Politisch-persönliche Notizen zur Corona-Krise

Woche 9: Vom Ende des sprachlichen Mitgefühls, vom Anfang einer großartigen Idee für Europa – und von einer erstaunlich bösen Querflöte.


Von Carolin Emcke

„We entered silence
before the clock struck“

- Audre Lourde, Suspencion -

Nun schreibe ich in der neunten Woche an diesem Journal. Als ich begann, wusste ich nicht, wie viele Menschen in meinem Umfeld erkranken würden, ob Covid-19 womöglich ein Phänomen bliebe, das sich mehr oder weniger distanziert analysieren ließe. Mittlerweile sind zwei Väter von Freundinnen und die Tante eines Freundes gestorben daran, der Vater einer anderen Freundin liegt seit sieben Wochen auf der Intensivstation und wird gerade vom Beatmungsgerät entwöhnt, in meinem Freundeskreis gibt es noch ein inzwischen genesenes Elternpaar und fast ein Dutzend gleichaltrige oder jüngere Freund*innen, die es sehr heftig oder weniger heftig erwischt hat - aber die die Krankheit überstanden haben. Damit das kontextualisierbar ist: Bis auf die Tante, die in Beirut, im Libanon, gestorben ist, und den Vater, der auf der Intensivstation in Antakya, in der Türkei, liegt, waren und sind alle anderen hier in Deutschland. Als ich an dem Journal zu schreiben begann, habe ich versucht, türkische Wörter zu lernen und sie täglich in mein Notizbuch geschrieben. Dass ich einmal Namen notieren könnte von Infizierten oder Toten, wollte ich mir nicht vorstellen. "üzgün", traurig.

Wenn über Covid-19 gesprochen wird und man erwähnt, Menschen zu kennen, geliebte, feine, gute Menschen, die daran gestorben sind, dann kommt mitunter reflexhaft: "Aber die war schon alt, oder?" oder "Aber der war schon krank, oder?"- Wie bitte? Ich bin nie schnell genug, um darauf zu antworten. Ich stehe staunend vor dem, was eine solche Frage alles impliziert. Vermutlich wirkt mein blödsinniges Schweigen, als wäre ich einverstanden mit dieser Art über Menschen zu reden, als scherten auch mich die Tode von Menschen nicht mehr. Es ist dieselbe Lähmung, die homophobe Kommentare oder rassistische Witze in mir auslösen. Nie gelingt es mir, in der Situation sofort zu widersprechen. Ich hinke immer hinterher. Nie fällt mir etwas ein, das witzig genug wäre (witzig muss es sein, sonst klänge man ja "humorlos", was Intellektuellen, noch dazu Frauen, ohnehin stereotyp so angedichtet wird wie Juden das "gierig"). Oder lässig genug (lässig muss es sein, sonst klänge man ja "betroffen"). Witzig und lässig. Das wär's. Aber schnell, nicht langsam. Maren Kroymann oder Margarete Stokowski können das bestimmt. Die haben bestimmt immer eine Antwort parat. Zack. Ich dagegen denke: "Sieben Fehler sind in diesem Bild", und während ich mich noch frage, mit welchem Irrtum als erstes aufzuräumen wäre, ist die Situation auch schon verschleppt. Schriftlich bin ich schneller. Vielleicht weil ich dann sicher bin, mich nicht verhört zu haben, vielleicht weil mir dann die anerzogene Höflichkeit nicht in die Quere kommt. Aber man kann ja schlecht mitten im Gespräch sagen: "Könnten Sie den Satz bitte nochmal per sms wiederholen?"

Was also soll das heißen: "Aber die waren schon alt"? Da sind Menschen gestorben, ob nun mit 60 oder mit 70 oder mit 80, und sie wären ohne Covid-19 nicht gestorben, nicht jetzt, vielleicht wären noch sechs Wochen, vielleicht noch sechs Monate, vielleicht noch sechs Jahre geblieben, Zeit, die hätte gelebt und geteilt werden können, Zeit, die hätte glückliche, versöhnliche oder auch nur klärende Momente bergen können. Selbst wenn sie am selben Tag an etwas anderem gestorben wären, wäre der Abschied ein anderer gewesen. Es wäre überhaupt ein Abschied möglich gewesen.

Was soll das heißen: "Aber die waren schon alt"? Dass es hier nichts zu trauern gibt? Dass einen diese Abschiede ohne Abschied nicht verfolgen? Dass einen die Bilder, die man nicht gesehen hat, weil man nicht dabei sein durfte, nicht nachts heimsuchen? Dass es einem nicht das Herz bricht, sich jemanden allein vorzustellen? Dass ein älterer Mensch, der einen das ganze Leben begleitet hat, einem nicht entsetzlich fehlt? Dass nur junge Menschen schmerzlich weggerissen werden können? Dass in Zeiten der Pandemie die Toten hierarchisiert und verrechnet werden müssen? Bei Jüngeren lohnt es, den Tod zu beklagen, bei Älteren gehören die Verluste eingepreist und abgeschrieben? Meine Güte, was stimmt mit denen nicht, die so fragen?

Früher, vor wenigen Wochen und Monaten noch, hätte es gereicht zu sagen: Ein Mensch ist allein und ohne Familie in einer Klinik gestorben, und die normale Antwort des Gegenübers wäre irgendeine Form der Anteilnahme gewesen, die Bereitschaft mitzufühlen, hin zu der Trauer um einen Menschen. "Başın sağolsun", mein Beileid, wäre das Minimum gewesen. "Yıldızlar yoldaşı olsun", "Mögen die Sterne seine Wegbegleiter sein". Es wäre selbstverständlich gewesen, sich nach dem Leben zu erkundigen, das da zu Ende ging, nach dem Glück darin, den Beziehungen oder Aufgaben, die übrig blieben. Es wäre normal gewesen, etwas Tröstliches zu sagen. "ışıklar içinde uyusun", "Möge er bei Licht schlafen". Vielleicht hat das Türkische einfach berührendere Worte der Trauer. Früher, vor wenigen Wochen und Monaten noch, hätte es gereicht zu sagen: Ein Freund ist schwer erkrankt, und die normale Antwort wäre irgendeine Form des Mitgefühls gewesen, "Wie geht es ihm?", "Wie schlimm ist es?", irgendetwas in der Art wäre selbstverständlich gewesen.

Jetzt sind gerade mal ein paar Wochen Pandemie und es ist nichts mehr übrig als: "Aber die war schon alt, oder?, als ob die Sprache des Mitgefühls verendet wäre, als ob es nur darum ginge, sich selbst zu beruhigen, als ob das Alter der Toten eine Variable in einer narzisstischen Formel wäre: Sind die Toten älter oder vorerkrankt, ist die Gefahr für das eigene (jüngere) Leben geringer. Was stimmt mit denen nicht, die das Leid anderer allein danach taxieren, ob sich daraus eigenes Leid ergibt, als ob es als Leid anderer keinerlei, wirklich keinerlei Rolle mehr spielte? Man fragt sich, wie diese Menschen erst emotional verkrüppeln, wenn so eine Krise mal Jahre anhält, wenn es mal wirklich ans Eingemachte ginge.     

Überall in der Stadt stehen nackte Litfaß-Säulen und künden von nichts. Kein Konzert, kein Film-Start, keine Ausstellung, für die sich werben ließe. Die traurigen Plakate, die wochenlang noch etwas anpriesen, das schon längst abgesagt war, sind überklebt. Aber die weißen Flächen haben nun denselben Effekt, sie zeigen, was verloren ist.    

„Was strukturpolitisch falsch ist, kann konjunkturpolitisch nicht richtig sein.“

- Ottmar Edenhofer -

Endlich. Endlich ein Horizont für Europa. Endlich in all dem Elend und der Angst der Pandemie eine großartige Nachricht. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich in jüngerer Zeit über ein politisches Ereignis, einen Vorschlag, eine Perspektive derart gefreut habe. Endlich gibt es transnationale Initiative von Merkel und Macron, die nicht nur kurzfristig, nicht nur provinziell, sondern langfristig und eben europäisch denkt. All die Jahre wurde gefordert und postwendend abgelehnt, all die Jahre wurde um das Tabu der gemeinsamen Schuldenaufnahme in Europa gerungen - und nichts geschah. Irgendwann schien es nicht mehr um Argumente, sondern nur noch das Festhalten an einer einmal eingenommenen Position zu gehen, irgendwann wurde nicht einmal mehr geprüft, ob sich Zustimmung in der Bevölkerung oder Mehrheiten in den Parlamenten finden ließe, irgendwann galt als ausgemacht, dass kein Land die eigene Bonität an den Finanzmärkten zum Wohle anderer einsetzen wollen könnte, irgendwann galt als sicher, dass Europa nur noch stagnieren oder auseinanderdriften, aber nicht mehr enger integriert und tiefer demokratisiert werden könnte. Irgendwann wurde mehr in den nationalen Öffentlichkeiten mit müden Ressentiments um populistischen, nationalistischen Zuspruch gebettelt, als in der europäischen Öffentlichkeit für eine transnationale Gemeinschaft mit Leidenschaft und Gründen plädiert.

Und nun gibt es endlich einen Durchbruch und die Einsicht, dass sich die historischen Fehler der Finanz- und Bankenkrise nicht wiederholen dürfen, dass ein Staat nicht in endlosen Zirkeln aus Schulden- und Austeritätszwängen gefangen und ausgehöhlt werden darf, weil das nicht nur eine Gesellschaft sozial versehrt und erniedrigt, sondern auch weil es ökonomisch nicht nachhaltig ist. Immer weitere Kreditaufnahmen zu immer schlechteren Zinskonditionen bei gleichzeitigen als "Reform" etikettierten Deregulierungs-, Privatisierungs- und Sparpflichten, diese brutale Rezeptur hat schon jene Länder des globalen Südens beschädigt, denen der IWF diese Forderungen auferlegt hatte. Wozu das führt, lässt sich gerade in diesen Wochen unter anderem in Ecuador erkennen, wo im vergangenen Jahr so massive Kürzungen und Entlassungen im Gesundheitswesen durchgesetzt wurden, dass es nun in der Krise der Pandemie dramatisch an Strukturen und Personal fehlt.

Endlich mehr als nur gedankenreiche Tatenarmut in Europa. Endlich mehr als Reden über Prinzipien und Werte, deren Wert darin besteht, dass sie niemanden etwas kosten. Endlich wirkliches Engagement und eine Vision, für die sich zu argumentieren lohnt: ein Wiederaufbau-Fonds, der auf die Covid-19-Pandemie und ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen reagiert. Und endlich wird für diesen Fonds auch eine gemeinsame Kreditaufnahme an den Märkten vorgeschlagen. Noch dazu: Die Gelder werden als Zuschüsse an die betroffenen Regionen und Sektoren in Europa verteilt, nicht als Kredite.

Endlich ist das selbstzerstörerische Tabu kassiert. Damit das nicht so richtig eingestanden werden muss, wird der politisch sensationelle Aufbruch in so zögerliche Sprache verpackt, dass der eigene Mut fast absichtsvoll verschleiert wird. Es könnte sonst auffallen, dass sich da ein Horizont auftut für ein tiefer verbundenes Europa der Offenheit und Solidarität. Es könnte zu dynamisch, zu inklusiv, zu historisch wirken. Deswegen werden allerlei kleinteilige Erläuterungen beigemischt. Das klingt dann so:

"Die Mittel des Fonds zur wirtschaftlichen Erholung werden gezielt eingesetzt, um den Herausforderungen der Pandemie und ihren Nachwirkungen zu begegnen. Er wird eine ergänzende Ausnahmebestimmung sein, verankert im Eigenmittelbeschluss, mit klar festgelegtem Umfang und Befristung und geknüpft an einen verbindlichen Rückzahlungsplan über den gegenwärtigen Mehrjährigen Finanzrahmen hinaus, über den EU-Haushalt."

Mensch, Kinders, etwas mehr rhetorische Passion für Europa wäre auch möglich. Dass solche Entwürfe juristisch und fiskalisch haltbar sein müssen, ist schon klar. Aber etwas mehr emotionale Kraft wäre, bei allem Verständnis für die Müdigkeit der Beteiligten, schon drin gewesen. Vielleicht sogar etwas Stolz. Es muss ein Ende haben mit diesem permanent-ängstlichen Blick auf die neovölkischen Nationalisten und ihren anti-europäischen Diskurs. Wer von Europa überzeugt ist, bei aller Kritik, bei allem, was nicht ausreicht, bei allem, was nicht gerecht genug, nicht ökologisch, nicht demokratisch genug ist, muss dafür endlich richtig in den Ring steigen. Und zwar in den europäischen, nicht nur den im eigenen Wahlkreis. Keine ernsthafte Regierung kann sich dieses gockelige Gepluster für Applaus von den nationalistischen Rängen noch leisten. Es zählt längst nicht mehr nur die lokale Arena, sondern es zählt eben die europäische Öffentlichkeit, in der Anerkennung und Unterstützung verdient werden will. Die wechselseitige Verwundbarkeit ist nun auch den vorletzten Regierungen des europäischen Nordens augenfällig geworden - da können die Niederlande und Österreich ihre schäbigen, innenpolitischen Spektakel noch ein wenig weiter treiben, aber auch sie wissen, dass von mehr Gemeinsinn in Europa letztlich alle profitieren.

Das eigentlich Attraktive der europäischen Wiederaufbau-Initiative liegt aber in den Präzisierungen, in denen formuliert wird, wie die wirtschaftliche Erholung mit ökologischen Ambitionen und (wenn auch etwas zögerlicher) mit sozialen Standards verkoppelt werden soll. Es wäre eine katastrophale Folge der Pandemie, wenn sie einzelne Staaten oder Regionen dazu animierte, die vereinbarten Klimaziele und die dafür nötigen, langfristigen Transformationen und Investitionen einfach auszusetzen. Als wäre da nicht schon lange genug gebremst und verhindert worden. Das ist global eine akute Gefahr, dass unter dem Druck ökonomischer Not manche Staaten nurmehr in alte fossile Muster, traditionelle Formen der Ausbeutung natürlicher Ressourcen, gewohnheitsmäßige Zerstörung der Biodiversität zurückfallen.

Wer nur auf die gegenwärtigen CO2-Emissionen in der aktuellen Krise schaut und glaubt, darin eine strukturelle Veränderung zum Besseren zu sehen, irrt leider. Es gibt keinerlei Grund, sich zu entspannen. Im Gegenteil. Das "Global Carbon Project" hat rekonstruiert, wie sich verschiedene historische Krisen und auf die CO2-Emissionen auswirken. Es zeigt sich, ob bei der ersten (1973) oder der zweiten Ölkrise (1979), dem Zerfall der Sowjetunion (1990/91), der Asienkrise (1997/98) oder der globalen Finanzkrise (2008/2009), immer war die Reduktion der Emissionen nur kurzfristig, immer folgte auf den krisenbedingten Einbruch nur ein steilerer Anstieg, keine strukturelle Veränderung oder Nachhaltigkeit.

Deswegen warnen Experten vor kurzsichtigen Großprojekten, mit denen Regierungen glauben, ihre Wirtschaften besonders schnell stimulieren zu können: nicht nur der Bau von Straßen und Brücken könnte dann wieder als passe-partout ausgegeben werden, sondern auch Kohlekraftwerk-Projekte, die auf Jahrzehnte hin binden und den fossilen Pfad festlegen. "Was strukturpolitisch falsch ist, kann konjunkturpolitisch nicht richtig sein", sagte der Direktor des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung in einem Interview mit dem Handelsblatt, in dem er auch davor warnte, dass in der Folge der Pandemie die Klimapolitik international wieder infrage gestellt werden könnte.

Deswegen ist es so wichtig, dass der europäische "Recovery-Fund" die "Beschleunigung des Green Deal und der Digitalisierung" als Kernstück hat. Es wird nicht nur vorgeschlagen, das Emissionsreduktionsziel für 2030 zu erhöhen, sondern auch die Einführung einer CO2-Mindestbepreisung im Rahmen des europäischen Emissionshandelssystems zu unterstützen und auch ein sektorenübergreifendes Emissionshandelssystem zu entwickeln.

Na also, geht doch.

In der Covid-19-Pandemie machen weltweit alle die nicht wirklich überraschende, aber bittere Erfahrung, dass Gefahren, die schon zu antizipieren sind, die sogar schon Spuren zeitigen, nicht durch Verleugnung aufgehalten werden können. In dieser Pandemie lernen alle, dass vorausschauend medizinische Risiken vermindert werden müssen, wenn nicht die nachfolgenden humanen, sozialen, ökonomischen Kosten fatal werden sollen. In dieser Pandemie lernen alle, was Prävention bedeutet. Wer die Dringlichkeit der ökologischen Transformation noch nicht verstanden hat, weil es dabei angeblich nur um die Vermeidung von etwas Späterem geht, wer glaubt, sich die notwendigen Modernisierungen und Investitionen in klimaneutrale Industrie oder nachhaltige Agrarwirtschaft sparen zu können, weil das angeblich nur Kosten produziert - der sollte an die Lektion dieser Pandemie denken.

Noch immer wird die Energiewende nur in bestimmten Sektoren (gerade mal in den Bereichen Strom, Wärme und Verkehr) als existentielle Aufgabe begriffen und diskutiert, aber in der Stahl-, der Chemie- oder der Zementindustrie bleibt die Vorstellung, wie emissionsärmer und nachhaltiger produziert werden kann, noch, nun ja, auffällig unscharf. Deswegen hat der so trocken formulierte Unterpunkt der Merkel-Macron-Initiative ("für jeden Sektor einen Fahrplan für die ökologische Erholung erarbeiten") richtig Potential. Spätestens an dieser Stelle denkt man, dass auch ein größeres Volumen des "Wiederaufbau-Fonds" wünschenswert gewesen wäre. Aber gut. Das ist für den Anfang schon richtig fein.

Ja, natürlich, das ist nur ein Entwurf. Nichts davon ist entschieden. Das muss jetzt erst mit allen anderen EU-Staaten besprochen, verhandelt, vielleicht an einzelnen Stellen abgeschwächt werden. Aber diese Woche freue ich mich nur. Es ist eine solche Erleichterung, dass dem nationalistischen Reflex widerstanden wurde, dass sich nicht diese kurzsichtige Herablassung und Demütigung anderer durchgesetzt hat. Es wäre unverzeihlich, wenn in dieser Krise Europa sich weiter entsolidarisiert hätte, anstatt sich einander zuzuwenden und wechselseitig zu stützen. "aydın", fällt mir dazu auf Türkisch ein, hell, aufgeklärt. Oder: "mutluyum", ich bin glücklich.

„Man muss etwas Neues machen, um etwas Neues zu sehen.“

- Georg-Christoph Lichtenberg, Aphorismen -

Nun gelten die Lockerungen schon eine Weile, viele Lebensbereiche, die lange geschlossen waren, sind wieder zugänglich, es soll wieder renormalisiert werden, Geschäfte, Spielplätze, Restaurants, Museen und Zoos öffnen nach und nach, die Fußball-Bundesliga ist, zuschauerfrei, gestartet, aber auf Theater, Konzerte, Opern muss immer noch verzichtet werden. Bis Ende August gelten in den meisten Bundesländern noch die Beschränkungen für Großveranstaltungen. Was danach geschehen soll, wie mit Abstand gespielt oder gesungen oder getanzt werden soll, wie auf der Bühne, im Orchestergraben oder auch nur beim Einlass für die Zuschauerströme eine sichere, andere Normalität aussehen soll, darüber brüten alle, die das Theater und die Musik lieben, deren Leben bislang darin bestand, abends in einem vollen Haus aufzutreten, mit anderen zusammen sich zu verausgaben, sich zu berühren, anzuschreien, einander zuzuflüstern, neben- und zueinander zu singen und zu musizieren.

Ich habe mich bei Matthias Schulz, dem Intendanten der Staatsoper Unter den Linden, eingeladen, um zu erfahren, wie der Opernbetrieb unter der verordneten Stille leidet, aber auch, welche Strategien es für die nächste Spielzeit gibt (und ein klitzekleines bisschen auch, um in diesem magischen Ort einmal herumstromern zu dürfen). Schaut man online auf das Programm der Staatsoper, lässt sich der Schmerz schon herauslesen: auch nach Monaten des Lockdowns, auch für die Monate, die das Haus definitiv geschlossen sein wird, sind da immer noch alle Tage aufgelistet, noch immer ist zu sehen, was es hätte geben sollen, was nicht gespielt werden kann: heute, Mittwoch, 20. Mai, Don Giovanni, "Vorstellung entfällt wegen Corona", Donnerstag, 21. Mai, Fidelio, "Vorstellung entfällt wegen ...", Freitag, 22. Mai, Tosca, "Vorstellung entfällt...", ..., jeder Tag ein Stich ins Herz, das geht so bis zu "Sacre" mit Musik von Debussy, Berlioz und Strawinsky, am 27. August, der reguläre Vorverkauf dafür soll am 13. Juni beginnen.

"Man merkt, was passiert, wenn die Menschen in der Oper kein Ziel haben, auf das sich hinarbeiten lässt," erzählt Matthias Schulz in seinem lichtdurchfluteten Büro, "der natürliche Rhythmus ist einfach unterbrochen". Das sei eine enorme Belastung für alle, aber nicht für alle gleich. "Eine Oper ist ein komplexes Ökosystem", sagt Schulz und fächert differenziert auf, wie die Pandemie verschieden abgesicherte oder ungeschützte Akteure in der Opernwelt eben verschieden hart trifft: Wer als internationaler Weltstar um die Welt reist, ist anders getroffen, als ein Ensemble-Mitglied, das über einen festen Arbeitsvertrag an einem Opernhaus verfügt. Noch mal anders bedroht ist, wer als freie Tänzer*in arbeitet, wo einige wegfallende Auftritte mit dem entsprechenden Gagenausfall schon existentiell sein können. "Natürlich ist die Angst zu spüren, bei den Orchestern, den Künstlern und den Agenten, manche werden dystopisch in dieser Krise."

Die vielbeschworene Digitalisierung, das extensive Angebot an Theater- oder Opernaufführungen online, die Euphorie über die sensationellen Zugriffszahlen, die alle Häuser bei diesen digitalen Formaten in den vergangenen Wochen erlebt haben, reflektiert Schulz so besonnen wie kritisch. Natürlich sei es wunderbar zu sehen, wie viele Menschen die digitalen Möglichkeiten wahrnehmen wollten, aber um Menschen tatsächlich an klassische Musik und die Oper zu binden, dafür brauchte es doch immer noch das sinnliche Erlebnis. "Oper ist eben auch eine große Reise", sie verlangt (und schenkt) wirkliche Fokussierung, über Stunden, sie lässt sich nicht wegklicken oder vorspulen, das ist das große Geschenk: dieses kollektive, authentische Erleben der Musik.

Seit dem 5. Mai gibt es eine Stellungnahme, die eine Forschungsgruppe um Stefan Willich, Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Charité, vorgelegt hat und das auf Initiative der sieben Berliner Klangkörper (die Berliner Philharmoniker, das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO), das Konzerthausorchester Berlin, die Orchester der Deutschen Oper Berlin und der Komischen Oper Berlin, das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) und die Staatskapelle Berlin) zurückgeht. Das Team um Willich hatte untersucht, welche Voraussetzungen aus medizinischer Sicht erfüllt sein müssten, damit Orchester wieder zusammen proben und spielen können. Dafür hatten sie die Eigenheiten verschiedener Instrumente evaluiert, es wurden Bewegungen, Sitzordnungen, Atembewegungen geprüft. Bei der Frage, wie sich Atemluft bei Blasinstrumenten im Raum verteilt, stellte sich erstaunlicherweise die Querflöte als virologisch eher bösartiges Instrument heraus. Die Empfehlungen sahen letztlich unterschiedliche Abstandsregeln für verschiedene Orchesterreihen vor: Streicher, Schlagzeuger und Tasteninstrumente sollten mit 1,5 Metern Abstand zueinander sitzen, Bläser allerdings mit zwei Metern. Für die Dirigenten wurden unterschiedliche Distanzen vorgegeben, je nachdem, ob es sich um ein Konzert handelt oder um eine Probe, bei der auch gesprochen wird.

Auf dem Papier liest sich das fabelhaft. Es beruhigt auch. Endlich vermittelt diese Studie eine Perspektive, gibt einem nach Monaten der Ohnmacht eine Handlungsoption, wie sich aus der verordneten Erstarrung heraustreten und wieder in die Arbeit, ins musikalische Leben, auf die Bühne zurückkehren lässt. Es ist einfach nicht auszuhalten, dieses Warten, diese Unsicherheit, diese Hemmung der Lust zu musizieren.

Dann lädt der Intendant ein, doch in das Operngebäude selbst zu schauen, damit sich die konkreten Bedingungen des Spielbetriebs auch im Raum, auf der Bühne, im Saal begreifen lassen. Und so beginnt eine Tour durch alle Geschosse und Tunnel, über alle Hinterbühnen und Logen, über alle Stockwerke und Balkone hinweg - und je länger diese Wanderung durch die Oper dauert, desto komplizierter und anspruchsvoller wird das, was da so simpel und fröhlich "Öffnung" genannt wird. "Der Lockdown war vergleichsweise einfach," sagt Matthias Schulz, "ein rationaler Wiedereinstieg ist richtig schwer, weil das vieldimensional ist."     

Er lässt sich die Zuversicht nicht nehmen, zu groß ist die Sehnsucht nach der Rückkehr zur Musik. Aber einmal wirklich in dem Saal, einmal wirklich auf der Bühne, konfrontiert mit den realen Maßen und Abständen, wird einem doch mulmig. Ein paar hilfsbereite Techniker fahren den eisernen Vorhang hoch und lassen auch den Boden des Orchestergrabens herab, damit das Problem deutlich wird. Würden die Abstände so eingehalten wie empfohlen, könnten in dem begrenzten Raum des Orchestergrabens anstatt 120 ungefähr 50 Musiker*innen sitzen. Wie das Kollektiv des Chors angeordnet werden kann, ist noch eine ganz andere prekäre Frage.

(Foto: Sebastian Bolesch)

Wenn die üblichen Abstandsregeln für das Publikum gelten sollen, dann bedeutet das konkret: nur jede zweite Reihe darf belegt werden, zwischen besetzten Stühlen müssen jeweils zwei Plätze frei bleiben. Auf den ganzen Saal gesehen, blieben am Ende 328 Plätze übrig, für die Karten verkauft werden können - bei einer Kapazität von 1377. Wir schauen in das riesige leere Rund und versuchen uns auszumalen, wie das wirkt. 

(Foto: Sebastian Bolesch)

Natürlich wollen alle hier spielen, alle drängen danach, endlich wieder öffnen und musizieren zu können, aber die Details, auf die es ankommt, damit es wirklich umsetzbar ist, haben es in sich. Die Besucher müssen so geleitet werden, dass sich nichts staut, keine unerwünschte oder riskante Nähe entsteht, die Kartenkontrolle muss umorganisiert werden – was den Einlass in die Oper verlangsamen wird.

Es gibt keinen einzigen Moment in dem Gespräch, in dem Matthias Schulz klagt oder hadert mit den Vorgaben, die ganze Zeit über strahlt er Freude aus, als ob es eben in der Not etwas Neues zu probieren, etwas Neues zu entdecken gäbe. Aber er ist auch nicht naiv, wie schwer es werden könnte, so einen eingeschränkten, veränderten Spielbetrieb vor ausgedünntem Publikum durchzuhalten. Am schönsten sind die Momente, in denen wir über die Musik selbst sprechen, über das Repertoire, welche Premieren, welche Programmreihen mit welchen Künstler*innen in diesem Jahr noch anstehen, auf wen ich mich freuen darf, welche Tage ich unbedingt freihalten muss. Sie ist ansteckend, diese Vorfreude, und als ich zuhause wieder am Schreibtisch sitze, trage ich sie tatsächlich ein, die Barocktage in der Staatsoper im November, ob und wie sie dann stattfinden, weiß ich nicht, aber sobald der Vorverkauf beginnt, werde ich mir Karten reservieren.    

Abends beim Gespräch über den nun mal mindestens geplanten Urlaub im Sommer, bei aller Unsicherheit, was bis dahin überhaupt möglich sein wird, erwähnt meine Freundin auffällig häufig, wie sehr sie sich auf die Freunde freut, die mit uns verreisen wollen. Ich erwäge kurz, ob ich fragen sollte, ob sie auch mit mir allein, ohne andere Menschen, verreisen würde, aber das ist mir nach monatelangem Lockdown doch etwas zu riskant als Frage. Und ich freue mich wirklich auch sehr auf unsere Freunde. Also bleibe ich still in der Deckung.

Das war eine schöne Woche. Am Wochenende will ich nochmal Boule spielen. Die eine Stunde letzten Sonntag war so beglückend, dass ich jetzt richtig angestachelt bin und wieder spielen will. Die Kombination aus Feinmotorik und Konzentration ist auch das ideale Gegenprogramm zu dem unkonzentrierten Starren auf instabile Bilder bei Zoom-oder-Skype-Konferenzen.

Außerdem habe ich gerade die Dokumentation "The perfect shot" über Dirk Nowitzki auf Netflix gesehen, und mich in diese tiefe Bescheidenheit verliebt. Wenn Sie es noch nicht gesehen haben, schauen Sie sich diese Dokumentation an. Es spielt keine Rolle, ob sie Sport mögen oder Basketball, sie müssen noch nicht einmal je von Dirk Nowitzki gehört haben. Es ist ein Film über die Demut, die es braucht, um in etwas wirklich gut zu werden, den Respekt, den es braucht vor einem Handwerk oder einer Kunst oder einer Technik, ganz gleich, was für ein Handwerk es ist, sich nie einzureden, schon alles zu können, nie auf andere herabzusehen, die zu suchen, die etwas anderes wissen oder können als man selbst, nie zu glauben, man sei sich selbst genug, sondern immer mit und für andere denken und leben, es ist ein Film über die unbändige Lust am Lernen, die auch im Scheitern, in der Niederlage, mit Enttäuschungen nicht versiegt. Es gibt auch richtig was zu lachen. Wenn Dirk Nowitzki im Moment des Triumphes "We are the Champions" zu singen versucht, oder wenn Präsident Obama darüber lästert. Jedenfalls ist das ein schönes Programm fürs Wochenende, wenn Sie mögen. Passen Sie auf sich auf und bleiben Sie zuhaus.