Politisch-persönliche Notizen zur Corona-Krise

Woche 8: Von realen und missbrauchten Ängsten, von geistigen Flipperkugeln – und dem Juckreiz, dem man nicht nachgeben darf.


Von Carolin Emcke

"Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont."

- Ingeborg Bachmann, Die gestundete Zeit -

Die Angst kennt viele Gründe. Gute Gründe. Da ist zunächst die Angst vor der Krankheit selbst, niemand weiß, wie der eigene Körper reagieren würde, niemand, ganz gleich wie unbelastet, wie durchtrainiert, wie jung, kann sicher sein, mit einem leichten Verlauf davon zu kommen, die Angst also vor den körperlichen Schmerzen, Angst auch womöglich vor der Überforderung krank und alleinerziehend zu sein, krank und ohne jemanden, der sich kümmert und pflegt, Angst vor der Schwäche, die womöglich lange danach noch anhält. Besonders bei denen, die ohnehin sich schonen müssen, die ohnehin eingeschränkt sind, die ohnehin mit einem Körper leben, auf den sie sich nicht (mehr) ganz verlassen können.

Dazu gibt es einen Zwilling in der Angst, jemand anderen anzustecken, durch irgendeine Sorglosigkeit eine geliebte Person oder jemand Fremden zu gefährden, sich schuldig zu machen an der Erkrankung und dem Leid einer anderen Person, womöglich sogar viele auf einmal anzustecken, fahrlässig oder nicht, mehrere Menschen zu belasten. Der Kummer, geliebte Angehörige und Freund*innen nicht sehen zu können, ist arg, aber die Angst, sie möglicherweise selbst anzustecken und zu gefährden, noch ärger.

Dann ist da die Angst vor den einbrechenden Einnahmen, den materiellen Verlusten, die Angst, die eigenen Angestellten, das eigene Team nicht mehr halten zu können, die Angst, nicht mehr ausreichend zu verdienen, um die Familie zu versorgen oder die Kredite abzubezahlen, die Angst, jene Institutionen zu verlieren, in denen sich spielen oder musizieren oder sprechen ließ, die Angst auch, die eigene Branche, die eigene Zunft, das eigene Arbeitsleben könnte als Ganzes verschwinden durch die Folgen der Pandemie. Diese Sorge ist primär eine ökonomische, aber nicht nur. Das Ökonomische ist nie nur ökonomisch. An jedem Arbeitsplatz hängt nicht nur ein stabiles Einkommen, sondern auch soziale Anerkennung. Für manche von uns hängt an der Arbeit vielleicht weniger Einkommen, aber das immense Glück, etwas tun zu dürfen, das man liebt. Umso größer ist die Not derer, die ihre Arbeit vielleicht nicht mehr ausüben können, weil das, was es dafür braucht, die Verlage, die Buchhandlungen, die Theater, die Musik-Clubs, die Festivals, diese Krise nicht überstehen.

Dann ist da die Angst, es nicht durchzuhalten, was gerade erwartet wird, die Angst vor der uferlosen Erschöpfung und der Einsamkeit, auch die Angst vor dem Diffusen, nicht wirklich Verstehbaren, diese Angst, die jeden Tag abgebaut werden will durch Lesen oder Hören oder Sprechen, aber die doch nicht ganz versiegt, die Angst, die eingeschlossenen Kinder könnten ihre Ängste vor dem, was sie vielleicht nicht ganz verstehen, aber ganz sicher spüren, in sich einschließen, schließlich auch die Angst, sich analytisch oder emotional zu irren, die Angst, das, was noch droht, zu unterschätzen oder zu überschätzen, sich auf das Falsche zu konzentrieren, sich zu sicher zu wähnen oder zu schutzlos, sich zu voreilig anzupassen oder zu voreilig auszubrechen.

Und schließlich ist da die Angst, das zu verlieren, was uns als Menschen ausmacht, die Gabe, anderen nahe zu sein in der Not, anderen beizustehen in den letzten Stunden, ihnen zuzuflüstern oder vorzusingen, auch wenn sie nicht mehr sprechen können, sie zu berühren, damit sie sich begleitet und verabschiedet wissen, die Angst, keinen Ort, keinen Raum, keine Gesten für die Trauer zu finden, weil alles reglementiert, alles auf Abstand geeicht, alles verhindert wird, was es zum Abschiednehmen, zum bitteren, untröstlichen, zugewandten Innehalten beim Tod eines geliebten Menschen braucht.

Für alle diese Ängste und Nöte gibt es Gründe. Sie lassen sich besprechen, zuhause im Privaten, aber auch im öffentlichen Raum. Sie können sich ausprägen als soziales und politisches Unbehagen, sie können als Kritik an politischen Entscheidungen formuliert werden und setzen sich so auch Widerspruch aus. Sie können diskutiert und abgewogen werden, können sich als angebracht oder unangebracht, übertrieben oder sorglos erweisen. Sie werden im öffentlichen Diskurs getestet, durch andere Informationen, durch andere Erfahrungen, durch andere Argumente, sie werden durch öffentliche (Selbst-)Verständigung bestärkt oder gehemmt. Aber sie sind antastbar, hinterfragbar, veränderlich. Sie gelten nicht unbedingt.

Das wird mitunter vergessen: dass sich wirklich Angst haben lässt und die politischen Maßnahmen einem trotzdem richtig erscheinen können. Dass nicht das eine, die individuelle oder kollektive Sorge, das andere, die politische Akzeptanz, ausschließt. Dass nicht ökonomisch naiv oder sozial privilegiert sein muss, wer die strikten Beschränkungen befürwortet. Die Angst vor den Verlusten wird gern als Gegenpol zu den Einschränkungen gesetzt: ist die Angst vor den Folgewirkungen groß, so die Unterstellung, sei auch der Wunsch nach Öffnungen groß. Aber das stimmt so nicht. Wer in den sich wieder vervielfältigenden Kontakten vor allem die Wahrscheinlichkeit erneuter Infektionscluster sieht, die sich wegen der wieder gelockerten Mobilität auch nicht mehr so leicht lokal begrenzen lassen, dem sind vor allem Öffnungen eine Quelle der Angst vor den dramatischen psychischen, sozialen, ökonomischen Belastungen, die ein zweiter Lockdown verursachen dürfte.

"Es kommen härtere Tage. 
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont."

Niemand also soll sich schämen für die Angst, niemand wird gedrängt, seine Not zu verbergen, sie können geteilt und besprochen werden. Niemand soll allein gelassen werden mit einer existentiellen Sorge, mit der sozialen Verunsicherung, die die Krise schürt, niemand soll isoliert sein in dieser prekären Zeit wechselseitiger Verwundbarkeit.

"Das Charakteristische für diese Bewegungen ist vielmehr eine außerordentliche Perfektion der Mittel, nämlich in erster Linie der propagandistischen Mittel in einem weitesten Sinne, kombiniert mit Blindheit, ja Abstrusität der Zwecke, die dabei verfolgt werden."

- Theodor W. Adorno, Aspekte des neuen Rechtsradikalismus -

Das war nur der Anfang gestern. Die Frage der Angst ist zu kompliziert, um sie fallenzulassen nach einem Tag. Vielleicht habe ich auch nur einfach selbst zu viel Angst, um davon frei zu kommen. Vielleicht will es mir einfach nicht gelingen, diese Woche über etwas anderes zu schreiben, etwas Kurioses oder Heiteres, irgendein Fundstück des Alltags, vielleicht kann ich nicht so eilig abtauchen, sondern muss vielmehr hindenken, was mich so umtreibt daran, wie die Angst als Topos auftaucht im öffentlichen Diskurs. Also nochmal zurück zu dem, womit es gestern endete: jenen Ängsten, die mich in dieser Krise so durchziehen wie viele andere auch.

Für all diese Ängste gibt es Gründe. Alle diese Ängste behalten als Bezugsgröße etwas, das uns gemein ist: die Wirklichkeit, sie setzen sich auseinander mit der objektiven Realität einer ausgreifenden Pandemie, alle diese Ängste orientieren sich an dem, was sich (wie immer bruchstückhaft) wissen lässt über das Virus und wie es ganze Regionen heimsucht, sie nehmen die Toten zur Kenntnis, die Berichte von den Intensivstationen in Bergamo oder New York oder Manaus, sie nehmen die Arbeitslosenzahlen zur Kenntnis, die Insolvenzen, die Umsatzeinbrüche, die Rezessions-Prognosen, alle diese Ängste lassen sich befragen, sie reagieren auf das, was wir hinzulernen, welches Wissen als gesichert, welche Irrtümer als erwiesen gelten. Manchmal helfen zusätzliche Informationen, eine Angst zu festigen, manchmal, sie abzubauen.

Nichts jedoch jagt mir mehr Angst ein als die Auftritte derer, die nurmehr Wahn als Angst ausgeben, die sich nicht mehr scheren um das, was allen gemein ist, die keine Bezugsgrößen mehr anerkennen außer ihrer eigenen Phantasie, die ihre Wut nicht mehr erklären, sondern nur noch ausagieren wollen, immer vertikel, gegen "die da oben", gegen eine vermeintliche "Diktatur", gegen "die Medien", gegen "Bill Gates", gegen irgendein "Komplott", das bekämpft werden muss. Die Angst, die diese Bewegungen vorgeben, ist nicht mehr einholbar, die Angst will keine Nachfragen zulassen, keine Realität als Korrektur mehr akzeptieren, die Angst soll ausreichen als Alibi, als rhetorisches Schutzschild, hinter dem sich hemmungslose Aggression und ungezügeltes Ressentiment ausleben darf.

(Foto: Sebastian Bolesch)

Nichts jagt mir mehr Angst ein als die Wiederholung desselben Spektakels, derselben Synergie aus Brutalität und Selbstmitleid, dieser unverbesserliche Hass nur mit anderen Vorzeichen, mit partiell anders konstruiertem Objekt. Nichts jagt mir mehr Angst ein als diese Protestierenden, die sich unbedingt als Opfer sehen wollen, betrogen um die Wahrheit, für deren Bedingungen sie sich nicht interessieren, beraubt der Freiheit, die sie nicht einmal erkennen, wenn sie ihnen gerade zugestanden wird, beschnitten in ihren Rechten, die sie anderen verwehren wollen. Sie sind sich für nichts zu schade, sie haben vor nichts Respekt. Ob sie sich im T-Shirt mit "Judenstern" und der Aufschrift "ungeimpft" auf den Marktplatz der Schamlosigkeit stellen oder mit einem Plakat mit dem Bild von Anne Frank mit dem Titel "Anne Frank wäre bei uns" - der Holocaust wird von manchen in diesem Milieu nur so lange geleugnet, wie man ihn nicht benutzen kann für die eigene faschistoide Stilisierung.

(Foto: Sebastian Bolesch)

Sie sind ein so diverses wie konfuses Ensemble aus Esoterikern, Reichsbürgern, Antisemiten, Impfgegnern, rassistischen Kadern und Verschwörungs-Dogmatikern. Der Kitt zwischen harten-rechtsradikalen Ideologen, gewaltbereiten Schlägern und ahnungslosen Wirrköpfen besteht aus jener Sorte geistiger Flipperkugeln, die bei jedem Thema ungeheuer aufgeregt von einer Überzeugung zur anderen bouncen, immer empört, immer instabil, immer besserwisserisch - und die nur in dieser Auto-Dramatisierung sich selbst spüren können.  

Sie sind eine Minderheit, ließe sich einwenden, von ihnen kann keine Gefahr ausgehen, sie könnten als randständig, als nicht repräsentativ betrachtet werden. Was mir wirklich Angst macht, ist jedoch, dass sie wieder aufgewertet und in ihrem Wahn belohnt werden könnten, weil es wieder heißt, das seien alles nur ganz harmlose Kritiker oder "besorgte Bürger", die eine Demokratie eben aushalten müsste. Was mir wirklich Angst macht, ist, dass wieder so getan werden könnte, als ließe sich nicht zwischen richtigen und falschen Tatsachenbehauptungen, plausiblen und irrwitzigen Annahmen unterscheiden. Was mir wirklich Angst macht, ist, dass sie wieder in die talkende Manege geführt werden, unter dem Vorwand, sie zu stellen, als ob nicht das populistische Monster so erst gezüchtet würde, von dem dann ein paar Jahre und Gewaltexzesse später auf einmal staunend bemerkt wird, dass es doch nicht so kuschelig-bürgerlich war. Die Radikalität, die von Anfang an ideologisch und organisatorisch erkennbar ist, wird nachträglich als unvorhersehbarer Prozess einer Radikalisierung umgedeutet. Alles andere würde nämlich heißen, dass man sich in diesem Wir-dürfen-niemanden-ausgrenzen-Gestus geirrt und zum unfreiwilligen Komplizen der Normalisierungs-Ambitionen der radikal Rechten gemacht hat.

Was mir wirklich Angst macht, ist, dass nichts gelernt worden sein könnte, dass sich alles wiederholt, dass eine offene, demokratische, solidarische Mehrheit verdrängt und belächelt wird, weil sie nicht schrill genug ist, nicht exotisch genug, dass die demokratische Mehrheit der Gesellschaft erneut unterrepräsentiert wird, weil Vernunft keine geile Ästhetik generiert, weil Gemeinsinn als spießiger Quotenkiller gewertet wird, weil aufgeklärte Skepsis oder reale soziale Angst weniger gelten als alkoholisiertes Polit-Proletentum, revisionistischer Tabubruch oder Covid-19-Komplott-Geraune.

"Der Agitator bemüht sich gar nicht, objektiv auf die Unzufriedenheit und das Missbehagen seiner Zuhörer einzugehen, vielmehr präsentiert er deren Beschwerden in einem verzerrenden, fantastischen Prisma."

- Leo Löwenthal, Falsche Propheten - Studien zum Autoritarismus -

Es ist verblüffend, wie gegenwärtig sich Leo Löwenthals grandiose Analyse der faschistischen Argumentationsmuster in Amerika aus dem Jahr 1948 immer noch liest. Es wird heller, wenn man mit Löwenthal denkt. Bei allem, was in dieser Untersuchung an den konkreten historischen Kontext gekoppelt ist, was sich nicht übertragen lässt, so schärft "Falsche Propheten" doch den Blick für die Strategien und Techniken der Agitatoren der Hygiene-Demos, diese neuen-alten Ideologen, die gerade die nächste Verunsicherung, die nächste "gesellschaftliche Malaise" für ihre politischen Zwecke kapern.

Es ist "der Versuch, die bei seinem Publikum existierende Desorientierung zu verstärken, indem er alle rationalen Demarkationen verwischt und stattdessen spontane Aktionen vorschlägt."

Die falschen Propheten interessieren sich nicht dafür, die objektiven Ursachen der sozialen Unzufriedenheit oder Hilflosigkeit zu benennen und gar zu beheben, es geht ihnen allein um das Triggern emotionaler Komplexe, die sich aufnehmen, vertiefen und kanalisieren lassen. Das ist vielleicht das Widerlichste an den Propheten der Gegenwart: dass sie sich für die begründeten Ängste und Nöte der Menschen inmitten der Krise der Pandemie gar nicht interessieren, in Wahrheit interessieren sie sich noch nicht einmal für die komplexen Elemente und Ursprünge der Pandemie, solange sie ihnen als narratives Vehikel dient für ihre gewalttätige Vision vom "Tag X".

Die Agitatoren, damals wie heute, geben sich in ihren Erzählungen besessen vom angeblich nahenden Untergang. Nie ist es eine einfache Not, die niemandem zu Last gelegt werden kann, nie ist es eine bloße Tragödie, die niemand verschuldet hat, nie ist es ein heilloser Schlamassel oder ein Unglück. Die falschen Propheten brauchen einen Feind, den ultimativen Verursacher allen Elends in der Gesellschaft, eine Art unbewegten Beweger, der für alles verantwortlich gemacht werden kann, ob es existiert oder nicht, ob es real ist oder eingebildet, der Feind muss dabei unbarmherzig und trügerisch sein, mächtig, aber dann doch auch überwindbar.

"Der Appell des Agitators basiert auf seiner ambivalenten Einstellung zu den angeblichen Eigenschaften des Feindes: Die Anhäufung von hemmungslosen Scheußlichkeiten gibt dem Anhänger zu verstehen, dass er sich in einer Krisensituation auch nicht mehr Hemmungen aufzuerlegen brauche als der Feind."

Darum geht es den falschen Propheten im Wesentlichen: eine Geschichte der drohenden Katastrophe zu erfinden, in der jede Gewalt als Notwehr und jeder Rechtsbruch als Verteidigung der Freiheitsrechte behauptet werden kann. Diese Agitatoren lassen sich nicht "entlarven", sie lassen sich nicht durch "kritisches Nachfragen" bloßstellen, nicht zuletzt weil es längst geschlossene, mythische Weltbilder sind, die sie suggerieren, weil es längst eigene Kommunikationskanäle sind, auf denen sie ihre semi-religiösen Phantasien ohne lästige Disruption von "außen" propagieren.

Warum also, wenn sie ihre eigene inzestuöse Öffentlichkeit auf Youtube oder Telegram haben, warum also, wenn ausländische Akteure die Verschwörungsmythen um Corona systematisch nähren, wenn Portale wie RT und rechtsradikale Blogs Desinformation zur Pandemie mit anti-demokratischem, rassistischem Ressentiment koppeln - warum soll ihnen zusätzlich naiv-komplizitär Aufmerksamkeit zuteil werden?

Dieses Journal ist insofern ein einziger Selbstwiderspruch. Über ein soziales Phänomen zu schreiben, damit es weniger sichtbar wird, ist grotesk kontraproduktiv. Aber wenn die alten Fehler der Normalisierung und Legitimierung antidemokratischer, antisemitischer, rassistischer Positionen nicht wiederholt werden sollen, braucht es eine Analyse der Angst, die sie jenseits des Wahns, jenseits der Verschwörung, jenseits der nationalistischen Paranoia verortet.

Das haben diejenigen verdient, die sich seit Wochen an alle Regeln halten, die mit den Einschränkungen hadern, weil sie sie für zu weitreichend, zu grundrechtswidrig halten, das haben diejenigen verdient, denen jeden Tag die Einnahmen und die Existenzgrundlagen schwinden, das haben diejenigen verdient, die sich zurückhalten mit sozialen Begegnungen, auch wenn es bitter schwer fällt, das haben diejenigen verdient, die trauern, weil sie einen geliebten Menschen durch Covid-19 verloren haben, und die dennoch all diese Lasten aushalten, die dennoch ihre Skepsis und ihre Kritik mit Gründen fundieren, das haben diejenigen verdient, die sich um ihre Kinder und Enkel sorgen, um ihre Eltern und Großeltern, die ihre Freundesfamilie vermissen, das haben diejenigen verdient, die sich verausgaben für andere in diesen Wochen, in den Kliniken, in den Gesundheitsämtern, in den Redaktionen (wenn sie denn noch in Redaktionen arbeiten und nicht zuhause), auf dem Bau, in der Landwirtschaft, in den Schulen und übrigens auch im Parlament, in den Ministerien, den Städten und Gemeinden, das haben alle diejenigen verdient, die mit der Pandemie und den sozialen, psychischen, ökonomischen Folgen ringen, aber die sie nicht instrumentalisieren für ihre schäbigen Gewaltphantasien.

Die Krise der Pandemie ist derart komplex, sie greift auf so vielen Ebenen ein in unsere epistemischen, sozialen, kulturellen Gewissheiten und Gewohnheiten, sie legt alle Schwächen unserer Lebensform bloß, sie zwingt uns, ökologische und ökonomische Rücksichtslosigkeiten einzugestehen, die bequem-tolerierte Ausbeutung von Mensch und Natur als bloßem Arbeitsmaterial oder bloßer Ressource nicht länger zu dulden, sie entlarvt alle unerfüllten Gleichheitsversprechen, ob unter Geschlechter- oder Klassen- oder Herkunftsperspektive, diese Krise ist so real, so umfassend, so tiefgreifend, da dürfen wir keine Zeit verlieren mit denen, die sie leugnen. Die Zeit haben wir nicht.

Löwenthal findet ein wunderbares Bild für die absichtsvoll destruktive Methodik der falschen Propheten, die behaupten, sich der gesellschaftlichen Not anzunehmen, um sie nur zu vergrößern. Er beschreibt das soziale Unbehagen als Hautkrankheit, die das instinktive Bedürfnis auslöst, sich zu kratzen. Jeder gute Arzt würde nun raten, dem Juckreiz zu widerstehen, und versuchen, die Ursache zu entdecken. Denn gibt der Patient dem Kratzbedürfnis nach, würde der Juckreiz sich nur steigern.

"Dieser irrationale Akt der Selbstverstümmelung wird ihm zwar eine gewisse Erleichterung verschaffen, verstärkt aber gleichzeitig sein Bedürfnis zu kratzen und verhindert eine erfolgreiche Heilung. Der Agitator rät zum Kratzen."

Diese Woche war etwas ungewöhnlich. Ein einziges Motiv, das sich in verschiedenen Variationen und Durchführungen durch alle Tage gezogen hat. Nicht unterbrochen, nicht versetzt mit etwas Anderem, Leichterem. Diese Woche war nur ein langgezogenes Nachdenken über die Angst. Anders ging es diesmal nicht. Nächste Woche wird wieder anders. Versprochen. Jetzt freue ich mich auf das Wochenende. Am Sonntag lerne ich Boule spielen. Mein Freund Christian hat mir versprochen, dass er mich soweit bringt, dass ich eine Pariser Freundin damit beeindrucken kann, das wäre natürlich ganz großes Kino, vielleicht beginnen wir auch erstmal damit, dass ich die Nerds vom Kreuzberger Boule Club bluffen kann, das wäre auch schon ganz hübsch. Vermutlich beginnt die Lektion damit, dass ich kapiere, was eigentlich der Unterschied zwischen Pétanque und Boule ist. Oder warum das vor allem nicht mehr ganz so junge Männer spielen. Aber gut. Vielleicht steige ich bei meinem Boule-Mentor nicht gleich mit der Frage ein. Jedenfalls freue ich mich riesig darauf. Weil es Christian schon erwischt hat und er lange mit Covid-19 flach lag, ist die Boule-Stunde vermutlich auch unbedenklich. Angstfrei. Maske werde ich trotzdem tragen. Aber endlich wieder einen geliebten Menschen zu sehen, etwas gemeinsam zu tun, und dabei still zu sein oder zu sprechen, aber jedenfalls einen Hauch von normalem Leben zu spüren, das wird herrlich. Und weil da die Assoziation zu Paris schon so nahe liegt, ist meine Empfehlung fürs Wochenende auch die passende Musik dazu: die Live-Aufnahme des Konzerts von Bill Evans, Marc Johnson und Joe LaBarbera im L'Espace Cardin in Paris aus dem Jahr 1979. Das ist immer noch eine der Aufnahmen, die mich komplett in ihren Bann ziehen, die jedes Mal wieder verzaubern und beglücken, weil dieses Trio so intim zueinander und miteinander spielt, als ob sie vergessen hätten, dass ihnen jemand zuhört. Passen Sie auf sich auf und bleiben Sie zuhaus.