat Covid-19 längst den Bundesstaat Amazonien und die Hauptstadt Manaus erreicht. Seit Tagen richtet der Bürgermeister verzweifelte Appelle an die internationale Öffentlichkeit und fleht um Hilfe. Noch bedrohlicher ist die Situation der indigenen Gemeinschaft, die in ihrem Überleben bedroht sind. In einem offenen Brief hat der Fotograf und Friedenspreisträger Sebastiao Salgado eindringlich die doppelte Gefahr beschrieben, der sie ausgesetzt sind: einerseits die illegale Ausbeutung der Gebiete der indigenen Bevölkerung durch Bergarbeiter, Holzfäller und Viehzüchter, und andererseits die Verbreitung des Virus, vor dem sie sich nicht schützen können.

Und bei uns? Bei uns darf wieder Fußball gespielt werden.

Was mir sehr gefällt an den Öffnungen ist die: "zweiter Haushalt-Regel", die heißt vermutlich anders, aber so habe ich sie mir gemerkt. Ich darf jetzt nicht nur wie bisher mit einer anderen Person mich treffen, die nicht mit mir lebt, sondern mit einem anderen Haushalt, eben dem "zweiten Haushalt". Das ist großartig. Wir haben sofort überlegt, wer unser "zweiter Haushalt" sein soll. Und dann wurde deutlich, dass das nur als promiskes Konzept funktionieren kann, also es immer andere Freund*innen sind, die als "zweiter Haushalt" deklariert werden. Sonst verklumpt man, nach wochenlanger Verspießung allein zuhause, am Ende auch noch zu Zweier-Paaren zusammen. Horror. Aber ich fürchte, genau so war es gemeint.

"Im Anfang war die Ähnlichkeit."

- Edmond Jabès, Ein Fremder mit einem kleinen Buch unter dem Arm -

In dem Roman "Anils Geist" beschreibt der Schriftsteller Michael Ondaatje eine Pflanze in der Wüste. Sprüht man Wasser auf ihre Blätter, lässt sich der Geruch von Kreosot einatmen. Die Pflanze sondert dieses Gift ab, sobald es regnet - und hält sich so, laut Ondaatje, alles vom Leib, was zu sehr in ihrer Nähe wachsen könnte. So wirkt es im Moment. In dieser Zeit, in der wir uns oft aus purer Müdigkeit nur noch auf uns selbst konzentrieren wollen, in der der Blick immer enger, die Empathie eine knappere Ressource wird. Als ob wir uns in der Krise der Pandemie, wie diese Pflanze, alles vom Leib halten wollten, was uns zu nah kommt. Und so verdrängen wir, was sonst noch geschieht, vergessen, wer uns sonst noch bräuchte, wessen Not nicht aufgehört hat, vergessen, dass jeden Tag, jede Woche verzweifelte Menschen ihr Leben riskieren auf der Flucht über das Mittelmeer.

Wenn man sich erklären lassen will, was weiterhin geschieht, ohne dass es wirklich Beachtung findet, wenn man verstehen will, wie das ist, mit 150 Geflüchteten aus Libyen auf einem 38 Meter langen Boot über Wochen auszuharren, wie dort Menschen auf engstem Raum, ohne jede Privatsphäre, nicht nur nebeneinander liegen und schlafen, sondern eben auch aufeinander, wenn man wissen will, warum um 4 Uhr aufstehen muss, wer mit einem einzelnen Kochtopf Reis für 150 Personen kochen will, dann reicht ein einziges Skype-Gespräch mit Anna-Katharina Schiller, der 1. Offizierin der Alan Kurdi. Wir kennen uns nicht. Wir hatten uns per E-Mail verabredet, jetzt sitzt sie auf dem Schiff und scheint ein wenig erstaunt, dass sich überhaupt noch jemand interessiert. Nicht nur für die Crew oder das Schiff, sondern auch für die Menschen, die in Europa niemand haben will.

Das Schiff der Regensburger Seenotrettung "Sea-Eye" durfte nach wochenlanger Odyssee am Montag in den Hafen von Palermo einlaufen. In zwei verschiedenen Rettungen hatte die Alan Kurdi erst 68 und dann nochmal 82 Menschen an Bord geholt. "Die wollten gar nicht nach Europa, das ist immer so ein Mythos", sagt Anna-Katharina Schiller, die in einem anderen Leben, wenn sie nicht gerade Menschen im Mittelmeer rettet oder in Quarantäne im Hafen von Palermo festsitzt, Physik studiert, "sie wollten raus aus Libyen, raus aus den brutalisierten Lagern, raus aus dem Bürgerkrieg".

Das ist das europäische Paradox. Alle sind sich einig darin, dass die Gewalt in Libyen unerträglich ist: die fragmentierten Zonen, die keinen Staat mehr, geschweige denn einen Rechtsstaat erkennen lassen, die unkontrolliert zirkulierenden Waffen, teils aus alten Beständen, teils frische Ware, geliefert von externen Regimen, die die eine oder andere Faktion im Bürgerkrieg gewinnen sehen möchten, alle wissen um die grausamen Folterungen und Versklavungen in den Lagern in Libyen, aber all diese Einschätzungen scheinen nur gültig zu sein, solange die Menschen ihnen unterworfen sind. Sobald jemand flieht vor eben diesen Zuständen und eben dieser Gewalt, sobald jemand im Mittelmeer in einem Schlauchboot abzusaufen droht, erlischt auf einmal diese eben noch anerkannte Wirklichkeit in Libyen, gilt nichts mehr von den Einschätzungen zuvor. Die Gewalt in Libyen soll immer nur dann wahr sein, wenn internationale Friedenskonferenzen abgehalten werden, aber sie soll nicht wahr sein, wenn Menschen aus dem Mittelmeer gefischt und an die libysche Küstenwache übergeben und zurückgeschickt werden in den zerfallenen Staat.

Auf der Alan Kurdi brauchten die erschöpften Geflüchteten nicht viel zu erzählen. Die Spuren dessen, was sie erlebt hatten, so erzählt Schiller, seien an ihren Körpern noch abzulesen gewesen: ausgerissene Zehen-Nägel, gebrochene Finger, Zigaretten-Verbrennungen auf der Haut. "Die waren eigentlich nur zum Arbeiten nach Libyen gegangen, als sie dort dann vom Bürgerkrieg erfasst wurden." Viele kamen aus Bangladesh, andere aus Subsahara-Afrika und Marokko. Viele waren monatelang eingesperrt in Internierungslagern, ausgeliefert der willkürlichen Gewalt. Und nun wochenlang zusammengepfercht auf einem Schiff, mitten in der Krise der Pandemie, die sie noch unerwünschter macht als sie es ohnehin schon waren. Wie traumatisiert manche der Geflüchteten waren, möchte Schiller nicht zu konkret beschreiben, sie will die Menschen bewahren vor voyeuristischen Zugriffen, aber sie erwähnt, dass es mehrere Not-Evakuierungen nach Italien gegeben habe wegen "akuter Selbstverletzung". Die Kooperation mit der italienischen Seite sei hier wirklich gut gewesen.

Anderes ist weniger gut. Nachdem alle Geflüchteten von Bord geholt und auf Covid-19 getestet waren ("alle negativ"), nachdem die Alan Kurdi im Hafen von Palermo anlegen durfte, wurde zunächst für die Crew eine Quarantäne verhängt. Jeder Tag aber, erzählt Anna-Katharina Schiller, sei durch die Liegegebühren eine ökonomische Belastung. "Die Spendeneinnahmen für die Seenotrettung sind am versiegen", die Krise der Pandemie hat alles in den Hintergrund gestellt, das belastet die Hilfsorganisationen existentiell. Hinzu kommt, dass eigentlich eine neue Crew schon Anfang April die alte hätte ablösen sollen, aber niemand weiß, wie das bei geschlossenen Grenzen und nervös-wechselnden Hygiene- und Sicherheitsregeln überhaupt gehen soll.

Ob und wie die geretteten Menschen von der Alan Kurdi verteilt werden auf europäische Staaten, weiß noch niemand. Seit Mittwochabend nun hat sich die Lage für die Crew im Hafen von Palermo noch einmal dramatisch verändert: Nach einer Inspektion des Schiffes durch die Port State Control wurde die Alan Kurdi an die Kette gelegt. In einer achteinhalbstündigen Kontrolle sei eine Mängelliste erstellt worden, aufgrund derer das Schiff und die Personen darauf nun festgesetzt wurden.

Diese Woche ist etwas düster geraten, fürchte ich, das gefällt mir selbst nicht richtig. In all dieser Zeit gibt es immer noch das, wofür sich dankbar und demütig sein lässt, das, was einen schmunzeln oder albern lässt, das Glück dieser Suchbewegung, mit der wir uns alle im Moment diese Situation anzueignen versuchen, in der wir um neue Formen der Nähe ringen und dabei immer gleichzeitig zu viel und zu wenig sprechen, wie wir einander beistehen, ohne uns sehen zu können. Und immer wieder, in all diesen Wochen, gab es Fundstücke, Erlebnisse oder Objekte, Begegnungen oder Eindrücke, die alles aufheben, die einen herausholen aus der Schwere der Zeit. Ein solches Geschenk, das alles überschreitet, hilft, ist ein Foto, das mir der Schweizer Fotograf Daniel Schwartz vor einiger Zeit zugeschickt hat. Er tat das beiläufig, ohne viele Worte, er hängte einfach an die Zeilen, die er mir schrieb, ein Bild an, als ob er gar nicht wüsste, wie sehr seine Aufnahmen einen aus der Fassung bringen.

Daniel Schwartz gehört für mich zu den außergewöhnlichsten Fotografen der Gegenwart, weil seine Bilder sich nie aufdrängen, nie manipulativ, nie schrill oder aufgeregt daherkommen, nie wird jemand darin exotisiert, nie vorgeführt, es sind Bilder, die einem beim Betrachten Raum lassen, man kann sich in ihnen aufhalten und bewegen, und doch entwickeln sie eine ungeheure Wucht. Ganz genau verstehe ich es selbst nicht, wie er das macht, dass die Bilder gleichzeitig so leise und so erschütternd sein können. Als er mir diese Aufnahme nun schickte, musste ich richtig schlucken. Ich vermute, weil sie mich mit einem Mal aus der tiefen Unruhe herausholte, die diese Tage und Wochen der Pandemie durchzieht, weil sie mich zwang, mich zu konzentrieren, endlich einmal, all das flatterhafte hierhin oder dorthin Denken und Kommunizieren fallenzulassen, für einen ruhigen Moment, für das geduldige Schauen auf das Bild eines Fischreihers.

Wenn ich in einigen Jahren auf diese Krise zurückschaue und mir in Erinnerung rufe, was schön war, was Trost spendete, was mich aufgehellt und durch die Zeit getragen hat, dann wird dieser Fischreiher dazugehören. Dank an Daniel Schwartz, dass ich ihn auch hier, in diesem Journal, zeigen und so weiter verschenken darf. Passen Sie auf sich auf und bleiben Sie zuhaus.