Politisch-persönliche Notizen zur Corona-Krise

Woche 1: Vom Spazierengehen in Kreuzberg, von nahen und fernen Körpern - und Wörtern, deren Bedeutungen sich verschieben.



Von Carolin Emcke

„Leonce: 'Tanze, Rosetta, tanze, dass die Zeit mit dem Takt Deiner niedlichen Füße geht' - Rosetta: 'Meine Füße gingen lieber aus der Zeit‘.“
- Georg Büchner, Leonce und Lena -

Meine Füße gingen lieber aus der Zeit. Morgens beim Aufwachen schon, wenn die Luft, die durch das offene Fenster heranzieht, noch eiskalt ist und hilft, die Verwirrung über das Wachsein zu vertreiben. Was ist der Takt der Zeit? Was der richtige Rhythmus? Gehen meine Füße mit der rastlosen Zeit oder aus ihr heraus? Es wird unklarer jeden Tag, den wir in diesem Modus der Pandemie leben, denn sie hat ihre eigene Zeitlichkeit, Zeit, das ist die Währung, in der die Modelle der Virologen Hoffnung und Not quantifizieren, Zeit, die wir hier, in der Mitte Europas, nur haben, weil andere sie nicht hatten, Zeit, in der uns die Bilder aus China schon erreichten und die wir lange verstreichen ließen, als ginge uns das nichts an, ignorante Zeit, jetzt bedauerte Zeit, verlorene Zeit, Zeit, in der wir, die wir seit Jahren über die Globalisierung kritisch oder unkritisch nachdenken, so getan haben als gäbe es sie nicht, als sei eine Krankheit in China eine Krankheit in China, als stürben sie dort anders als hier, als seien es andere Körper, andere Lungen (ist es das, was wir gedacht haben? Oder haben wir gar nicht gedacht?), als gäbe es das noch: geschlossene Räume, als gäbe es sie nicht: wechselseitige Verwundbarkeit, als wäre es nicht das, was uns human macht.

Was haben wir denn gedacht? Dass wir unverwundbar seien? Jetzt rückt sie vor, die Epidemie, Region für Region, und erteilt eine Lektion in Demut.

„Tanze, Rosetta, tanze, dass die Zeit mit dem Takt Deiner niedlichen Füße geht“ - „Meine Füße gingen lieber aus der Zeit“, heute Morgen ist mir so, nach all den Tagen und Wochen der nervösen Dringlichkeit, mit der jede neue Nachricht, jede Statistik, jede Kurve, jede Grafik im allzu eiligen Rhythmus nachvollzogen wird, heute wollen die Füße aus der Zeit. Wann war das letzte Mal, dass ich morgens den ersten Tee vor den Neuinfektionsraten hatte? Wann habe ich das letzte Mal morgens erst Musik vor den Nachrichten gehört? Wann habe ich zuletzt das Langsame dem Schnellen vorgezogen? Wie wäre es, die Reihenfolge umzukehren: erst Bach zu hören, erst das Ewige in sich einziehen zu lassen, erst sich zu wappnen, und dann Krankheit und Not auf sich einprasseln zu lassen, erst dann sich diesem Tempo zu ergeben, das nicht einmal unrealistisch, nicht aufgeregt, sondern realistisch und angemessen ist.

Seit gestern Abend gilt die veränderte Kontaktbeschränkung, Spazierengehen allein oder zu zweit ist noch erlaubt, das klingt weniger existentiell als es ist, anders gesagt: es ist noch erlaubt, rauszugehen und sich zu beruhigen, sich zu besprechen, sich zu versorgen, sich zu loten, es ist noch erlaubt, auszubrechen aus der Wohnung, die schon zu eng ist, wenn die Kinder in der Schule und die Eltern bei der Arbeit sind und in der nun alle aufeinanderhocken, es gibt noch ein Draußen, es ist noch erlaubt, sich zu retten vor der Melancholie, der Einsamkeit und den Ängsten, die viele in der Isolation befallen, es ist noch erlaubt zu fliehen, vor den Schlägen, der Misshandlung, der Gewalt, die vielen in der eigenen Beziehung drohen.

Heute also ein anderer Takt. Heute keine Todeszahlen vorm Frühstück. Erst Tee, dann Bach, dann beides. Und dann ein Spaziergang. Ich bin Landkarten-Fetischistin. In meiner Wohnung stapeln sich Landkarten, antiquarische, zeitgenössische, sie sind gefaltet, befleckt, markiert, beschriftet, es gibt sie in den verschiedensten Sprachen von den Reisen durch die versehrten Gegenden der Welt, ich bin so versessen auf Landkarten, dass ich mir im Ordnungsamt von Kreuzberg, vor einigen Jahren, bei irgendeiner Pass-Erneuerung, mal eine Bezirkskarte habe schenken lassen. Das „Amt für Stadtplanung, Vermessung und Bauaufsicht“ hat Friedrichshain-Kreuzberg im Maßstab 1:12 500 kartografiert. Das ist, salopp gesagt, ein echt großer Lappen und es braucht schon eine gewisse Nerdigkeit, um damit in Zeiten digitaler Routenplaner selbstbewusst auf die Straße zu gehen. Aber ich lieb's. Gäbe es keine Kontaktbegrenzung würde ich dem „Fachbereich Vermessung“, der die Karte anscheinend hergestellt hat, gleich einen Besuch abstatten und mich bedanken. Egal. Das ist der Plan für heute: einmal um Kreuzberg herum spazieren. Für eine Ausgangsbeschränkung ein recht umfangreicher Spaziergang, fällt mir auf, aber ich könnte es, trotz Spaziertempo, auch einfach als Sport ausgeben.

Das war ein strahlender Tag. Durch die Straßen Kreuzbergs zu stromern, ohne Absicht, ohne Termin, nur zu spazieren, ohne einzukaufen, fühlt sich seltsam prekär an, als fehlte eine offiziell akzeptable Intention, nicht illegal, aber fast unanständig übermütig. Nur die Hundebesitzer wirken selbstbewusst, weil sie ihren Passierschein praktisch-sichtbar an der Leine führen. Es ist eiskalt und die Unterbrechung des Takts der Nachrichten ist wohltuend, auch wenn jeder Straßenzug schmerzt, jedes geschlossene Geschäft wie ein vorauseilender Abschied: Wird dieser Laden, dieses Kino, diese Shisha-Bar jemals wieder öffnen können, wer wird diese Zeit überstehen, wessen Existenz wird vernichtet werden? Die Baklava liegen immer noch in den Schaufenstern, aber jetzt „nur to go“; die Leihhäuser sind geöffnet, als ich vor einem stehen bleibe, kommt sofort der Besitzer und will mich einlassen, ich frage mich, ob in den offiziellen Anordnungen Leihhäuser überhaupt gelistet wurden, aber ich hoffe, dass sie zur Kategorie „Bank“ zählen. Vielleicht hätte sich früher geschämt, wer hier eintreten muss, vielleicht ist wenigstens das jetzt „normaler“.

Unheimlich wird es bei der Topographie des Terrors, alles still, am Checkpoint Charlie, an dem sonst das idiotische Reenactment durch Soldat spielende Schausteller stattfindet, an dieser Stelle, an der sich sonst hundertfach sinnentleerte Selfie-Sucht tummelt - kein Mensch nirgends. Die Grenze von Kreuzberg verläuft für eine Weile parallel zur früheren Berliner Mauer, im Boden ist eine Linie, der es sich folgen lässt ... und während ich an der unsichtbaren Mauer entlanglaufe, frage ich mich, in welchen Bildern, welchen Formen wird einmal dieser Pandemie gedacht? Wie werden wir uns erinnern, woran werden wir uns erinnern wollen, was werden wir leugnen, das es gegeben haben wird, welche Bilder werden zu Ikonen, wessen Erfahrungen werden gewürdigt, wessen nicht, welche Geschichten werden wir erzählen als wären sie wahr?

Bevor auch meine Geschichte im Nachhinein sich verfälscht, möchte ich festhalten: Ich habe abgekürzt. Die ganze Strecke um Kreuzberg herum war doch zu lang. Aber ich verspreche: Wenn diese Krise vorbei ist, wenn ich heil daraus hervorgehe, werde ich es noch einmal versuchen. 

Abends beim „Scrabble“ versucht meine Freundin das Wort „Axtmord“ zu bilden, nun ja, ein bisschen früh im Verlauf der häuslichen Rückzugsphase, wie mir scheint, aber wer weiß, was noch kommt - und so winke ich allerlei nicht ganz dudensichere Begriffe großzügig durch.

„La tierra vive ahora/ tranquilizando su interrogatorio,/ extendida la piel de su silencio“

Die Erde lebt leiser nun,/ gelinder ist ihr Verhör,/ ausgebreitet das Fell ihres Schweigens“

- Pablo Neruda -

Das schrieb Neruda über den „Garten im Winter“. Es fällt mir ein, in dieser Stille, die sich ausgebreitet hat in Berlin. Die Stille ist unwirklich, nicht, weil sie ungewohnt wäre, sondern weil sie den Lärm, der folgen wird, in sich trägt. Es ist wie bei einem Tsunami: Man steht noch mit festem Boden unter den Füßen am Strand und sieht, wie sich das Meer zurückzieht - und weiß: Das Wasser wird in einer sehr, sehr langen Welle heranrauschen. Welche Kraft sie hat, was sie verwüsten kann, was uns (womöglich) erwartet, sehen wir in Bergamo, in Madrid, diese Zeitverzögerung, in der wir vorausschauen können, was in ähnlicher Weise auch hier geschehen wird, oder was, wenn es nicht geschehen sollte, dann auch deshalb nicht, weil wir weniger unwissend, weniger ahnungslos gewesen sein werden. Die Gnade der späten Ausbreitung, so widerwärtig und zynisch das klingt, ist leider wahr: Je später eine Region getroffen wird, je mehr Erfahrungswissen mit der Krankheit woanders schon gesammelt und weitergegeben wurden, je mehr sich aus gelungenen oder misslungenen Versuchen der Eindämmung der Infektionen an anderen Orten lernen lässt, desto besser (die USA werden vermutlich das selbstverschuldete Gegenbeispiel sein). Das gleicht nicht die sonstigen sozialen, ökonomischen, topografischen Unterschiede aus. Das hilft nicht in „späten Gegenden“, wenn sie strukturell arm und vernachlässigt oder dicht besiedelt sind. Für Megastädte wie Lagos oder Dhaka, Karatschi oder Mexiko-Stadt wird auch der zeitliche Vorsprung kaum ausreichen.

Wir alle haben unterschiedliche Orte, mit denen wir uns besonders verbunden fühlen, der Wald, in dem wir als Kind verschwunden sind, der Fluss, an dem wir uns mit jedem vorbeifahrenden Frachter weggeträumt haben, aber es gibt auch jene Gegenden, die uns als Erwachsene besonders geprägt haben, an denen wir hängen, in denen sich etwas der eigenen Lebensgeschichte besonders verdichtet, die wir mit Glück oder mit Begehren assoziieren oder mit besonderen Menschen, und so denken viele von uns, in dieser globalen Krise, auch an diese nahen-fernen Orte, an die Angehörigen dort, die eigene Community, die Freund*innen. Die erste Stadt, in der ich gelebt habe, nachdem ich zu Hause ausgezogen bin, die Stadt, mit der ich Freiheit verbinde, Aufbruch, die erste Stadt, in der ich eine Ahnung entwickeln konnte, wie mein Leben aussehen könnte, war Madrid. Vielleicht ist das der Grund, warum ich die Bilder aus Madrid nicht ertrage. Vielleicht auch, weil ich nicht verstehe, warum Hilfe für italienische und französische Patienten möglich ist, aber nicht für spanische? Nicht für griechische? Nicht für rumänische?

Wo ist Europa? Fällt uns im ersten Moment wirklich nichts Besseres ein als die nationalstaatliche Regression? Meine Körper, deine Körper? Meine Toten, deine Toten? Ist das die neue Formel? Wie in der Finanzkrise 2008/2009, meine Schulden, deine Schulden? Die Schulden, die wir jetzt auf uns laden, werden aus anderem Material sein. In den vergangenen Tagen werden französische und italienische Patienten in unterschiedliche Bundesländer geflogen und hier intensivmedizinisch gepflegt - das ist richtig, das ist genau das, was es braucht. Aber das ist zu wenig. Da verrecken Menschen, da können Kliniken in der Lombardei und im Elsass und in Katalonien die Not nicht mehr lindern, da werden die Leichen nur noch abtransportiert und zu Gräbern verbracht, ohne Angehörige, ohne Freund*innen, ohne Abschied. Wo ist Europa? Da harren in Griechenland auf den Inseln Geflüchtete aus, unter inakzeptablen Bedingungen, da wird das Wasser im Lager von Moria knapp, und während Tausende gestrandete Urlauber in einer beispiellosen Aktion vom Auswärtigen Amt zurückgeflogen werden (Dank an alle, die das leisten in den Krisenzentren da im AA), da soll es nicht möglich sein, mindestens die unbegleiteten Kinder herauszuholen? Der Fokus auf Kinder hat sich etabliert, als ob es das brauchte, um Mitgefühl zu aktivieren. Als ob nicht nur Masken eine knappe Ressource wären, als ob das Reservoir für Empathie erschöpft und nur noch für unterernährte, frierende Kinder angezapft werden könnte. Mir sind in allen Lagern, in denen ich je war, vor allem die Männer aufgefallen, die apathisch, niedergeschlagen dort hockten und mit der eigenen Ohnmacht am wenigsten zurechtzukommen schienen. Aber das spricht schon gar niemand mehr aus: dass es alle Menschen dort herauszuholen gilt. Es traut sich schon niemand mehr, das Selbstverständliche zu fordern, wir haben die Erwartungen an das Asylrecht so heruntergeschraubt, die Erwartungen an europäische und internationalen Garantien, an das, was früher einmal ein Rechtsanspruch war und seit Langem nur noch als Simulation von Asylrecht besteht, wir haben die Erwartungen an uns selbst, wer wir sein wollen und können, so heruntergeschraubt, dass wir nicht einmal mehr spüren, wie wir versagen.

Es sollte gar niemand unter solchen Bedingungen leben. Niemand in Europa wird sagen können: Dies sei unbemerkt geschehen, man habe es nicht gewusst, man habe es sich nicht vorstellen können. 

Abends gibt es eine Skype-Schaltung nach Jerusalem, damit mir beim Kochen von „Mujadara“ meine palästinensische Freundin Salwa über die Schulter schauen kann. Erst hatte ich eine Einkaufsliste diktiert bekommen, nun wurde via Skype strengstens jede Handbewegung kontrolliert, korrigiert, gemaßregelt ... ab und an auch gelobt. Spärlich. „Mujadara“, hatte Salwa mir vorab erklärt, sei ein sehr, sehr, sehr einfaches Gericht, das würde niemand wirklich „für Gäste“ kochen, Gäste, so hieß das implizit, bräuchten Fleisch, aber uns zuliebe gab es nun also ein Linsen-Reis-Gericht mit Joghurt und Salat ... am Ende dann doch noch ein glücklicher Tag.

„Wenn er nicht sprach, hatte er keine Geschichte und keine Sprache, war wie ein Obdachloser ohne Heimat“

- Olga Tokarczuk, Jakobsbücher -

Es läuft die Übertragung der Debatte aus dem Bundestag. Die Sitzordnung ist geändert: Zwei freie Plätze zwischen den Abgeordneten machen es angenehm ruhig und verhindern das Kumpelhafte, das mich sonst oft irritiert, wenn niemand zuhört und in Privatgespräche abtaucht. Jetzt sitzen alle zwar in ihren Fraktionen, aber etwas auf sich allein gestellt. In den Talkshows haben die größeren Abstände wiederum zu gar nichts geführt außer zu größeren Abständen. Die Möglichkeit, so eine Krise auch zur kritischen Selbstbefragung zu nutzen, sich zu überlegen, welche Form von Gespräch es bräuchte, um zur Abwechslung auch mal so etwas wie Erkenntnis zu generieren, welche Form der Ansprache für bestimmte Gäste, welche Dramaturgie es braucht, damit die Verbindungen zwischen medizinischen, sozialen, psychologischen Fragen als Verbindungen auch sichtbar werden, was es bedeutet, wenn eine Epidemie noch nicht ganz entschlüsselt, nicht ganz verstanden ist, wenn mit Modellen gearbeitet wird, die erst nach und nach mit größeren, präziseren Datenmengen gefüttert werden können ... über all das hätte nachgedacht werden können.

Womöglich hätte das dazu geführt, eine Sendung auch einfach mal nur mit einem oder zwei Gästen zu machen, und ihnen den Raum zu geben, den sie brauchen, um die komplexe Analyse nicht zu verstümmeln, um Ambivalenzen nicht zu verschlichten, um nicht in Pseudo-Eindeutigkeiten genötigt zu werden. Es ist auch ein epistemologischer Stresstest für die Gesellschaft: Es können immer nur Gründe angeboten werden, das Wissen ist vorläufig, es müssen Praktiken eingeübt, politische Entscheidungen getroffen werden, die eben nicht alternativlos sind, die auf Annahmen über einen Krankheitserreger beruhen, die womöglich noch erweitert, verändert, korrigiert werden müssen. Das ist es, was Prof. Drosten mit gezügelter Ungeduld zum wiederholten Mal zu erklären versucht: Es ist ein dynamischer Lernprozess. Wir werden später wissen, wie wir uns geirrt haben.

Ein Journal wie dieses wird auch ein Journal der Fehleinschätzungen sein, der falschen Töne und Begriffe, das wird sich erst nachträglich zeigen, es kann nur die sich verändernde Zeit und mein Nachdenken darin bezeugen. Das Schreiben hilft. Ohne Sprache, ohne das Schreiben fühle ich mich wie ein Obdachloser ohne Heimat. Als die Theater schlossen, als ich jeden Tag im Kalender eine Lesung, einen Vortrag, eine Reise ausradieren musste, als uns allen, die wir im öffentlichen Raum denken, sprechen, spielen, musizieren, auftreten, die Grundlage unserer Arbeit entzogen wurde, da brach blankes Entsetzen aus. Wer würde das finanziell überleben? Wer jetzt nicht durch öffentliche Gelder stabilisiert ist, wer individuell oder als Institution abhängig ist von einem zahlenden Publikum, von Menschen, die eine Eintrittskarte bezahlen oder ein Buch kaufen oder die ein Digital-Abo abschließen, dem geht bald die Luft aus. Auch mir fehlen nicht nur die Einnahmen, sondern das Gespräch, die Lesung, das Auftreten im Theater, in einem Club, an einem öffentlichen Ort. Mir fehlt es, Menschen in einem Raum zu begegnen, ihre Körperlichkeit zu spüren, ihre Reaktionen hören und aufnehmen zu können.

Im Netz überschlagen sich kreative und nicht so kreative Formate, manche von uns fürchten nicht nur um die ökonomische Existenz, sondern auch um unsere gesellschaftliche: Wenn wir jetzt nicht nachweisen, was wir können, wenn wir jetzt nicht begründen, warum es uns, die wir Geschichten erzählen, fiktive oder nichtfiktive, die wir die Wirklichkeit verwandeln oder beschreiben, die wir Trost spenden oder Wissen vermitteln, die wir Wörter oder Konzepte wiegen und für zu leicht befinden, die wir Lügen entlarven, Missverständnisse analysieren, demokratische Rechte und Räume verteidigen, wenn wir jetzt nicht zeigen, warum es auch uns braucht, dann werden wir nicht überleben... manche treibt der Gemeinsinn, manche wollen sich engagieren, wollen weiter ihre Kreativität, ihre Kraft einsetzen für andere... manche produzieren gegen die eigenen horror vacui an, eine riesige Angstvertreibungs-Kommunikationsmaschine. Das ist so verständlich wie berührend - und so verausgaben wir uns alle, wo es nur geht. Aber wahr ist leider auch, dass wir womöglich langfristig so die Erwartung erzeugen, alles umsonst anbieten zu können, dass wir im Versuch, den eigenen Wert zu begründen, uns gleichsam wertlos machen.

Im Bundestag wird nun der Fetisch Schuldenbremse kassiert. Vielleicht funktioniert die „Schock-Therapie“, der Wiederaufbau nach Krisen und Kriegen, auch nicht nur (in Naomi Kleins bitterer Analyse) als perfide Strategie, neoliberale Strukturen zu etablieren, wenn Gesellschaften oder Staaten zu wehrlos und zerstört sind, um aus eigenen Mitteln das aufzubauen, was es bräuchte: eine soziale Infrastruktur, die die Teilhabe aller ermöglicht. Vielleicht bietet diese furchtbare Krise eine umgekehrte „Schock-Therapie“, in dem sie die Privatisierung und Ökonomisierung von allen Lebensbereichen endlich in Frage stellt. Vielleicht ist diese Krise wie ein Kontrastmittel, das sichtbar macht, was in unseren Gesellschaften fehlt, was wir fahrlässig geschwächt haben, welche Ungleichheiten toleriert, wem Anerkennung verweigert wurde und wem angemessener Lohn. Der Applaus dieser Tage für die vielen Berufsgruppen wird von einer symbolischen Geste zu substanzieller, materieller Wertschätzung führen müssen.

Trotzdem bleibt es ein unwirklicher Moment, zu sehen, wie da abgeräumt wird, was lange als unantastbar galt. Aber das ist immer noch nur eine nationale Reaktion. Es wird eine europäische Antwort brauchen, die die Asymmetrien, die 2008/2009 geschaffen hat, nicht reproduziert. Die südlichen Länder erneut alleinzulassen mit ihrer Not, wäre unverzeihlich. Es wäre vermutlich auch das Ende Europas.

„Risikogruppe“

„systemrelevant“

„Vorerkrankung“

„gesund“

„krank“

„positiv“

Worte mit Bedeutungsverschiebungen. Worte, die auf einmal stigmatisieren, Worte, die auf einmal nicht mehr stigmatisieren, Worte, die alte Erfahrungen aufrufen, alte Wunden, Worte, die ihre Präzision verlieren, Worte, die aufgeladen werden, die belasten, Worte zum Sammeln.

Ich weiß nicht, ob man zu einer „Risikogruppe“ gehören muss, um sich unwohl zu fühlen, ob man homosexuell sein und die Geschichte des Aids-Aktivismus kennen muss, um die Veränderung der sozialen Bedeutung von „positiv“ zu registrieren. Auf einmal erzeugt es Mitleid. Ein Wörterbuch in Zeiten der Epidemie.

„Biopolitik“…

Erstmals abends keine internationalen Nachrichten mehr. Es reicht gerade noch für alberne Videos. Ellen DeGeneres baut Lego. Australischer Tierpfleger tanzt vor der Kamera im Zoo. Nachts ist es auf einmal ganz still: die lärmenden, feiernden Airbnb-Touris im Hof fehlen, oder: fehlen nicht.

„Nachdem der anästhesierende Einfluss der Gewohnheit aufgehört hatte, begann ich zu denken, zu fühlen - beides traurige Dinge.“

- Marcel Proust, In Swanns Welt -

In diesen Zeiten, in denen alte Praktiken und Gewohnheiten ab- und neue antrainiert werden sollen, in denen auch die Gesten und Codes, in denen wir Zuneigung ausdrücken, umcodiert werden müssen, entweicht die Trauer. Das hat auch etwas Gutes, dass wir hinspüren können, was unterhalb der Disziplin, jenseits der Routine, abseits der Konvention denkbar wäre. Das ist keine Aufforderung zur Pseudo-Dissidenz gegen gut begründete, nachvollziehbare, zeitlich begrenzte Einschränkungen. Aber jeden Tag an sich zu erleben, was geschieht, wenn etwas Ritualisiertes auf einmal nicht mehr gedankenlos ablaufen kann, wenn wir andere Lebensformen, andere Techniken uns aneignen müssen, das löst Verunsicherung aus, aber eröffnet auch (da ist Proust zu melancholisch) Räume.

Vor allem gibt es auch Praktiken und Gewohnheiten, es gibt auch Erfahrungen, die besonders belastbar, besonders hilfreich sind. „One who has lived with death and disease as close companions may be be less undone by their reappearance“, schreibt die amerikanische Autorin Ingrid Norton in einem klugen Text für das Point Magazine, das ein „Quarantine Journal - Notes from Inside“ veröffentlicht. „Wer mit Tod und Krankheit als engen Gefährten gelebt hat, wird vielleicht weniger angefochten durch ihre Wiederkehr.“ Wer schon von Kindheit an gelernt hat, Krankheit und Gesundheit als etwas Unverfügbares zu denken, wer geübt darin wurde, auf jemand anderen in der Familie, auf ein Gebrechen, auf eine Behinderung, auf Schmerzen Rücksicht zu nehmen, dem fällt es womöglich leichter, dies auch in größerem Kontext zu tun.

Was Norton nicht schreibt: Für manche, die mit Tod und Abschied in nichtdemokratischen Kontexten bittere Erfahrungen gemacht haben, für manche, die in Gegenden gelebt haben, in denen Ausgangssperren mit der brutalen Gewalt einer Junta oder eines Polizeistaats durchgesetzt wurden, in denen die Beschränkungen nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen galten und nicht für alle, für manche, die das prekäre, verletzbare Leben erleben mussten in einem Coup, einem Krieg, einer Naturkatastrophe, für sie alle kann die Wiederkehr mancher Szenen auch retraumatisierend sein.

In Zeiten der Not werden, mehr oder weniger bewusst, Routinen oder Objekte aus der Kindheit wieder angespült wie Treibgut. Wir nehmen sie auf und wahr, weil sie Halt geben oder Trost spenden. Ob nur als magisches Denken oder auch mit praktischem Nutzen, das spielt fast keine Rolle. Bei uns lässt sich die Kindheit, die wieder präsent ist, riechen: lavandina oder Chlorbleiche, damit verbindet sich für meine Freundin beides: die Erinnerung an Argentinien, das Glück des vertrauten Geruchs, aber auch schlicht der mehr oder minder sinnvolle Putzrausch. Ich vermute zwar, das Zeugs ist nah an einem chemischen Kampfstoff und sollte irgendeiner Waffenexportbeschränkung unterliegen, aber auch mich versöhnt und beruhigt die Assoziation.

In meiner Patientenverfügung sind alle möglichen Eventualitäten bedacht, mögliche Unmöglichkeiten, es ist bedacht, unter welchen Umständen ich, oder das, was dann noch ich genannt werden muss, am Leben erhalten werden möchte, wer an meiner statt für mich entscheiden soll. Wie das so üblich ist, vermute ich. Aber immer wird dabei mein (Über-)Leben zu meiner körperlichen oder geistigen Verfassung ins Verhältnis gesetzt, oder: meine Vorstellung des Lebens zu der realen Möglichkeit, ein solches Leben zu leben, ins Verhältnis gesetzt.

Aber die Möglichkeit, dass mein Leben ins Verhältnis zu dem Leben einer anderen Person gesetzt werden muss, die war nicht bedacht.

In den vergangenen Tagen ist diese Überlegung durch die dramatischen Zustände in den mit Covid-19-Fällen überforderten Kliniken in Italien nicht mehr abstrakt, sondern konkret geworden. Das, was aus Krisengebieten bekannt ist, das Prinzip der Triage, es muss in diesen Tagen für diese Epidemie in Europa ausdifferenziert und vermittelt werden. Nicht allein, damit wir als Gesellschaft, als potenzielle Patientinnen und Patienten verstehen, nach welchen Kriterien in der Not knapper Ressourcen womöglich Menschen priorisiert werden, sondern vor allem um all denen, die in der Notfall- und Intensivmedizin arbeiten, eine Richtschnur zu geben, die ihnen die furchtbaren Entscheidungen zwar nicht abnimmt, aber ihnen Orientierung durch Kriterien oder Verfahren nahelegt. Ich beneide niemanden, dem oder der diese Last auferlegt wird. Alle in meinem Freundeskreis, die in unterschiedlichen Funktionen, in unterschiedlichen Praxen oder Kliniken arbeiten, erlebe ich schon seit Wochen als beeindruckend nachdenklich und sorgsam, als ob das selbstverständlich wäre, was sie tun, was sie für uns tun.

Nun gibt es dazu ein wichtiges Dokument, das sieben deutsche Fachgesellschaften miteinander verabschiedet haben: „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin im Kontext der Covid-19-Pandemie. Klinisch-ethische Empfehlungen“ - und auch wenn alles dafür getan wird, dass es genügend Kapazitäten in den Kliniken gibt, auch wenn alles dafür getan wird, dass nicht zu viele Menschen gleichzeitig intensivmedizinisch betreut werden müssen, auch wenn alle hoffen, dass der zeitliche Vorsprung und die Ausstattung dem erwarteten Ansturm standhalten - es braucht das Nachdenken in diesen Szenarien. Auch das heißt Fürsorge: dafür zu sorgen, dass die Medizinerinnen und Mediziner nicht alleingelassen werden mit emotional und moralisch unerträglichen Entscheidungen.

Aber was bedeutet das für mich als Patientin? Wie muss ich über mich als mögliche Patientin unter diesen Bedingungen nachdenken? Wenn auch mein Leben berechnet wird, wenn die Wahrscheinlichkeit des Überlebens gegen die Wahrscheinlichkeit des Überlebens eines anderen kalkuliert wird? Darüber steht nichts in meinen Verfügungen.

Die Empfehlungen der italienischen Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimations- und Intensivmedizin (SIAARTI) enthalten, wie jetzt zu lesen war, eine gespenstische Kalkulation: Dort wird nicht allein die Frage gestellt, wessen Leben mit größerer Wahrscheinlichkeit zu retten ist, sondern (in einem zweiten Schritt) wie viele Lebensjahre potenziell zu retten wären.

Wenn nicht mehr alle Leben gleich viel zählten, wenn es nicht mehr ein Recht auf Leben gäbe, sondern wenn potenziell mehr zu rettende Lebensjahre gegen potenziell weniger zu rettende Lebensjahre kalkuliert würden, was heißt das? Die Professorin für praktische Philosophie, Weyma Lübbe, von der Universität Regensburg, hat über die Folgen dieser Verschiebung, die sich in den italienischen Empfehlungen finden, einen bemerkenswerten Text im „Verfassungsblog“ geschrieben.

Das eine ist, diese medizinethischen Fragen institutionell zu stellen, also Kriterien für die Kliniken zu entwickeln, und sie als Gesellschaft zu erörtern. Das andere ist aber, ob ich mir diese Frage auch selbst stellen kann, ob es zumutbar ist, dahinzudenken: dass mein Überleben auf einmal jemand anderem das - vielleicht weniger wahrscheinliche, aber doch mögliche - Überleben kosten kann.

Beim Nachdenken über den Tod, den eigenen und den anderer, sind die Lebensjahre meist weniger bedeutsam, als solche Szenarien nahelegen. War oder ist es ein gutes gelebtes Leben, was war nicht genug, was war zu viel, wie viel Schuld gäbe es noch abzutragen, wieviel Dankbarkeit noch zu vermitteln, habe ich ausreichend geliebt, geholfen, gefochten?

Was schreibe ich also hinein in so einen Patientenwillen: Es war gut bis hierher, alles Weitere wäre ein Nachschlag?

Wieder so ein strahlend klarer Tag. Bald wird es wärmer. Der Magnolienbaum im Hof steht schon in voller Blüte. In der Nacht kam die Einladung zu einer „Online-Demonstration“, am Sonntag, zwischen 16 und 18 Uhr soll unter dem Slogan „LeaveNoOneBehind“ für Solidarität mit den Menschen in den griechischen Lagern demonstriert werden. Nicht auf der Straße, sondern auf einer „virtuellen Route“. Der Verein Seebrücke e. V. hat dazu aufgerufen. Es geht um die dringend notwendige Evakuierung der Lager, denen der humanitäre Zusammenbruch droht und die Aufnahme der verzweifelten Menschen. Wer sich beteiligen will, so steht es in dem Rundschreiben, kann „Schilder und Banner basteln“ und Fotos davon an die Organisatoren schicken: online-event@seebruecke.org.

Ich freue mich auf das Wochenende, auch wenn diese Wochen ihre Struktur schon längst verloren haben. Ich werde versuchen, innezuhalten, werde etwas lesen, was nicht instrumentell zum Verstehen dieser Krise ist, werde Musik hören, vielleicht besonders die von Menschen, mit denen ich befreundet bin, die jetzt nicht auftreten können, Igor Levit spielt jeden Abend seine Hauskonzerte, der Glückliche und Beglückende, aber für andere, die ein Orchester oder ein kammermusikalisches Ensemble brauchen, ist das schwerer, vielleicht spiele ich auch etwas Tanzbares, von DJanes wie Ipek, die nicht auflegen können, oder schaue eine der klassischen Inszenierungen der Schaubühne, die nun im Netz Abend für Abend zu sehen sind.

Vielleicht wäre das eine gute Form, dieses Journal ins Wochenende zu leiten: Indem ich ein Buch empfehle, eine musikalische Aufnahme, etwas, das den Rhythmus dieser Tage unterbricht, etwas, das einen Horizont aufzeigt, das nicht ablenkt, das nicht beschönigt, das nicht einlullt, sondern trifft und überzeugt, durch analytische Präzision oder poetische Dichte, durch klugen Witz oder überbordende Phantasie, durch ungezügelte Spielfreude oder was immer uns berühren mag in diesen ungewöhnlichen Zeiten.

Hier also eine Empfehlung: „Inniger Schiffbruch“ von Frank Witzel, der neue Roman von einem meiner liebsten Autoren, das flirrende, bezaubernde, rätselhafte Nachdenken über die eigenen Eltern. Anhand von Traumfetzen, eigenen instabilen Erinnerungen, aber vor allem anhand von Briefen und Fotos aus dem Nachlass der Eltern erzählt Frank Witzel nicht nur von einer Kindheit, sondern auch der historischen, ideologischen, psychologischen Zeit, die sie geprägt hat. Nach Annie Ernaux' „Die Jahre“ und Maria Stepanovas „Nach dem Gedächtnis“ das klügste und zarteste Buch über die Bedingungen der Möglichkeit, die eigene Kindheit, die eigene Familiengeschichte, überhaupt individuelle und kollektive Geschichte zu erzählen. Frank Witzel versteht es wie niemand sonst, den Grad des Nichtwissens, Nichtverstehens auszuhalten, nichts deuten zu wollen, das sich nicht erschließt, die Lücken und Widersprüche gelten zu lassen, das ist mitunter hinreißend komisch, dann wieder bitter traurig - und es ist eine grandiose Lektüre. Und, weil es Musik ist, die für mich mit Erinnerungen verkoppelt ist, und sie mich immer noch zum Lachen bringt vor schierer Freude an der Improvisationslust der Musiker: „Friday Night in San Francisco“, die Aufnahme des Live-Konzerts von Al Di Meola, John McLaughlin und Paco de Lucía aus dem Warfield Theatre in San Francisco am 5. Dezember 1980. Und das Improvisieren müssen wir alle wieder etwas üben, einzeln und miteinander. Passen Sie aufeinander auf und bleiben Sie zu Hause!