Der Jahrhundert­prozess

Von Annette Ramelsberger und Wiebke Ramm

Ein Raum ohne Fenster, ohne Tageslicht, ohne Frischluft, vollgestopft mit Menschen. Ein Klotz aus den Siebziger Jahren, Betonbögen stützen die Decke, grünliches Neonlicht flutet den Saal. Der Gerichtssaal ähnelt einer Arena: vorne, leicht erhöht, das Gericht mit den fünf Richtern und dem Ersatzrichter. Daneben die drei Staatsanwälte in ihren roten Roben. Hinten im Saal die Nebenkläger, 40, 50 Anwälte drängen sich hier. Mittendrin die fünf Angeklagten mit ihren Verteidigern. Beate Zschäpe sitzt in der ersten Reihe.

Der NSU-Prozess ist ein Prozess der Superlative: der längste, der größte, der teuerste. Ein Jahrhundertprozess, nur zu vergleichen mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, den Auschwitzprozessen und den RAF-Verfahren. Es geht um zehn Morde, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle.

Das braucht Zeit. Der NSU-Prozess währt schon mehr als fünf Jahre.

Das Gericht hat mehr als 600 Zeugen befragt, Dutzende Sachverständige gehört. Es hat nicht nur die Schuld der fünf Angeklagten vermessen, sondern auch deutsche Abgründe ausgeleuchtet.

Der Prozess ist eine Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft: mit selbstgerechten Ermittlern, vergesslichen Zeugen, verzweifelten Angehörigen und schweigenden Mitwissern. Und sehr vielen Menschen, die das alles „ganz normal“ finden. Der NSU-Prozess ist auch ein Verfahren über staatliches Versagen und entschlossene Verdrängung: Rechten Terror in Deutschland durfte es nicht geben. Also konnte man ihn auch nicht erkennen.

All das findet in Saal A 101 des Oberlandesgerichts München an der Nymphenburger Straße statt. Besucher werden an einer Sicherheitsschleuse peinlich genau durchsucht, dahinter geht es über schmale Treppen hinauf in eine Arena der Gefühle.

Hier wird geschluchzt, gefragt, gemauert, geschwiegen – bis zur Erschöpfung. Hier werfen sich verzweifelte Eltern auf den Boden und zeigen, wie sie ihr erschossenes Kind gefunden haben. Hier lässt Beate Zschäpe ihre Haare herunter wie einen Vorhang. Hier reden die Zeugen: all die Leute aus Zwickau, die nur von der netten Nachbarin schwärmen, die Beate Zschäpe war. All die früheren Freunde, die sich an nichts mehr erinnern können. Und die Eltern und Kinder der Getöteten, sie flehen Zschäpe an, ihnen zu sagen, warum ausgerechnet ihr Sohn, ihr Vater erschossen wurde. Sie wollen wissen, wer die Opfer ausgesucht hat. Wer ihnen dabei geholfen hat. Ob da draußen noch weitere Täter herumlaufen.

Und es sprechen die Gutachter. Der Rechtsmediziner, der unbewegt referiert: Schädelsteckschuss, Einschuss Oberlippe, durch Oberkieferschneidezähne. Kupferfarbiges Projektil eingepresst in Schädel. Massives Hirnödem, letztlich tödlich. Der Brandgutachter, der die Bilder des NSU-Unterschlupfs in Zwickau an die Wand wirft: verrußte Räume, ein verkohlter Katzenbaum, der Sekt im Kühlschrank blieb heil. Zschäpe hatte die Wohnung in Brand gesetzt. 


Der Psychiater, der die Hauptangeklagte über Jahre im Gerichtssaal beobachtet hat – und Zschäpe für voll schuldfähig und für weiter gefährlich hält.

Über all dem waltet der Vorsitzende Richter Manfred Götzl. Er ist der Herr des Verfahrens. Er ganz allein.

Götzl und seine fünf Richterkollegen thronen über dem Geschehen. Götzl war 59, als der Prozess am 6. Mai 2013 begann, er geht nun auf die Rente zu. Der NSU-Prozess ist die Krönung seiner Karriere. Auch ihn haben die Jahre im Gerichtssaal geprägt. Die Haare sind weniger, die Furchen im Gesicht tiefer geworden. Fünf Jahre lang absolute Konzentration, fünf Jahre absolute Disziplin – das zehrt.

Doch ohne ihn geht es nicht. Selbst als er sich im Frühjahr 2017 die Hand brach, fiel er nicht aus. Auch mit einem dicken Pflaster über der Augenbraue machte er im Januar 2018 weiter. Der NSU-Prozess – das ist Götzl. Nichts darf er übersehen, nichts durchgehen lassen. Er muss entscheiden. Und er entscheidet. Immer.

Götzl ist nicht jovial, nicht väterlich. Das liegt ihm fern. Er ist akkurat, sachlich und überaus beherrscht – bis auf die kurzen Pausen, wenn er spürt, wie der Ärger in ihm hochkocht und er sofort unterbricht und ins Richterzimmer stürzt. Was er nicht schätzt, ist Widerspruch. Wenn hier im Saal einer redet, dann er. Seine Kollegen stellen keine Fragen, schweigend sitzen sie neben ihm: Michaela Odersky, Peter Lang, Konstantin Kuchenbauer und Axel Kramer. Und als Ergänzungsrichter wartet Peter Prechsl seit fünf Jahren auf seinen Einsatz.

Dieses Gericht ist ein vorsichtiges Gericht. Spätestens im Frühjahr 2016 war erforscht, was vor Gericht zu erforschen war: dass die NSU-Täter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt schon vor ihrem Untertauchen, oft gemeinsam mit Beate Zschäpe, provokante Neonazi-Aktionen starteten, dass sie Drohbriefe mit Schwarzpulver verschickten, dass sie in nachgemachter SA-Uniform über die KZ-Gedenkstätte Buchenwald liefen. Dass sie sich aufspielten wie eine braune Elitegruppe. Mit Zschäpe diskutierten sie über den Einsatz von Waffen. Und Zschäpe war auch dabei, als ihnen von Gesinnungsgenossen Waffen überbracht wurden.

Die drei lebten im Untergrund so eng zusammen, dass es schlicht unvorstellbar ist, dass Zschäpe nichts von den Mordplänen ihrer Freunde mitbekommen hat. Sie hat mit ihrem freundlichen Auftreten und vielen Ausreden Nachbarn und Urlaubsfreunden Harmlosigkeit vorgegaukelt und ihren Freunden so das ungestörte Morden ermöglicht. Das alles hat sich im Laufe der Lesen Sie hier einen Rückblick auf die ersten drei Prozessjahre.ersten drei ProzessjahreLesen Sie hier einen Rückblick auf die ersten drei Prozessjahre. immer mehr verdichtet. 

In den letzten beiden Jahren des Prozesses ging es vor allem darum, den Prozess revisionssicher zu gestalten – damit der Bundesgerichtshof später nicht das Urteil aufheben kann und das ganze Verfahren von vorn beginnen muss. Das wäre der GAU. Also durfte das Gericht auf keinen Fall einen Fehler machen, das war sein oberstes Ziel. Das Gericht errichtete eine Art juristischen „Cordon Sanitaire“, um jeglichen Zweifel an seiner Wahrheitsfindung zu verhindern. Es ging fast jedem Antrag der Verteidigung nach, auch vielen Anträgen der Nebenkläger. Es gab jedem Prozessbeteiligten Stunden, manchmal Tage Zeit, um auf Argumente zu entgegnen. Und es ließ sich auf eine ungewöhnliche Prozedur ein: Sie erlaubte der Angeklagten Zschäpe, nicht spontan auf Fragen des Gerichts zu antworten, sondern die Antworten über Wochen mit ihren Anwälten vorzubereiten. Zschäpe hörte sich die Fragen des Gerichts an, ihr Anwalt schrieb sie auf. Und überbrachte dann nach Wochen ihre ausgefeilten, schriftlichen Antworten. Das kostete Monate und brachte kaum Erkenntnisse. Jeder unmittelbare Eindruck war weg, jede Gefühlsregung auf juristische Verwertbarkeit abgeklopft, Zschäpes Antworten wurden aseptisch gemacht. Aber das Gericht wollte jede Möglichkeit nutzen, um überhaupt irgendetwas aus Zschäpe herauszubekommen. Und die Angeklagte wusste ihre Macht zu nutzen.

So wie sich das Gericht auf Zschäpe einließ, mussten sich die Prozessbeteiligten ganz auf dieses Gericht einlassen.

Es gibt Richter, die erklären, was sie vorhaben. Es gibt Richter, die berücksichtigen sogar Wünsche der Anwälte. Und es gibt Manfred Götzl. Der weiß, was er vorhat. Und das muss reichen. Am Anfang war es Irritation, dann Ärger, am Ende Demut, in der sich die Prozessbeteiligten übten. Man empfand den Prozess bald wie das Wetter: Man muss es nehmen, wie es kommt. Mal gab es tagelange Pausen, mal ging alles hopplahopp.

Tag 375, 25. Juli 2017

Götzl: „Gibt es noch weitere Anträge oder Erklärungen? (Er schaut in die Runde.)Keine. Dann schließe ich die Beweisaufnahme und erteile Bundesanwalt Dr. Diemer das Wort."


Bundesanwalt Diemer (überrascht): „Ich habe, äh, meine Notizen noch oben."

Vorherzusehen ist in diesem Prozess nichts. Nur hin und wieder ließen die Richter erkennen, wie sie alles sehen. Dann zum Beispiel, wenn sie darüber zu entscheiden hatten, ob der Mitangeklagte Ralf Wohlleben, ein früherer NPD-Funktionär und überzeugter Neonazi, aus der schon jahrelang währenden Untersuchungshaft entlassen wird.

Sie ließen ihn nicht frei. Ihr Argument: Ihn erwarte eine hohe Haftstrafe, außerdem hätten sich seine Angaben als unglaubwürdig erwiesen. Das Gericht, so scheint es, glaubt eher Wohllebens und Zschäpes härtestem Belastungszeugen, dem Aussteiger Carsten Schultze. Er war früher selbst tief in der Neonazi-Szene verstrickt, hat alles auf den Tisch gepackt und sich dabei selbst schwer belastet. Alles deutet darauf hin, dass das Gericht am Ende für vier Angeklagte harte Urteile spricht – nur bei Carsten Schultze könnte es Milde walten lassen. Er war erst 20, als er dem NSU die Tatwaffe für neun der zehn Morde überbrachte.

Im Mittelpunkt dieses Prozesses steht eine Frau: Beate Zschäpe. Sie ist nur eine unter fünf Angeklagten. Doch auf sie konzentriert sich alles. Sie sitzt in der ersten Reihe, eingerahmt von ihren Anwälten. Ihr Vertrauensanwalt links, ihre drei alten Verteidiger rechts – mit einem Platz Abstand. Gegen diese drei alten Verteidiger hat sie Anzeige erstattet, erfolglos. Sie wollte sie abschütteln, mit heftigsten Vorwürfen. Vergebens. Sie grüßt sie nicht mehr, schaut sie nicht mal mehr an. Obwohl sie direkt neben ihr sitzen. Seit Sommer 2015 hält sie das durch. Schon das sagt viel über diese Frau aus, über sie und ihren Willen.

Man kennt dieses blasse, bleiche Gesicht. Es ist zur Ikone des NSU-Prozesses geworden. Diese langen Haare, die sie wie einen Vorhang herunterlässt, wenn es unangenehm wird. Dann klappt sie auch ihren Laptop mit den Gerichtsakten vor sich auf wie einen Wall. Unbewegt blickt sie auf die Zeugen, die da sprechen, weinen, flehen. Wenn sich in diesem Saal jemand im Griff hat, dann ist es Beate Zschäpe. Und sie hat auch ihre neuen Anwälte im Griff, den jungen Mathias Grasel, der neben ihr ausharrt, aber auch den Mann, der nur hin und wieder an ihrer Seite sitzt, Hermann Borchert, ihren Wahlverteidiger. Sie müssen mit ihr jede Erklärung absprechen, jede Antwort auf die Fragen des Gerichts. Sie besteht darauf, alles zuerst zu lesen. Selbst die Plädoyers ihrer Anwälte gingen erst zu ihr in die Haft. Und wenn sie will, dass etwas geändert wird, dann wird es geändert.

Es ist ganz klar, wer hier der Chef ist. Besser: die Chefin. Sie hat sich auch gegenüber dem Gericht durchgesetzt. Es hat ihr zu den drei alten Pflichtverteidigern mit Grasel einen vierten Verteidiger an die Seite gestellt, aus Steuermitteln. Auch in der Haft gilt sie als starke Persönlichkeit. Dort in München-Stadelheim ist sie die am längsten einsitzende Gefangene.

Doch gerade diese Stärke widerspricht so sehr ihrer Verteidigungsstrategie. Sie will sich als abhängiges Frauchen darstellen, das nur ihren Freund Uwe Böhnhardt liebte und nicht wollte, dass die beiden NSU-Männer auffliegen. Sie will dem Gericht weismachen, dass sie nie etwas von den Morden wusste, sondern alles erst im Nachhinein erfuhr. Und dann will sie immer entsetzt, geschockt, enttäuscht gewesen sein. Zehn Mal nacheinander. Danach fuhr sie mit ihren Freunden gerne in den Urlaub.


Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe im Urlaub auf einem Campingplatz
Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe im Urlaub auf einem Campingplatz

Der psychiatrische Sachverständige Henning Saß hat ihr attestiert, selbstbewusst, manipulativ und egozentrisch zu sein. Und man kann das ja auch selbst sehen: wie sie ganz ohne Scheu in den Pausen auf die Richterin einredet, die ihr am nächsten sitzt. Wie sie sich jovial mit Polizisten auf dem Transport unterhält. Wie sie mit ihrem Anwalt schäkert. Einmal war eine junge Frau aus Zwickau auf der Besuchertribüne, die mit ihr im gleichen Haus wohnte. Immer guter Laune sei Zschäpe damals gewesen, sagt das Mädchen, sie habe viel gelacht und den Kindern immer Geld und Süßigkeiten zugesteckt. Von Zwang und Angst keine Spur.

Außer bei ihrem letzen Wort am 3. Juli 2018 hat man nur einmal ihre Stimme gehört. Als sie am 313. Verhandlungstag, am 29. September 2016, eine kurze Erklärung vorlas: Dass sie keine Sympathie mehr für rechtsradikales Gedankengut habe, dass sie Gewalt ablehne. Und sie sagte den bemerkenswerten Satz: „Heute beurteile ich Menschen nicht nach ihrer Herkunft oder politischen Einstellung, sondern nach ihrem Benehmen.“

Tag 313 – 29. September 2017

Verteidiger Borchert: „Frau Zschäpe möchte selbst etwas sagen."


Beate Zschäpe: „Es ist mir ein Anliegen, Folgendes mitzuteilen: In der damaligen Zeit, zu der ich Uwe Böhnhardt und dessen Freundeskreis kennengelernt hatte, identifizierte ich mich durchaus mit Teilen des nationalistischen Gedankenguts, welches in dieser Gruppe propagiert wurde. Während der anschließenden Zeit unseres Untertauchens wurden diese Themen – wie beispielsweise die Angst vor Überfremdung – jedoch zunehmend unwichtiger für mich. Heute hege ich keine Sympathie mehr für nationalistisches Gedankengut. Ich bin der Auffassung, dass Gewalt niemals ein Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele sein sollte. Heute beurteile ich Menschen nicht nach ihrer Herkunft oder politischen Einstellung, sondern nach ihrem Benehmen. Ich verurteile das, was Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos ihren Opfern und deren Familien angetan haben, sowie mein eigenes Fehlverhalten, wie ich es in meinen bisherigen Stellungnahmen zum Ausdruck gebracht habe."

Dann legt sie das Blatt zurück, von dem sie ihre Alle Protokolle des NSU-Prozesses finden Sie hier.Erklärung abgelesen hatAlle Protokolle des NSU-Prozesses finden Sie hier. und weigert sich weiterhin, die Fragen der Familien der Opfer zu beantworten. Sie bleibt still, als die Mütter der Getöteten sie anflehen, ihnen zu erzählen, warum ihr Sohn sterben musste. Und als sich der Vater eines Opfers vor ihr auf den Boden legt und zeigt, wie er seinen Sohn gefunden hat, dreht sie den Kopf weg.

Beate Zschäpe ist am 2. Januar 1975 geboren, sie ist nun 43 Jahre alt. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird sie eine alte Frau sein, wenn sie aus dem Gefängnis entlassen wird. Wenn sie denn entlassen wird. Selbst für die von eigener Hand begangenen Taten droht ihr lebenslange Haft – sie hat ihren Unterschlupf in Zwickau in die Luft gesprengt und dabei drei Menschen in Lebensgefahr gebracht. Aber die Bundesanwaltschaft hält sie auch für die gleichberechtigte Mittäterin ihrer Männer – für die Dritte im Bunde, die alles wusste, alles wollte, ohne die es den NSU nicht gegeben hätte. Weil sie die Tarnung für die Mörder lieferte. Wenn sie deswegen verurteilt wird, droht ihr nicht nur lebenslang, sondern auch die Sicherungsverwahrung. Dann könnte sie nie wieder in Freiheit kommen.

Der Mann, der auf der Anklagebank hinter Beate Zschäpe sitzt, ist Ralf Wohlleben.

Ralf Wohlleben trägt mit Vorliebe karierte Hemden in Beige und Braun, dazu eine Strickjacke. Vor Verhandlungsbeginn holt er seinen Tetrapack Wasser aus dem Jutebeutel. Und wenn seine Frau als „Beistand“ schon auf der Anklagebank auf ihn wartet, gibt es als Erstes ein Küsschen für sie. Dann halten sie oft Händchen. In einer Vorabendserie wäre Wohlleben für die Rolle des Verwaltungsbeamten geeignet: harmlos, bieder, grau. Die Bundesanwaltschaft aber sieht in ihm das „Mastermind“ hinter dem NSU-Terror.

Am 27. Februar 2018 ist Wohlleben 43 Jahre alt geworden. Es ist der siebte Geburtstag in Folge, den er in Untersuchungshaft verbringt. Er hat zwei Kinder, die nun ohne den Vater großwerden. Denn geht es nach der Anklage, soll er noch sechs Jahre länger in Haft sitzen. Insgesamt zwölf Jahre hat die Bundesanwaltschaft für ihn gefordert. Er soll zusammen mit dem Mitangeklagten Carsten Schultze die Pistole Ceska 83 besorgt haben, mit der Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt neun Menschen erschossen. Wohlleben ist deswegen wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen angeklagt. Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt hat er mindestens bis 2001 geholfen, sich im Untergrund einzurichten. Er soll ihre Unterstützung koordiniert und organisiert haben.

Laut Anklage hatte er „überlegenes Sonderwissen“ und war die „steuernde Zentralfigur der Unterstützerszene“ des NSU.

Wohlleben selbst beteuert, von den Verbrechen seiner Freunde nichts gewusst zu haben. Vor Gericht gibt sich der ehemalige Thüringer NPD-Funktionär als friedliebender Patriot. Als Wohlleben im Dezember 2015 sein jahrelanges Schweigen brach, bestritt er den Vorwurf der Bundesanwaltschaft und behauptete: „Ich bedauere jede Gewalttat, durch die Menschen getötet oder verletzt werden.“ Anders als Beate Zschäpe beantwortete er auch Fragen des Gerichts. Da zeigte er sich als redegewandt und rhetorisch geübt. Man erkannte die NPD-Schule.

Wie sein Friedensbekenntnis allerdings zu dem T-Shirt passt, in dem er geschlafen hat, ist schwer zu erklären. Auf diesem T-Shirt steht das Wort „Eisenbahnromantik“ über dem Bild des Konzentrationslagers Auschwitz. An der Eisenbahnrampe dort wurden Hunderttausende Juden ausgesondert und ins Gas geschickt. Zu seinem Schlafanzug will er sich nicht äußern.

Nachdem alle seine Versuche, vorzeitig aus der Haft entlassen zu werden, scheiterten, wurde er auch im Gericht immer deutlicher. Aus dem angeblich braven Patrioten wurde der offene Neonazi. Als Wohlleben seinen Anwalt Olaf Klemke im Prozess beantragen ließ, einen Demografen zu hören, der den Deutschen den „Volkstod“ prophezeien sollte, verließen mehrere Nebenklagevertreter aus Protest den Saal.

Tag 340 – 25. Januar 2017

Anwalt Daimagüler: „Wenn sich der Angeklagte Wohlleben das zu eigen macht, was Herr Klemke eben vorgetragen hat, sind jegliche Zweifel an seiner ideologischen Ausrichtung ausgeräumt. Er will damit sagen, dass Menschen, die hier geboren sind, die Kinder haben, die Enkel haben, dass die keine Deutschen sind. Da wird das zutiefst menschenverachtende Denken sehr, sehr deutlich. Das ist Nazi-Jargon. Schon die Nazis schwadronierten vom Überlebenskampf des deutschen Volkes. Das führt dazu, dass ein İsmail Yaşar, ein Abdurrahim Özüdoğru, ein Enver Şimşek, die hier Jahrzehnte lebten, nicht dazugehören und nie dazugehören können nach dieser rassistischen Ideologie und in letzter Konsequenz getötet werden können."

Alle Protokolle des NSU-Prozesses finden Sie hier.Der „Volkstod“-Antrag wurde als Gruß von Wohlleben an die rechte Szene verstanden.Alle Protokolle des NSU-Prozesses finden Sie hier. Auch vor seiner Aussage im Prozess trieb Wohlleben offenbar die Sorge um, als Verräter zu gelten, wenn er sein Schweigen bricht. Auf Internetseiten verschiedener rechter Parteien ließ er vorab ein Schreiben seiner Anwälte verbreiten, in dem sie beteuerten: „Herr Wohlleben ist seinen Idealen und politischen Überzeugungen treu geblieben und wird dies auch in Zukunft bleiben.“ Wohllebens Aussage im NSU-Prozess bezeichneten sie als „Akt der Notwehr“. Seine rechten Kameraden danken ihm sein Treuebekenntnis mit Zeichen der Solidarität. In der Szene kursieren „Freiheit für Wolle“-T-Shirts. Wolle – das ist Wohllebens Spitzname.

Nicht im Gerichtssaal, sondern nebenan beim Bäcker war André Emingers Stimme in den ersten viereinhalb Jahren des Prozesses zu hören, morgens, wenn er einen Kaffee zum Mitnehmen bestellte. In Zimmermannshose, schwarzem Pullover und Lederweste stand er danach in immer derselben Ecke vor dem Eingang des Gerichts und wartete kaffeetrinkend auf den Verhandlungsbeginn. Dann schlenderte er demonstrativ lässig in den Saal. Während der Verhandlung hielt er konsequent den Mund. Was er zu sagen hatte, trug er als Botschaft am Körper.

„Brüder schweigen“ war einmal auf seinem Pullover zu lesen – als Zeugen aus der rechten Szene geladen waren. Unter dem Pullover, auf seinem Bauch, prangt ein Tattoo, das keine Fragen offen lässt: „Die Jew Die“, „Stirb, Jude, stirb“, und die Zahl 88, ein Neonazi-Code für „Heil Hitler“. Das Gericht ließ Fotos seiner Tätowierungen an die Wände des Saals werfen. Eminger, Jahrgang 1979, kommentierte es mit einem Grinsen.

Dieses Grinsen war sein durchgängiger Kommentar zu allem, was ihm vorgeworfen wurde. Er war sich sehr sicher, dass er billig davonkommen werde. Da könnte er sich getäuscht haben.

André Eminger, seine Frau Susann und seine Kinder besuchten Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach deren Untertauchen regelmäßig. Eminger versorgte sie mit Bahncards, mietete ihnen Wohnung und Wohnmobile an. Böhnhardt und Mundlos fuhren mit den Fahrzeugen nach Köln, um einen Bombenanschlag zu verüben, sie fuhren mit ihnen nach Chemnitz, um eine Post- und eine Sparkassenfiliale auszurauben. Eminger war es auch, den Zschäpe um Hilfe bat, nachdem sie am Tag des Suizids ihrer beiden Uwes das letzte NSU-Versteck in der Zwickauer Frühlingsstraße in Brand gesteckt hatte. Er gab ihr Kleidung seiner Frau und fuhr sie zum Bahnhof. Er war ihr engster Vertrauter, seine Frau Susann ihre beste Freundin.

Im Prozess dankte Zschäpe der Familie diese Treue mit der Behauptung, er habe zwar ab 2007 von den Raubüberfällen gewusst, von den Morden und Bombenanschlägen aber nie etwas erfahren. Die Bundesanwaltschaft glaubt ihr kein Wort, daran ließ Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten in seinem Schlussvortrag keinen Zweifel.

Tag 380 – 31. August 2017

Oberstaatsanwalt Weingarten: „Jetzt mal im Ernst. Man kann das nicht glauben. Man kann das nicht glauben, dass der Angeklagte Eminger von 1998 bis 2007, neun Jahre lang, neben Frau Zschäpe, Herrn Böhnhardt und Herrn Mundlos hertrottete, sie mit anderen Namen anspricht, keinen je arbeiten sieht, teils kostspielige Geschenke von ihnen erhält und nie, nie, nie fragt: 'Wovon lebt ihr eigentlich und warum im Untergrund?'"

Die Protokolle im Wortlaut und als Film finden Sie hier.Emingers Antwort ist ein Grinsen.Die Protokolle im Wortlaut und als Film finden Sie hier. Nach Überzeugung der Ankläger war Eminger ganz sicher nicht der ahnungslose Freund. Im Gegenteil: „Er hat alles gewusst“, sagte Weingarten. „Herr Eminger wusste genau, wem er hilft und was ihre verbrecherischen Absichten sind. Und er war aufgrund seiner eigenen rechtsextremistischen Einstellung damit einverstanden.“ 

Die Bundesanwaltschaft deutete an, dass Eminger möglicherweise das vierte Mitglied des NSU gewesen ist. Nur beweisen lasse es sich nicht. Seinen Freunden richtete Eminger Lesen Sie hier, wie Böhnhardt und Mundlos starben.nach ihrem TodLesen Sie hier, wie Böhnhardt und Mundlos starben. in seinem Wohnzimmer eine Art Altar ein – mit selbstgemalten Porträts von Mundlos und Böhnhardt und dem altdeutschen Schriftzug „Unvergessen“. Für die Bundesanwaltschaft ist das eine „geständnisgleiche Wohnzimmergestaltung“.

Auch sonst hielt Eminger nicht hinter den Berg mit seiner Haltung. Wenn Angehörige von Getöteten auf dem Vorplatz des Gerichts standen, schlenderte er aufreizend nah an ihnen vorbei. Er ging zu Demonstrationen des Münchner Pegida-Ablegers. Im Gerichtssaal las er dann meist Motorradhefte.

Die Bundesanwaltschaft will, dass Eminger unter anderem wegen Beihilfe zum versuchten Mord zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt wird. Im September 2017 beantragte sie überraschend, ihn wegen Fluchtgefahr sofort in Untersuchungshaft zu nehmen. Eminger grinste ausnahmsweise nicht. Das Gericht erließ gleich am nächsten Tag Haftbefehl. Seither sitzt Eminger im Gefängnis. Zum Bäcker für den Morgenkaffee kann er nun nicht mehr. Die Haft hat ihn verändert. Aus dem dicklichen ist innerhalb weniger Monate ein hagerer Mann geworden. Das Grinsen im Gesicht ist ihm geblieben. Seine Geisteshaltung auch.

Hinten links auf der Anklagebank wirkt Holger Gerlach häufig so, als ginge ihn das alles nichts an, was da vor Gericht besprochen wird. Er kippelt mit seinem Stuhl, nutzt kurze Pausen für ein Nickerchen und kämpft auch während der Verhandlung gegen die Müdigkeit.

Tag 358 – 25. April 2017

Zschäpes Verteidigerin Anja Sturm verliest seit gut 20 Minuten einen Beweisantrag.
Richter Götzl: „Frau Rechtsanwältin Sturm, Entschuldigung, dass ich unterbreche. Herr Gerlach, Sie sind noch voll bei der Sache?"

Richter Götzl entgeht kaum etwas. Dösende Angeklagte schon gar nicht. Holger Gerlach, Jahrgang 1974, ist nicht nur Angeklagter. Er ist auch ein wichtiger Belastungszeuge gegen Beate Zschäpe.

Gerlach hat als Lagerist gearbeitet, nahm Drogen, war spielsüchtig. Er kennt Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt seit ihrer gemeinsamen Jugend in Jena. Er teilte mit seinen Freunden ihr rassistisches und antisemitisches Weltbild. Wie Böhnhardt trug auch er gern SA-ähnliche Uniformen. Oder warf Flugblätter auf ein Denkmal für die Opfer des Faschismus: „Deutsche lernt wieder aufrecht zu stehen“ stand darauf. Er unterstützte seine Freunde bis zuletzt. Mit seinem Reisepass und seinem Führerschein mieteten die NSU-Terroristen die Wohnmobile, mit denen sie durch Deutschland fuhren, um Menschen zu ermorden. Auch eine Waffe brachte er ihnen, allerdings nicht die Tatwaffe für die vom NSU begangenen Morde. Zschäpe holte Gerlach damals vom Bahnhof ab und schaute zu, als einer der Uwes die Waffe durchlud.

Im Ermittlungsverfahren hat Gerlach erst wenig, dann immer mehr ausgesagt. Er beschreibt Zschäpe als durchsetzungsstark und dominant. Sie habe sich um die Finanzen der drei gekümmert. Und er belastete auch Wohlleben schwer. Wohlleben sei es gewesen, der ihn mit einer Waffe zu den dreien geschickt habe. Bei der Polizei hatte Gerlach noch frei gesprochen, im Gericht las er sein Geständnis vom Blatt ab. Er war nervös, zappelig. Er sprach so hastig, dass der Richter ihn mehrmals ermahnte, langsamer zu lesen.

Tag 7 – 6. Juni 2013

Richter Götzl: „Will Herr Gerlach zur Sache aussagen?"


Verteidiger Hachmeister: „Unser Mandant will dazu eine Erklärung verlesen."


Holger Gerlach: „Hohes Gericht, zuerst möchte ich den Angehörigen das Beileid aussprechen. Ich bin entsetzt über das Leid, das diese sinnlosen Taten über die Familien gebracht haben. Ich bin bereit, für meinen Teil die Verantwortung zu übernehmen. Mein Tatbeitrag ist nicht so, wie vom Generalbundesanwalt dargestellt. Ich habe Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos in den Neunzigerjahren kennengelernt, sie haben eine Autorität verkörpert in der Szene. Wir haben darüber diskutiert, ob wir unsere Ansichten mit Gewalt durchsetzen sollen. Es war eine theoretische Diskussion, ich habe es nicht für möglich gehalten, dass die drei Gewalt in dem hier vorgeworfenen Ausmaß ausüben könnten. Das hätte ich ihnen nicht zugetraut. (Er liest weiter vor und wendet sich irgendwann an den Richter.) Wenn Sie mich für naiv und bescheuert halten, dann kann ich Ihnen nur recht geben. Dass die drei Straftaten begehen würden, habe ich nie im Leben geglaubt."

Fragen des Gerichts und der anderen Prozessbeteiligten beantwortete Gerlach nicht. Zu den Wortlautprotokollen des Prozesses geht es hier.Der Richter fragte immer wieder nach.Zu den Wortlautprotokollen des Prozesses geht es hier. Doch Gerlach schwieg. Das könnte für ihn nun zum Problem werden.

Die Bundesanwaltschaft glaubt ihm, dass er nichts von den Morden und Bombenanschlägen wusste. Und da die Waffe, die er überbrachte, keiner Tat zugeordnet werden konnte, ist er nur wegen Unterstützung des NSU angeklagt, nicht wegen Beihilfe zum Mord. Fünf Jahre Gefängnis fordern die Ankläger für ihn. Für die Bundesanwaltschaft ist klar: „Holger Gerlach war die Freundschaft zu Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt immer wichtiger als das Leben von Ausländern.“

Ganz hinten auf der Anklagebank sitzt Carsten Schultze. Schultze, Jahrgang 1980, steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Es ist einer der ersten Verhandlungstage im NSU-Prozess, als das Gericht Fotos des ermordeten Abdurrahim Özüdoğru an die Wände des Saals projiziert. Beate Zschäpe guckt ruckartig weg, als das erste Leichenfoto erscheint. Carsten Schultze guckt nicht weg. Er zwingt sich hinzusehen. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er auf die furchtbaren Bilder. Er war es, der dem NSU die Pistole besorgt haben soll, mit der sie dem türkischen Schneider und acht weiteren Männern in den Kopf schossen.

Schultze war 20 Jahre alt, als er den Auftrag bekam, Mundlos, Böhnhardt und wohl auch Zschäpe eine Waffe zu besorgen. Ralf Wohlleben habe ihm das Geld gegeben und ihm auch gesagt, an wen er sich wenden solle, so gestand es Schultze gleich nach seiner Festnahme. Er schonte weder sich noch seine damaligen Freunde. Er gestand, den dreien nicht nur eine Waffe, sondern auch Schalldämpfer und Munition gebracht zu haben.

Vor Gericht hat er sich als einziger Angeklagter allen Fragen gestellt. Er hat geweint, gelitten, sich geschämt und gequält. Nur durch seine Aussage ist bekannt geworden, dass es noch einen dritten – nicht angeklagten – Bombenanschlag des NSU gab, mit einer präparierten Taschenlampe in einer Nürnberger Kneipe.

Tag 8 – 11. Juni 2013

Richter Götzl: „Dann kommen wir jetzt zu Herrn Schultze. Sie möchten sich noch weiter äußern?"


Carsten Schultze: „Ich bin an einem Punkt angekommen, wo ich reinen Tisch machen möchte. Ich stelle mich meinen Geistern." (Er berichtet von einem Treffen mit Mundlos und Böhnhardt in einem Café in einem Einkaufszentrum in Chemnitz.) "Die beiden haben an ihren Rucksack getippt und haben gesagt: Wir sind immer bewaffnet. Dann haben sie gesagt, dass sie in Nürnberg eine Taschenlampe in ein Geschäft gestellt haben." (Schultze beginnt zu weinen.) "Ich wusste nicht, was die meinen. Mir kam der Gedanke nachts, dass die da Sprengstoff eingebaut haben in die Taschenlampe. Das konnte ich mir nicht vorstellen, das war jetzt eine Ausnahme, habe ich mir gesagt. Das habe ich niemandem gesagt, das hab ich ganz schnell wieder weggetan." (Er schnieft.)

Carsten Schultze ist der einzige Angeklagte, bei dem es keinen Zweifel gibt, dass er nichts mehr mit der Neonaziszene zu tun hat. Wenige Monate nach der Waffenlieferung brach er mit seinen Neonazi-Freunden, beendete seine Karriere in der NPD, bekannte sich zu seiner Homosexualität und begann ein neues Leben. Schultze zog nach Düsseldorf, studierte Sozialpädagogik, arbeitete in einem schwul-lesbischen Jugendprojekt und bei der Aids-Hilfe. Sein neues Leben endete im Februar 2012, als schwer bewaffnete Polizisten seine Wohnung stürmten.

Die Bundesanwaltschaft wirft Schultze vor, genau gewusst zu haben, dass er die schallgedämpfte Pistole in die Hände dreier gewaltbereiter Neonazis gab. Er habe sich damit der Beihilfe zum Mord in neun Fällen schuldig gemacht. Denn wozu sonst soll ein Schalldämpfer dienen als zum lautlosen Töten? Doch er war jung, erst 20, als er die Mordwaffe übergab. Und ein Psychiater hat ihm bescheinigt, damals noch unreif gewesen zu sein. Also gilt für ihn Jugendstrafrecht. Drei Jahre Gefängnis forderte die Bundesanwaltschaft für ihn. Viele Nebenkläger baten das Gericht daraufhin, Schultze milder zu bestrafen. Ihnen reicht eine Bewährungsstrafe. Sie glauben ihm seine Reue und nehmen seine Entschuldigung an. Im Februar 2018 sprach die Witwe von Theodoros Boulgarides ihr Schlusswort im NSU-Prozess. Ihr Mann wurde 2005 in München erschossen. Überraschend berichtete die Witwe, dass sie und ihre beiden Töchter sich vor Weihnachten 2017 mit Schultze getroffen haben. Auch sie glauben ihm, dass er seine Tat zutiefst bereut.

Tag 411 – 8. Februar 2018

Yvonne Boulgarides: „Uns ist bewusst, dass die folgenden Ausführungen bei einigen auf Unverständnis stoßen werden. Dennoch haben wir uns dazu entschieden, diesen Weg zu gehen. Über die vermittelnden Rechtsanwälte kam ein persönliches Gespräch mit Herrn Carsten Schultze zustande. Dieses Zusammenkommen war einer der schwierigsten, aber auch einer der emotionalsten Momente in unserem Leben. Herrn Schultze haben wir in diesem Gespräch als einen Menschen erlebt, der sein Mitwirken zutiefst bereute und dem das eigene Gewissen bereits den größten Teil seiner Strafe auferlegt hat. Jemand, der über ein Unrechtsbewusstsein verfügt und der zur Reue fähig ist. Eigenschaften, die wir bei den anderen Angeklagten in all der Zeit beim besten Willen nicht ausmachen konnten. Wir wünschen uns, dass ihm sein Strafmaß die Möglichkeit gibt, sein Leben in positivere Bahnen zu lenken."

Schultze ist zwar nicht in Untersuchungshaft, aber doch seit Jahren in einer anderen Art Gefängnis. Wegen befürchteter Racheakte lebt er seit 2012 bewacht vom Bundeskriminalamt an einem geheimen Ort.

Wenn Beate Zschäpe morgens, Viertel vor zehn, in den Verhandlungssaal eilt, läuft sie schnurstracks auf Mathias Grasel zu, schenkt ihm ein strahlendes Lächeln, gibt ihm die Hand und beginnt zu plaudern. Grasel lächelt schüchtern zurück, manchmal nickt er. Und anfangs stellte er auch den Ellenbogen zwischen sich und Zschäpe auf, als hätte er Angst, dass sie ihm zu nahe kommt.

Als Grasel im Sommer 2015 die Verteidigung von Beate Zschäpe übernimmt, ist er gerade 31 Jahre alt. Er hat gut zwei Jahre Beweisaufnahme und alle wesentlichen Zeugenaussagen verpasst. Er hat weder viel Erfahrung als Strafverteidiger noch Kenntnis der Akten. Aber er hat Chuzpe und vor allem Zschäpe. Wenn er etwas wissen will, fragt er seine neun Jahre ältere Mandantin. Zschäpe gefällt das. Sie schenkt ihm ihr Vertrauen – und straft ihre ursprünglichen Verteidiger Anja Sturm, Wolfgang Heer und Wolfgang Stahl fortan mit konsequenter Missachtung.

Heer hatte im Herbst 2011 als Erster ihre Verteidigung übernommen. Er holte Stahl und Sturm hinzu. Dass Sturm sich für Zschäpe entschied, führte zum Zerwürfnis mit ihrer Berliner Kanzlei. Sie verließ nicht Zschäpe, sondern Berlin und fand in der Kanzlei von Heer eine neue Heimat in Köln.

Die vier schienen gut zu harmonieren. Vor allem mit Heer wirkte Zschäpe vertraut. Es war die Zeit, in der regelmäßig eine Bonbondose vor ihnen stand, aus der sie gemeinsam Lakritze naschten. Die beiden tuschelten auf der Anklagebank, lachten. Im Juli 2014 dann der Eklat: Zschäpe ließ dem Gericht ausrichten, dass sie kein Vertrauen mehr zu ihren Anwälten habe. Heer, Stahl und Sturm wirkten vollkommen überrumpelt. Zschäpe scheiterte mit diesem und jedem weiteren Antrag, ihre Verteidiger loszuwerden. Das Gericht kam ihr trotzdem entgegen. Im Juli 2015 bekam sie mit Grasel einen neuen, einen vierten Pflichtverteidiger. Zschäpes Kopfschmerzen, ihre Mattigkeit und ihr Unwohlsein, das zuvor zu mehreren Unterbrechungen der Verhandlung geführt hatte, waren wie weggeblasen. Sie scherzte, tuschelte, lachte wieder. Nun mit Grasel.

Im Hintergrund zog schon damals der Münchner Verteidiger Hermann Borchert die Fäden. Im NSU-Prozess trat er erstmals im Dezember 2015 öffentlich als Zschäpes Wahlverteidiger auf. Mit ihm hatte Zschäpe auch besprochen, dass sie ihr Schweigen bricht. Der Senat wusste Bescheid; Heer, Stahl und Sturm wussten von nichts. Über Wochen feilten Zschäpe und ihre neuen Verteidiger an ihrer Aussage. Aber bevor sie verlesen werden konnte, wollte Borchert erst noch in Urlaub fahren. Das Gericht ließ er warten, drei Wochen lang.

Die alten Verteidiger Heer, Stahl und Sturm, die ihrer Mandantin dringend zum Schweigen geraten hatten, setzten nach einer kurzen Schockphase ihre Arbeit fort. Sie stritten mit der Bundesanwaltschaft, kämpften gegen den Sachverständigen an, der Zschäpe Dominanz und Gefährlichkeit attestiert hatte, legten sich mit Nebenklagevertretern an. Sie verteidigten Zschäpe weiter, ob sie wollte oder nicht. Zschäpe wollte nicht. Sie sprach nie wieder ein Wort mit ihnen und legte ihre Verteidigung ganz in die Hände von Borchert und Grasel.

Borchert kam nur hin und wieder in den Saal, dann, wenn er es für wichtig hielt. Entweder überraschte Zschäpe dann mit ihren ersten selbst gesprochenen Worten. Oder Borchert brachte einen Psychiater mit, der mit großem Pathos Zschäpes Unschuld behauptete. Doch so groß des Psychiaters Selbstbewusstsein, so gering war seine forensisch-psychiatrische Kompetenz. Zum Verhängnis wurde dem Psychiater eine Mail, in der er den NSU-Prozess mit einer „Hexenverbrennung“ verglich. Die Richter lehnten den Gutachter als befangen ab. Ein einzigartiger Vorgang im NSU-Prozess. Und eine Blamage für Borchert und Grasel. Zschäpe schien das alles nicht zu stören.

Die Verteidiger von André Eminger hielten es jahrelang wie ihr Mandant: Sie schwiegen. Erst als Eminger im September 2017 in Untersuchungshaft kam, wurden sie aktiv. Mit einer Serie von Befangenheitsanträgen gegen das Gericht blockierten die Berliner Verteidiger Michael Kaiser und Herbert Hedrich über Wochen den Fortgang des Prozesses. Erfolg hatten sie nicht. Die Richter blieben auf der Richterbank, Eminger blieb im Gefängnis.

Während der stark tätowierte Eminger sofort als Angeklagter zu identifizieren war, konnte man den eher farblosen Ralf Wohlleben zwischen seinen drei Verteidigern leicht übersehen. Seine Anwältin Nicole Schneiders wechselte nahezu wöchentlich ihre Haarfarbe von Rot über Blond über Weiß bis Braun.

Anwalt Olaf Klemke trägt Glatze, ist juristisch mit allen Wassern gewaschen und gefiel sich in der Rolle des Bad Guy. Anwalt Wolfram Nahrath stammt aus einer Familie überzeugter Nationalsozialisten, fällt selbst eher nicht aus dieser Reihe und verteidigt mit Verve Holocaustleugner. Nach seinem Vater und Großvater war er der letzte Anführer der 1994 verbotenen rechtsextremen Wiking-Jugend.

Anwältin Schneiders gab in ihrer Zeit in Jena, wo sie Wohlleben kennenlernte, Rechtsschulungen für NPD-Leute und erklärte ihnen, wie man sich bei Hausdurchsuchungen juristisch wehrt. Sie arbeitet seit 2018 in ihrer Kanzlei mit dem Juristen und früheren Sänger der rechtsextremen Band „Noie Werte“, Steffen Hammer, zusammen. Er sang ein Hetzlied über Ausländer, das den NSU-Mördern so gut gefiel, dass sie ihre ersten Versionen des Bekennervideos damit unterlegten. Einmal war Hammer auch im Gerichtssaal: Er saß den Angehörigen der Opferfamilie Şimşek gegenüber.

Scheu, vor Gericht rechtsextreme Propaganda zu betreiben, hatten Schneiders, Klemke und Nahrath nicht. So beantragten sie auch, den letzten Krankenpfleger von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß als Zeugen zu hören. Heß wird unter Neonazis als Held verehrt, sein Suizid als Mord dargestellt. Letzteres sollte auch der Zeuge tun. Das Gericht lehnte ab.

Obwohl das Gericht immer wieder nachfragte, haben die Anwälte Stefan Hachmeister und Pajam Rokni-Yazdi aus Hannover ihren Mandanten Holger Gerlach nicht dazu gebracht, auf die Fragen von Gericht und Nebenklage zu antworten. Lediglich ein Statement hat er am Anfang heruntergehaspelt, in dem er seine wichtigsten Angaben bei der Polizei bestätigte. Danach saß er nur noch still in der letzten Reihe. So wie seine Anwälte.

Johannes Pausch und Jacob Hösl haben ihren Mandanten Carsten Schultze von Anfang an auf eines eingeschworen: größte Offenheit. Sie haben eine stringente Verteidigungslinie gezogen, die nicht nur bei der Bundesanwaltschaft verfangen, sondern auch die Nebenkläger überzeugt hat – bis dahin, dass mehrere Opferfamilien das Gericht baten, Carsten Schultze nur zu einer Bewährungsstrafe zu verurteilen. Pausch ist ein erfahrener Verteidiger, der sich um seine Mandanten oft geradezu väterlich kümmert. So hat er auch Daniel S., ein Mitglied der islamistischen Sauerlandzelle, nicht nur vor Gericht betreut, sondern auch noch lange danach. Hösl ist vor allem in der schwulen Szene bekannt, als Kämpfer gegen die Diskriminierung von HIV-Infizierten. Sowohl Hösl wie Pausch pflegen einen ruhigen, sachlichen Ton. Sie spielen sich nicht auf. So erfuhr das Gericht erst von der Witwe eines NSU-Opfers, dass die Anwälte ein Treffen der Familie mit Carsten Schultze vermittelt hatten. Außerhalb des Gerichtssaals.

Herbert Diemer, Jahrgang 1953, ist ein konservativer Knochen. Das kann man so sagen, ohne dass er widersprechen würde. Er arbeitet seit bald 30 Jahren für den Generalbundesanwalt und kommt aus einer Zeit, als Rechte und Linke, Männer und Frauen noch in sehr getrennten Welten lebten. So ist es für ihn kein Widerspruch, eine Opferanwältin für ihren Fleiß zu loben, aber dennoch ihre Beweisanträge als irrelevant abzutun. Oder einer Verteidigerin zu sagen, sie erinnere ihn an seine Tochter. Er meinte es als Entschuldigung, nachdem er sie im Gericht gerade angeherrscht hatte, sie habe „stillzuschweigen“, wenn die Bundesanwaltschaft spricht. Diemer ist immer wieder mit seiner Wortwahl aufgefallen.

Tag 375 – 25. Juli 2017

Bundesanwalt Diemer: (Es ist der erste Tag des Plädoyers der Bundesanwaltschaft. Diemer kommt schließlich zum Ende seines ersten Teils.) „Der Anschlag auf die beiden Polizeibeamten war ein Angriff auf unseren Staat, seine Vertreter und Symbole. Die Auswahl der Personen selbst geschah auch hier willkürlich. Alle anderen Spekulationen selbsternannter Experten, die so tun, als habe es diese Beweisaufnahme vor dem Oberlandesgericht nicht gegeben, sind wie Irrlichter, sind wie Fliegengesumme in den Ohren. Die Täter, das werden wir darlegen, waren Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. Sie waren es, die als sogenannter NSU das Land mit diesem Terror überzogen und dieses Unheil angerichtet haben. Sie waren es, die all diese angeklagten Straftaten begingen, in Mittäterschaft als Mitglieder einer terroristischen Vereinigung, unterstützt durch die vier anderen Angeklagten. Die überlebenden Täter und ihre Unterstützer und Gehilfen sitzen hier, sie heißen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, Holger Gerlach, André Eminger und Carsten Schultze."

Kein anderer Fall hat Diemer und seine Mitarbeiter über so viele Jahre so intensiv beschäftigt wie der NSU-Komplex. Oberstaatsanwältin Anette Greger, Jahrgang 1966, weiß so viel über Beate Zschäpe, wie wohl nur Zschäpe selbst es tut. Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten, Jahrgang 1969, weiß alles über den verschlungenen Weg der Ceska 83 zu Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Neun Menschen ermordete der NSU mit der Pistole.

Für Diemer ist der Prozess gegen Zschäpe und die vier Mitangeklagten ein Erfolg. Schon seine Anklage hatte das Gericht in allen Punkten zugelassen. Und auch in den Jahren darauf folgten die Richter häufig den Einschätzungen der Bundesanwaltschaft. Das bekam auch der Angeklagte André Eminger zu spüren. Im September 2017 beantragte Diemer überraschend nicht nur zwölf Jahre Gefängnis, sondern auch sofortige Untersuchungshaft für den bekennenden Neonazi. Gleich am nächsten Tag unterschrieben die Richter den Haftbefehl.

Vor Gericht überließ Diemer die Bühne meist Oberstaatsanwalt Weingarten, mit dessen Eloquenz es niemand im Saal aufnehmen konnte. Einem Verteidiger warf Weingarten einmal „unerträgliches feuilletonistisches Räsonieren" vor. Eine typische Weingarten-Formulierung. Der Respekt, den die Verteidigung ihm entgegenbrachte, war spürbar – das Misstrauen mancher Opferanwälte auch. Sie konnten kaum glauben, dass sich die Bundesanwaltschaft nicht mit der Rolle der Sicherheitsbehörden auseinandersetzte. Kein Wort über falsche Verdächtigungen gegen Opferfamilien. Kein Wort über geschredderte Akten beim Verfassungsschutz. Stattdessen ein Lob für dessen V-Leute, die wesentlich zur Aufklärung beigetragen hätten. Dabei standen immer wieder Beamte des Verfassungsschutzes als Zeugen im Gericht und mauerten.

Viele Opferanwälte werfen der Bundesanwaltschaft vor, die Augen davor zu verschließen, dass die NSU-Terroristen Helfer an den Tatorten gehabt haben müssen. Diemer, Greger und Weingarten stellten sich im November 2011, als der NSU aufflog, dieselben Fragen: Was hat die unheimliche Nähe des Verfassungsschutzes zu den mordenden Neonazis zu bedeuten? Die Antwort, die sie fanden, kommt manchen zu simpel vor: Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt haben allein gemordet, sie haben sich abgeschottet von der rechten Szene, in der es vor V-Männern wimmelte, Hinweise auf eine Verstrickung des Verfassungsschutzes gibt es für sie nicht.

Am Ende hat die Bundesanwaltschaft hohe Haftstrafen für die Angeklagten gefordert: lebenslang und Sicherungsverwahrung für Zschäpe, zwölf Jahre für Wohlleben und Eminger, fünf Jahre für Holger Gerlach und drei Jahre für Carsten Schultze.

Die Nebenkläger und ihre Vertreter

Immer wieder mal sind sie da. Die Väter, die Mütter, die Kinder der Getöteten. Sie sitzen still hinten im Saal, Richter Götzl begrüßt sie jedes Mal kurz. Lesen Sie hier, wie sich Abdul Kerim Şimşek, Sohn des ersten NSU-Opfers Enver Şimşek, vor Gericht äußerte.Immer wieder haben sie sich auch zu Wort gemeldetLesen Sie hier, wie sich Abdul Kerim Şimşek, Sohn des ersten NSU-Opfers Enver Şimşek, vor Gericht äußerte.. Die Mutter des getöteten Halit Yozgat ruft Zschäpe zu: „Ich spreche Sie als Mutter an. Ich bitte Sie, dass Sie all diese Vorfälle aufklären.” Seit ihr Sohn im Jahr 2006 ermordet wurde, schreckt sie jede Nacht auf. Sie bittet Zschäpe: „Denken Sie bitte immer an mich, wenn Sie sich ins Bett legen. Denken Sie daran, dass ich nicht schlafen kann.”

Da ist der Vater aus Hamburg, der seinen toten Sohn fand und nun sagt: „Sie haben mir mein Herz abgerissen.“ Da ist der Vater aus Kassel, der nicht glauben kann, dass der Verfassungsschützer nichts vom Mord an seinem Sohn mitbekam, der ausgerechnet an jenem Tag in seinem Internetcafé saß. Dort, wo der Sohn erschossen wurde. Der Vater glaubt, der Verfassungsschützer habe seinen Sohn getötet oder zumindest gesehen, wer es war. Und da ist die stolze Ärztin aus Köln, die als 19-Jährige fast gestorben wäre – die NSU-Mörder hatten im Laden ihrer Familie eine Bombe deponiert, versteckt in einer Christstollendose. Die Bombe hat ihr das Gesicht zerrissen, drei Monate vor dem Abitur. Heute ist sie Chirurgin.

Tag 118 – 4. Juni 2014

Anwalt Daimagüler: „Haben Sie je erwogen, Deutschland zu verlassen?"
M.M.: „Wenn du mitbekommst, du wirst wegen deiner Herkunft so angegriffen, dann ist der erste Gedanke: Was soll ich denn noch hier? Ich hab mir so viel Mühe gegeben, ich bin ein Muster an Integration. Aber das war ja die Absicht dieser Leute. Im Nachhinein habe ich deshalb gedacht: Nein, jetzt erst recht! So leicht lasse ich mich nicht aus Deutschland rausjagen."(Beifall von der Zuschauertribüne.)

Es sind bemerkenswerte Auftritte. Sämtliche Protokolle des Prozesses finden Sie hier.Der junge Polizist, dem die NSU-Täter in den Kopf schossen, erzählt da, wie er aus dem Koma erwachte und das alles für einen Unfall hielt. Sämtliche Protokolle des Prozesses finden Sie hier.Und wie er zusammenklappte, als die Kollegen ihm sagten, seine Kollegin sei tot. Er, der so gerne Streifenpolizist war, kann nur noch im Innendienst arbeiten. Er hält sich beim Reinkommen an den Stühlen im Gerichtssaal fest, damit er nicht das Gleichgewicht verliert.

Man sieht in diesem Gerichtssaal so viele verwundete, versehrte Menschen, am Körper und mehr noch an der Seele. Und man sieht, mit welcher Kraft sie sich aufrecht halten. Auch der Mann, der in der Keupstraße direkt neben dem Rad stand, das die NSU-Mörder hochjagten. Zehn-Zentimeter-lange Zimmermannsnägel bohrten sich in seinen Körper, mehrmals wurde er operiert, seine Haut transplantiert. Er ist bis heute gezeichnet.

All diese Menschen werden von Anwälten vertreten. Die einen mehr, die anderen weniger. Es gibt die engagierten Nebenklageanwälte wie Sebastian Scharmer und Antonia von der Behrens aus Berlin oder Seda Basay-Yildiz aus Frankfurt. Sie hängen sich rein, recherchieren, stellen Fragen, grillen die Zeugen, stellen Beweisanträge. Sie kennen die Akten. Es gibt Anwälte wie Mehmet Daimagüler, der perfekt herausarbeitet, was die Taten für diese Gesellschaft bedeuten. Es gibt Anwälte, die sogar selbst auf Reisen gehen und versuchen, noch mehr herauszufinden als das Bundeskriminalamt. Manchmal gelingt ihnen das sogar.

Und es gibt die anderen. Anwälte, die ihre Mandanten noch nicht einmal darauf vorbereiten, was sie im Gerichtssaal erwartet. Die die Witwe allein auf dem Zeugenstuhl sitzen lassen, so dass sie von Richter Götzl aufgefordert werden, ihre Arbeit zu verrichten. Es gibt Anwälte, die den Gerichtssaal als Wärmestube sehen, in dem sich am Laptop die Kanzleiarbeit erledigen lässt, während man nebenbei den Tagessatz von bis zu 890 Euro fürs bloße Dasitzen einstreicht – bezahlt aus Steuergeld. Und einer hat sogar eine Mandantin vertreten, die er nie gesehen hat. Jene Meral Keskin, die dreimal vom Gericht geladen war und nicht kam. Einmal hatte sie den Flieger aus der Türkei verpasst, einmal war sie angeblich auf dem Weg ins Gericht zusammengebrochen. Beim dritten Mal musste der Anwalt zugeben, dass er noch nie mit der Frau gesprochen hatte. Es stellte sich heraus, dass es sie nicht gibt. Der Anwalt soll nun 211.000 Euro an Honorar und Reisekosten ans Gericht zurückzahlen.

Am Ende haben die Nebenkläger ihre Schlussplädoyers gehalten. Wie alles in diesem Prozess dauerte auch das länger. Nicht ein paar Tage, nicht ein paar Wochen. Sondern Monate. Von Herbst 2017 bis Februar 2018 plädierten die Nebenkläger: Das waren mal Doktorarbeiten voll juristischer Finessen, mal prägnante politische Reden, mal nur kurze Statements, um zu zeigen: Man war auch dabei. Viele der Anwälte halten es für erwiesen, dass die NSU-Mörder noch mehr Helfer hatten als auf der Anklagebank sitzen. Und dass der Verfassungsschutz zumindest fahrlässig gehandelt hat, als er die Hinweise auf das Neonazi-Trio nicht ernst nahm.

Wenn Richter Götzl das Urteil des 6. Strafsenats verkündet, wird die Luft im Saal zum Schneiden sein. Alle werden da sein: alle Angeklagten, alle Verteidiger, alle Ankläger, alle Nebenklagevertreter und sehr viele Menschen, denen der NSU Väter, Männer oder Söhne genommen hat. Auf der Besuchertribüne werden sich die Zuschauer drängen – die meisten von ihnen übernächtigt, weil sie schon seit Stunden vor dem Gerichtsgebäude auf Einlass warten. 

Sie haben noch im Kopf, was Beate Zschäpe in ihrem letzten Wort gesagt hat. Wie sie an das Gericht appellierte, unbelastet von öffentlichem oder politischem Druck zu urteilen. Wie sie beteuerte, ein mitfühlender Mensch zu sein. Ihr letzter Satz lautete: „Bitte verurteilen Sie mich nicht stellvertretend für etwas, was ich weder gewollt noch getan habe.“

Welche Bilanz SZ-Gerichtsreporterin Annette Ramelsberger nach fünf Jahren im Gericht zieht, sehen Sie hier.Nach fünf Jahren wird dieser Prozess nun zu einem Ende kommenWelche Bilanz SZ-Gerichtsreporterin Annette Ramelsberger nach fünf Jahren im Gericht zieht, sehen Sie hier. und es werden die ersten Sätze sein, auf die alle so sehr warten ­– die Sätze, mit denen Richter Götzl klarmacht, ob das Gericht Beate Zschäpe für ein verführtes Mädchen hält oder für eine überzeugte Mittäterin in einem mörderischen Trio.

Und ob das Gericht sie für immer hinter Gitter schickt.

Doch viel interessanter sind die zweiten und dritten Sätze. Denn darin könnte das Gericht jenseits der Schuld der Angeklagten noch viel mehr feststellen: das, was seit der deutschen Wiedervereinigung schiefgelaufen ist, das Versagen des Verfassungsschutzes, das Mauern der rechten Szene, die Blindheit der Ermittler. Es könnte dann nicht nur ein Urteil sprechen, das vor dem Bundesgerichtshof Bestand hat, sondern ein Urteil, das auch vor der Geschichte besteht.

Es könnte ein historisches Urteil sein, in einem Jahrhundertprozess.

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