Afghanistan

Protokoll eines blutigen Heimatbesuchs

Drei Tage saß Ashkan mit einer Schussverletzung in Kabul fest, bevor er evakuiert wurde. Dabei ist Ashkan deutscher Staatsbürger.

Von Henrik Rampe

14. September 2021 - 14 Min. Lesezeit

Es gibt ein Foto von Ashkan vor seinem Abflug in seine Heimat Afghanistan, wie er vor dem Gate am Frankfurter Flughafen steht. Glücklich, den Koffer voller Schokolade für die Familie. Von dem Moment seiner Rückkehr nach Frankfurt – genau einen Monat später – gibt es kein Foto. Dafür Polizeiprotokolle. Und seine Krankenakte, weil die Sanitäter ihn direkt vom Flughafen Frankfurt im Krankenwagen in den OP-Saal fahren. In seinem Arm sind da schon seit fast drei Tagen Granatsplitter, Überreste einer Kugel.

Ashkan ist wohl einer von nur zwei deutschen Staatsbürgern, die im Chaos Kabuls verletzt worden sind, bevor sie evakuiert werden konnten. Und Ashkan heißt eigentlich anders. Um seine Familie zu schützen, die weiter in Afghanistan lebt und viele Jahre für die afghanische Regierung gearbeitet hat, ist sein Name geändert*. Der 27-Jährige ist in Kabul geboren und aufgewachsen. Nach der Schule studierte er Bauingenieurwesen in seiner Heimatstadt und war für das US-Militär tätig. Als die Taliban damals mitbekamen, dass er für westliche Streitkräfte arbeitet, drohten sie ihm mit dem Tod. Ashkan floh aus seinem Heimatland und lebt nun seit acht Jahren in Deutschland.

Anhand von E-Mails, Anruflisten, Fotos und Videoaufnahmen sind die Ereignisse seiner Evakuierung aus Kabul festgehalten. Der Autor und Ashkan kennen sich seit fünf Jahren. Sie sind miteinander befreundet und haben sich während Ashkans Aufenthalt ausgetauscht. Auch Auszüge aus ihrem Chatverlauf illustrieren die chaotischen Tage. Entstanden ist ein Protokoll, das Fragen aufwirft, vor allem aber zeigt, wie deutsche Behörden durch langsames Handeln und mangelhafte Kommunikation Menschenleben in Gefahr gebracht haben.

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Montag, 19. Juli

„Endlich nach 8 Jahren“ hat Ashkan über das Foto geschrieben, das ihn am Flughafen Frankfurt zeigt. Noch vor dem Abflug hat er das Foto auf seinem Facebook-Profil hochgeladen. Die Sonnenbrille steckt locker unter dem dritten Hemdknopf. Er hat nur Handgepäck dabei, neben einigen Klamotten noch Süßigkeiten für die Familie. Snickers, Raffaelo und Bueno, weil sein Vater die so gerne mag.

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Freitag, 13. August

In den ersten Tagen in Kabul hat Ashkan mit seiner Familie noch Restaurants besucht und im Park Eis gegessen. Doch es gibt zunehmend Anzeichen, dass sich die Stimmungslage verändern wird. In der dritten Nacht in Folge fliegen US-Streitkräfte Ausrüstung von der Botschaft zum Flughafen. In der dritten Nacht in Folge hat Ashkan nicht geschlafen. In der Hauptstadt sind die Taliban als Gesprächsthema angekommen, sie errichten erste Checkpoints.

Seinen Stadtteil verlässt Ashkan nur noch in Begleitung von Freunden, die ein Gewehr bei sich tragen.

Ashkan nimmt den letzten Anlauf, seinen Rückflug umzubuchen. Hauptsache früher als es auf dem Ticket steht: 16. August, 08:50 Uhr Ortszeit, Fly Emirates. Doch alle Flüge sind ausgebucht.

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Samstag, 14. August

Zu später Stunde schaltet Ashkan mit seiner Familie, seinen Eltern und fünf Geschwistern, den Fernseher ein. Talibankämpfer posieren jetzt im drei Kilometer entfernten Präsidentenpalast. Präsident Ghani soll bereits das Land verlassen haben.

Ein Bild, das um die Welt ging: Die Taliban im Präsidentenpalast.
Ein Bild, das um die Welt ging: Die Taliban im Präsidentenpalast.

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Sonntag, 15. August

Am Tag vor dem geplanten Abflug nach Frankfurt macht sich Ashkan auf den Weg zum Corona-Testzentrum. Nach dem Abstrich will er noch Geld abheben. Doch die Straßen sind überfüllt, vor den Banken bilden sich lange Schlangen. Bereits zur Mittagszeit lässt sich kein Geld mehr abbuchen. Eigentlich wollte Ashkan noch Süßigkeiten für Freunde in Deutschland kaufen. Doch vor dem Supermarkt stehen Talibankämpfer. Er fährt zurück nach Hause.

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Montag, 16. August

Auszug aus dem Chat zwischen Ashkan und dem Autor des Textes.
Auszug aus dem Chat zwischen Ashkan und dem Autor des Textes.

Um 08:50 Uhr hebt keine FlyEmirates-Maschine am Hamid Karzai International Airport ab. Der zivile Flugverkehr ist seit dem Wochenende eingestellt. Ashkan setzt insgesamt 21 Anrufe nach Deutschland ab. Beim Auswärtigen Amt trägt er sich digital in die Krisenvorsorgeliste ein, über die alle deutschen Staatsbürger in Kabul erfasst und über Evakuierungsflüge informiert werden sollen. Erst abends verlässt er das erste Mal das Elternhaus, um Essen einzukaufen. Dass er paschtunisch, die Sprache der Taliban spricht, hilft ihm. Im Vorbeifahren beobachtet er, wie ein Straßenverkäufer mit einem Gürtel ausgepeitscht wird.

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Dienstag, 17. August

09:02 Uhr Mail vom Auswärtigen Amt: „Bitte suchen Sie umgehend den folgenden Sammelpunkt auf: Flughafen Hamid Karzai International Airport, militärischer Teil, vor dem NORTH GATE.“

Eine Stunde nachdem der elektronische Landsleutebrief auf seinem iPhone aufblinkt, sitzt Ashkan im Auto auf dem Weg zum Flughafen. Mit dabei seine Schwester und ihre drei Kinder (5, 9 und 13 Jahre), die ebenfalls in Deutschland wohnen und deutsche Pässe beziehungsweise Aufenthaltstitel haben. Für die Strecke zum Flughafen brauchen sie mit dem Auto nicht wie sonst 20 Minuten, sondern zwei Stunden. Sie fahren vorbei an Checkpoints der Taliban und brennenden Autos. Vor dem Flughafengelände drängen sich Menschen mit Papieren und ohne Papiere.

Ashkan, seine Schwester und die Kinder schaffen es nicht, durch die Menschenmenge nach vorne zu kommen. Das North Gate wird für sie zum unerreichbaren Nadelöhr. Ashkan beschließt umzudrehen und fährt mit seiner Familie die zwei Stunden zurück zu seinem Elternhaus.

Wieder zurück bei seiner Familie gibt er seinem Chef in Mainz Bescheid, dass er am nächsten Tag nicht zum Dienst im Supermarkt erscheinen kann. Ashkan ruft die Krisennummern des Auswärtigen Amts, des Innenministeriums und der Bundeswehr an. Er wählt die Telefonnummern der Botschaft in Dubai, Tadschikistan und Usbekistan. Oft verharrt er in der Warteschleife, manchmal kommt er durch. Er erzählt, dass seine Nichte Diabetikerin ist, fragt, welche anderen Wege es in den Innenbereich des Flughafens gibt. Doch es gibt keine andere Möglichkeit, als zu warten und nochmal zum North Gate zu fahren. Am Abend erreicht ihn die Mail des Auswärtigen Amtes: Das North Gate ist geschlossen.

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Mittwoch, 18. August

08:20 Uhr Mail vom Auswärtigen Amt. Wieder heißt es, Ashkan solle zum North Gate kommen.

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12:15 Uhr Auf, zu, wieder auf. Es kursieren in der Stadt unterschiedliche Gerüchte, wann und ob das North Gate geöffnet ist. Ashkan folgt den offiziellen Anweisungen des Auswärtigen Amtes. Die Geschichte des Vortags wiederholt sich, zusammen mit seiner Schwester und ihren Kindern erreicht zur Mittagszeit den Flughafen, an dem das Chaos regiert. Bewaffnete Streitkräfte stehen auf den Mauern des Flughafens und blicken auf ein Knäuel aus Menschen.

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13:00 Uhr Ein Schuss in die Menge. Am rechten Unterarm trifft Ashkan eine Kugel, am Wadenbein ein Granatsplitter. Er geht sofort zu Boden. Tage später wird er deutschen Polizeibeamten zu Protokoll geben, dass er glaubt, dass der Schuss nur von amerikanischen oder afghanischen Soldaten abgesetzt worden sein kann. Menschen, mit denen er früher selbst zusammengearbeitet hat. Er erkennt die Waffe: Colt M4 Carbine 5.56mm, ein kurzes US-Sturmgewehr mit Gasdrucklader.

Er bleibt kurz am Boden liegen, klammert sich an seinem Pass fest. Kein Sanitäter, kein Soldat kümmert sich um ihn. Ashkan ruft seinen Bruder, der ihn ins Krankenhaus fährt. Die Finger an seiner rechten Hand sind taub.

Vor dem Krankenhaus, so erzählt es Ashkan, stehen Taliban. Sie sehen seinen deutschen Reisepass, nennen ihn einen Verräter, der seine Heimat im Stich lässt, und schlagen mit der Faust auf ihn ein. Danach lassen sie ihn zum Arzt durch.

Im Krankenhaus wird die Wunde notdürftig genäht, die Kugelsplitter bleiben im Arm. Bereits am späten Nachmittag verlässt Ashkan das Krankenhaus. Dem Auswärtigen Amt berichtet er via Whatsapp von seiner Schussverletzung und bittet um Hilfe. An den eigens eingerichteten Whatsapp-Chat des Auswärtigen Amts sendet er auch ein Video des verletzten Arms.

Ashkan versucht mehrere Stunden lang bei der Krisenhotline des Auswärtigen Amtes durchzukommen. Als er endlich jemanden erreicht, empfehlen Mitarbeiter dort Ashkan, sich per Mail zu registrieren, um informiert zu werden, sobald das North Gate öffnet. Dabei ist er schon längst registriert. Auf die Schussverletzung geht niemand ein, um medizinische Versorgung kümmert sich niemand.

Später wird das Auswärtige Amt auf eine Anfrage der jetzt-Redaktion sagen, man habe dort erst viel später von der Verletzung erfahren. Außerdem seien die Leitungen des Amtes in dieser Hochphase der Evakuierungsanstrengungen überlastet gewesen. Eine längere Version des Statements findet sich am Ende des Textes.

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Donnerstag, der 19. August

12:00 Uhr Zusammen mit seiner Familie nimmt Ashkan den dritten Anlauf zum Flughafen in Kabul, obwohl er gestern erst dort angeschossen wurde. Die Angst vor den Taliban ist letztlich größer als das Trauma, das er mit dem Flughafen verbindet. Er bekommt den Tipp, das Eingangstor im Westen aufzusuchen. Über diesen Weg sei es einfacher, in das Gebäude hineinzukommen. Doch es drängen sich wieder Tausende Menschen vor dem Eingang. Bei 35 Grad beginnt das lange Warten ohne Schmerzmittel.

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18:30 Uhr Security-Check und Einlass in den militärisch gesicherten Teil des Flughafens. Britische Soldaten lassen Ashkan, seine Schwester und die Kinder ins Gebäude. Erleichterung. Wenige Tage später wird der IS in unmittelbarer Nähe einen Anschlag verüben. Die Familie verbringt die Nacht auf dem Boden eines Hotelrestaurants. Britische Soldaten bringen Tee vorbei, Essen müssen sie sich selbst kaufen. 20 US-Dollar kostet eine warme Mahlzeit.

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Freitag, 20. August

Der britische Militärbereich fühlt sich für Ashkan wie eine Sackgasse an. Zu den Militärmaschinen auf dem Rollfeld werden ausschließlich britische Zivilisten, Ortskräfte und Streitkräfte eskortiert. Der Weg in andere Bereiche des Flughafens bleibt durch bewaffnete Soldaten versperrt. Ashkan fragt nach deutschen Bundeswehrsoldaten. Seine Fragen werden abgeblockt. Er fragt den britischen Militärarzt nach Schmerzmitteln und erhält, so erzählt er es später, als Antwort: „Komm wieder, wenn du im Sterben liegst.“

Auf eine Anfrage der jetzt-Redaktion zu diesen Geschehnissen hat das britische Verteidigungsministerium bisher nicht reagiert.

Ashkan wartet in der britischen Militärbasis.
Ashkan wartet in der britischen Militärbasis.

Seit den frühen Morgenstunden versucht Ashkan außerdem wieder, das Auswärtige Amt anzurufen. Er berichtet, dass Mitarbeiter ihn am Telefon anschreien, sich doch einfach per E-Mail beim Auswärtigen Amt zu registrieren und dann auflegen.

Am Mittag macht in Deutschland derweil diese Meldung die Runde: „Ein Deutscher hat auf dem Weg zum Flughafen in Kabul eine Schussverletzung erlitten. Das sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer am Freitag in Berlin.“

Erst später wird sich herausstellen, dass es sich in der Meldung um einen 21-jährigen Hamburger handelt, der ebenfalls am Flughafen Kabul angeschossen wurde. Der Fall Ashkan ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum politischen Berlin durchgedrungen. Seit mehr als 24 Stunden sind weder deutsche Vertreter im Flughafen aufzufinden noch telefonisch zu erreichen.

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14:00 Uhr Soldaten der Niederlande betreten die britische Militärbasis. Ashkan fragt erneut nach Hilfe. Sie versprechen, sich mit ihren deutschen Kollegen auszutauschen.

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15:30 Uhr Die erste Möglichkeit, persönlich mit zwei Bundeswehrsoldaten zu sprechen. Ashkan und seine Schwester mit ihren Kindern werden aus der britischen Militärbasis herauseskortiert und laufen einmal quer durch die Flughafenhallen. Im Evakuierungsbereich der Bundeswehr erhalten die fünf ein gelbes Armband. Ein Militärarzt der Bundeswehr sieht sich Ashkans Schussverletzung an und will nicht operieren. Es fehle an Equipment, die Umgebung sei zu dreckig. Schmerzmittel hat der Arzt nicht zur Hand.

In der Zwischenzeit meldet sich eine erste Journalistin telefonisch bei Ashkan.

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21:35 Uhr Mainzer in Kabul angeschossen“ – ein Artikel mit gepixeltem Foto ist der Aufmacher der Allgemeinen Zeitung Mainz.

Um kurz vor Mitternacht Ortszeit hebt ein A400M-Transportflugzeug der Bundeswehr in Richtung Taschkent ab. Unter den Evakuierten sind auch Ashkan, seine Schwester und ihre Kinder. Die Zwischenlandung in Usbekistan dauert nur eine halbe Stunde, dann geht es mit einem Passagierflugzeug der Lufthansa nach Frankfurt am Main weiter.

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Samstag, 21. August

Für Evakuierte aus Afghanistan ist am Flughafen ein abgetrennter Bereich eingerichtet. Sanitäter, ein Arzt, Einsatzkräfte der Bundes- und Kriminalpolizei nehmen Ashkan in Empfang. Er wird im Krankenwagen direkt in die Uniklinik in Frankfurt gefahren. Weniger als eine Stunde später liegt er auf dem OP-Tisch. Als er aus der Narkose aufwacht, vermisst er seine persönlichen Gegenstände: Smartphone und Geldbörse sind weg.

Einen Tag lang wird er mobil nicht erreichbar sein, weil Kriminalbeamte sein Smartphone mitgenommen haben – ohne sein Einverständnis und Rücksprache mit ihm.

Sowohl die Flughafen-Polizei als auch die Hessische Polizei weisen den Vorwurf zurück, Ashkan sein Telefon und seine Privatsachen abgenommen zu haben.

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Sonntag, 22. August

Das Smartphone ist zurück und vibriert: Nach vier Tagen antwortet das Auswärtige Amt auf Ashkans Hilferuf. Da liegt er längst auf der unfallchirurgischen Station in Frankfurt und hat Kabul verlassen.

Noch aus dem Krankenhaus schreibt Ashkan E-Mails an das Innenministerium, das Auswärtige Amt, die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer, den Mainzer Oberbürgermeister Michael Ebling. Er hat Angst um seine Familie in Kabul und will sie nach Deutschland holen. Sein roter Pass mit Bundesadler ist ein Privileg, den weder seine Eltern noch seine fünf Geschwister in Kabul haben.

Auf die meisten seiner Mails wird er nette Antworten erhalten. Man werde sich für ihn und seine Familie einsetzen. Für seine beiden Nichten und seinen Neffen, die mit ihm nach Deutschland gekommen sind, erkundigt er sich nach psychologischer Beratung. Bisher erfolglos.

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Mittwoch, 25. August

Ashkan verlässt die Unfallchirurgie und darf nach Hause.
Im Entlassungsbericht ist notiert:

„Schrapnellwunde Unterarm rechts mit traumatischer
1) Teildurchtrennung Nervus medianus distaler Unterarm
2) Teildurchtrennung Beugesehne M flexor indices distaler Unterarm“

Die Finger seiner rechten Hand kann er nicht mehr bewegen wie früher. Es bleibt ein Taubheitsgefühl zurück. Seine Nichten helfen ihm beim Tragen der Einkaufstaschen. Für die kommenden Wochen ist er krankgeschrieben.

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Dienstag, 31. August

Malu Dreyer besucht den Ortsverein Nieder-Olm. Ein Wahlkampftauftritt zwischen Kirmesständen im Mainzer Umland. Ashkan möchte die Chance nutzen und einmal persönlich mit der Ministerpräsidentin sprechen. Zum Abschluss des Abends sucht Dreyer das Gespräch mit jedem Einzelnen am Bierzelttisch.

Ashkan erzählt ihr seine Geschichte, erzählt von dem Schuss, seiner Hand und seiner Familie. Und fragt, ob sie etwas für seine Familie machen können. Frau Dreyer sagt: Ich kann nicht versprechen, dass etwas klappt. Ich kann nur versprechen, dass ich ihr Anliegen weiterleite.“

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Montag, 13. September

Ashkan schläft nachts nie mehr als vier Stunden. Entweder halten ihn die Schmerzen im Arm wach oder die Gedanken an seine Familie.

Seine Mutter hat seit mehreren Wochen kein Schritt mehr aus dem Haus gewagt – aus Angst vor den Taliban. Sein Vater hat das Elternhaus verlassen und hält sich bei Freunden versteckt. Er hat lange Zeit für das US-Militär und afghanischen Geheimdienste gearbeitet. Das wissen auch die Taliban, die in den vergangenen Wochen mehrmals persönlich an der Tür geklopft und gedroht haben: Sie wüssten, dass die Kinder der Beiden im Ausland leben, sie wüssten, dass sie für die afghanische Regierung gearbeitet haben. Eines Tages würden sie sich dafür bei ihnen rächen.

Das sagen die Behörden zu dem Fall

Das Protokoll lässt Fragen nach der Rolle der zuständigen Behörden und Ämter im Fall Ashkan offen. Fragen, mit denen die jetzt-Redaktion auch das Auswärtige Amt konfrontiert hat.

In einem Antwortschreiben bedauert das Auswärtige Amt, dass Ashkan vor dem Flughafen in Kabul verwundet wurde. In der chaotischen Lage vor den Toren sei es trotz aller Bemühungen vor Ort nicht möglich gewesen, einen Zugang zum Flughafen zu garantieren. Darauf und auch auf die Sicherheitsrisiken habe das Auswärtige Amt deutsche Staatsangehörige in dem Landsleutebrief vom 18. August hingewiesen. Weiter heißt es aus dem Auswärtigen Amt: „Wir bedauern, dass Ashkan in der beschriebenen Situation das Auswärtige Amt nicht erreichen konnte. Allein am 19. und 20. August gingen bei der Hotline des Auswärtigen Amts über 200 000 Anrufe ein.“ Erst zwei Tage nach der Schussverletzung habe das Mitarbeiterteam in Kabul von der Situation erfahren und sich dann umgehend um den Verletzten gekümmert. Auf Fragen, wie welche konkrete Schritte das Auswärtige Amt eingeleitet hat, als es erfahren hat, das Ashkan verletzt ist, geht die Bundesbehörde nicht genauer ein.

Ungeklärt bleibt, ob und wohin Ashkans Smartphone sowie weitere Wertgegenstände nach der Landung in Deutschland zeitweise verschwanden. Die Flughafenpolizei gibt an, am Flughafen Frankfurt für die Einreisekontrolle zuständig gewesen zu sein – ohne weitere Maßnahmen. Auf Nachfrage bestätigt das Polizeipräsidium Frankfurt, dass Kriminalbeamte Ashkan im Krankenhaus aufgesucht haben. Allerdings soll es dabei lediglich darum gegangen sein, die Geschosssplitter als Beweismittel sicherzustellen. Weitere Gegenstände seien dabei nicht beschlagnahmt geworden.

Team

Text Henrik Rampe
Digitales Storytelling Magdalena Pulz
Digitales Design Felix Hunger