Tschüss, Bundestag

Die letzte Sitzungswoche des Parlaments ist vorüber. Für mehr als 120 Politikerinnen und Politiker geht die Zeit als Abgeordnete zu Ende. Ein Abschied.

Von Markus Balser, Stefan Braun, Daniel Brössler, Constanze von Bullion, Cerstin Gammelin, Boris Herrmann, Mike Szymanski (Texte) und Lea Gardner (Illustration und Design)

25. Juni 2021 - 10 Min. Lesezeit

In der Nacht zum Freitag hat der CDU-Politiker Patrick Sensburg im Plenarsaal des Deutschen Bundestags in seinen 50. Geburtstag hineingefeiert. Was heißt gefeiert? Es lief die vorletzte reguläre und zugleich längste Sitzung der gesamten Legislaturperiode. Wie zu diesen unchristlichen Arbeitszeiten üblich, gaben die meisten Abgeordneten ihre Beiträge einfach zu Protokoll. Sensburg aber wartete tapfer bis 1.27 Uhr auf seinen Einsatz. Denn er wusste ja, dies würde mutmaßlich seine Abschiedsrede sein. Dann sagte er: „Ganz herzlichen Dank für das schöne Miteinander.“

Es herrscht Abschiedsstimmung im Parlament am Ende der letzten Sitzungswoche dieser Wahlperiode. Viele Abgeordnete wissen schon jetzt, dass sie nicht wiederkommen werden. Die Gründe dafür sind vielfältig: Manche treten altersbedingt in den Politikruhestand. Andere haben ein vermeintlich besseres Angebot aus der Wirtschaft. Einige haben schlichtweg keine Lust mehr. Und Patrick Sensburg hat das Pech, aus dem Hochsauerlandkreis zu stammen. Dort wurde der bekennende Merzianer bei der Aufstellung des CDU-Direktkandidaten ausgerechnet von Friedrich Merz verdrängt. Auch so kann eine Parlamentskarriere enden. Hier noch ein paar andere Beispiele für Parlamentarier, die Abschied nehmen:

Volker Kauder

Merkels Getreuer

Er ist seit Dezember 1990 im Bundestag, er gilt als der Vertraute von Angela Merkel, von dem die wenigsten eine solche Rolle erwartet hätten – und er hat schon einmal einen Abschied erlebt, den ihm seine Freunde gerne erspart hätten. Nach mehr als 30 Jahren im Bundestag sagt Volker Kauder nun ganz Adieu. Der Konservative aus dem Schwarzwald gehörte als parlamentarischer Geschäftsführer, dann als Kurzzeit-Generalsekretär und schließlich fast 13 Jahre lang als Fraktionschef zu den wichtigsten Stützen der Ära Merkel. Und das, obwohl er so gar kein Merkelianer war, als die Generalsekretärin im Zuge des Spendenskandals zur Parteichefin aufstieg. Im Gegenteil, noch 2002 war er einer von denen, die Merkel als Kanzlerkandidatin verhindern wollten – und damit Erfolg hatten.

Doch obwohl Merkel nach der damals verlorenen Bundestagswahl seinen Freund Friedrich Merz stürzte, sagte Kauder nicht Nein, als sie ihn zum Geschäftsführer der Fraktion machen wollte. Sein Pflichtgefühl und der Rat vieler Freunde brachten ihn dazu, ihrer Bitte zu folgen. Obwohl er über manche Themen ganz anders dachte als die CDU-Vorsitzende, wurde der loyale Kauder zu einem ihrer engsten Mitstreiter. Schmerzhaft für Kauder war, wie er im September 2018 von Ralph Brinkhaus ersetzt wurde: Brinkhaus trat einfach gegen ihn an und gewann – was kaum jemand für möglich gehalten hatte. Kauders Kraft aber war abgenutzt, zu viele Weggefährten wünschten sich eine Veränderung. Wobei nicht wenige damit eher Merkel meinten, aber Kauder trafen.

Allein ist er mit seinem Abschied nicht. Die Liste der Abgänge in der Union ist dieses Mal lang. Neben Angela Merkel gehen auch Thomas de Maizière, der Finanzexperte Eckhardt Rehberg, der ehemalige Bürgerrechtler Arnold Vaatz und die beiden Sozialpolitiker Peter Weiß und Uwe Schummer. Insgesamt verlassen fast 50 Abgeordnete das Regierungsviertel. Ein gewaltiger Umbruch. Stefan Braun 

Frauke Petry

Die Verstoßene

Noch einmal suchte die 46-Jährige vergangene Woche das Rampenlicht. Als Frauke Petry am Freitag im großen Sitzungssaal E.800 im Paul-Löbe-Haus des Bundestags ihr Buch „Requiem für die AfD“ vorstellte, wurde es noch mal voll. Und klar, dass Petry die große politische Bühne nicht ohne Knalleffekt verlassen will. In ihrer Abrechnung mit der AfD, die sie von 2015 bis 2017 selbst führte, ließ Petry kein gutes Haar an ihrer früheren Partei. Mehr denn je sei die AfD heute eine „chaotische Protestpartei“. Weiter denn je sei sie vom selbst gesteckten Ziel der Regierungsverantwortung entfernt. Die Akteure des aufgelösten „Flügels“ gewännen gerade wieder an Einfluss, die Partei, „kann diesen Prozess nicht mehr zurückdrehen“. Petry prognostizierte der AfD einen langsamen Tod, vielleicht schon bei der Bundestagswahl 2025 werde sie aus dem Parlament fliegen.

Petrys Auftritt war aber auch ein Abgesang auf die eigenen politischen Ambitionen. Zum Ende dieser Legislaturperiode im September wird sie den Bundestag verlassen und ihre Karriere als Politikerin aufgeben. Nur einen Tag nach der Bundestagswahl im Herbst 2017 hatte sie, entmachtet von der Parteiströmung „Flügel“, in der Bundespressekonferenz überraschend ihren Austritt aus der Fraktion erklärt und war noch im selben Monat aus der Partei ausgetreten. Seither ist sie fraktionslose Abgeordnete im Bundestag. Ihr Versuch, mit einer neuen Partei unter dem Namen „Die Blauen“ durchzustarten, scheiterte.

Petrys Abgang könnte die AfD noch länger beschäftigen. Sie wirft Parteichef Jörg Meuthen vor, „illegal Gelder“ aus der Schweiz für die Partei angenommen zu haben. Meuthen bestreitet das. Aber die Vorwürfe beschäftigen bereits die Berliner Staatsanwaltschaft. Markus Balser

Lothar Binding

Der Finanzexperte mit dem Zollstock

Was bleibt von ihm, dem SPD-Mann, in Erinnerung, wenn er nach der Bundestagswahl nicht mehr dabei sein wird? Gute Luft, wenn man so will. Und ein Zollstock, mit der er die Welt der Finanzen vermessen hat. Lothar Binding, 71 Jahre alt, ist keine große Nummer in der Politik geworden, aber eine kleine Berühmtheit. Der gelernte Starkstromelektriker und Diplom-Mathematiker sitzt seit 1998 im Bundestag, wo er zum finanzpolitischen Sprecher seiner Fraktion aufstieg.

Keiner kann so anschaulich wie er erklären, wie es sich auswirkt, wenn Steuersätze verschoben werden, und warum Top-Gehälter in der Wirtschaft das soziale Gefüge durcheinanderbringen. Dazu holt er seinen Zollstock raus: Das Arbeitnehmergehalt, angesetzt bei der Zehn-Zentimeter-Marke, will er zu dem des Managers in Relation setzen. Dafür faltet er den Zollstock nun weit auseinander. Überraschend, wozu dieser Maßstab so alles gut sein kann. Binding beherrscht den Zollstock eben. Für ihn als Finanzpolitiker sei es ja üblich, über Millionen und Milliarden zu reden, sagt er. Aber mit der Lebenswirklichkeit sehr vieler Menschen hätten solche Dimensionen nun mal nichts zu tun. Also behilft sich Binding mit Mitteln, die jeder versteht.

Sein größter politischer Erfolg: 2006 stieß der SPD-Abgeordnete einen fraktionsübergreifenden Antrag an, er wollte alle öffentlichen Einrichtungen rauchfrei machen. Eine Initialzündung, die die Diskussion über den Nichtraucherschutz überhaupt erst in Gang brachte und Jahre später dazu führte, dass man in Bundesländern wie in Bayern im Lokal nicht mehr qualmen darf. Mike Szymanski

Anja Hajduk

Opernfreundin mit Rechentalent

Sie fiel schon vor 20 Jahren auf bei den Grünen. Denn Anja Hajduk beherrschte das Rechnen. Doch, ja, „mir liegt der Umgang mit Zahlen“, sagt die 58-jährige Haushaltsexpertin der Grünen. Zu unnötiger Selbstbeleuchtung neigt Hajduk dagegen nicht. Nüchtern, präzise, fair zum politischen Gegner, unbeirrt im Stoff – das sind die Attribute, die ihr zugeschrieben werden. „Ihre analytische Schärfe ist so gefürchtet wie bewundert“, sagt Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt über die Kollegin. Und sogar FDP-Vize Wolfgang Kubicki lobte kürzlich Hajduks „segensreiche Arbeit“ im Haushaltsausschuss. Denn nach 24-jährigem Wirken in Parlamenten verlässt die Erz-Reala den Bundestag. Für die Grünen war das keine gute Nachricht.

Die gebürtige Duisburgerin, die aus katholischem Elternhaus über ein Psychologie-Studium in die erste schwarz-grüne Koalition in Hamburg fand und 2002 in den Bundestag, gehört zu den Architektinnen des grünen Wahlprogramms. Hajduk, zwischendurch Hamburger Umweltsenatorin, hat früh durchgerechnet, wie grüne Klimapolitik finanziert werden kann. Sie will die Schuldenbremse reformieren und an ein Investitionsprogramm knüpfen. Da sei „ein Epochenwandel zu finanzieren“, sagt sie. Die Opernfreundin mit Talent zum Selbersingen war es auch, die Robert Habeck instruierte, als er sich in die Finanzpolitik einarbeitete.

Und jetzt? Einfach aufhören? „Ich weiß nicht, was ich in einem Jahr mache, und es fühlt sich gut an“, sagt Anja Hajduk. Andere haben schon eine Idee für sie: den Posten der nächsten Finanzstaatssekretärin. Das ginge auch ohne Bundestagsmandat. Constanze von Bullion

Hans Michelbach

Mann der alten Sitten

Oft sind es semantische Eigenheiten, an denen man langgediente Politiker erkennt. Hans Michelbach zum Beispiel, der 72 Lebensjahre auf dem Buckel hat und „39 Jahre Mandatsträgerschaft“, davon 27 als Christsozialer im Bundestag. Im Telefonat mit Michelbach dringt neben seinem typisch fränkischen Akzent auch ein wenig Wehmut aus dem Hörer. Seine letzte Parlamentswoche! Seine letzte Pressekonferenz, als Vizechef des Wirecard-Untersuchungsausschusses. Er habe einige Untersuchungsausschüsse erlebt, sagt Michelbach, aber der war „einer der besten“, eine Sternstunde des Parlamentarischen.

Dabei hatte ihm seine Fraktion den Vize-Vorsitz nur widerwillig überlassen. Man wusste, dass er für den Bundestag nicht wieder antreten wollte. Solcherart von parteipolitischer Disziplin befreite Abgeordnete sind schwer zu bändigen, wenn sie vom unbedingten Aufklärungswillen beseelt sind, umso mehr, wenn sie Michelbach heißen. Er findet, die gesamte Regierung hat sich bei Wirecard nicht mit Ruhm bekleckert. Plötzlich trägt auch die Bundeskanzlerin einen Fleck auf dem Blazer, und mit ihr die Union.

Michelbach schwebt jetzt wie losgelöst über den Dingen, konstatiert eine Verlotterung der politischen Sitten. Früher habe es noch Rücktritte gegeben. Heute gebe es nicht mal eine Entschuldigung. Der scheidende Fraktionsvize der CSU war aber nie einer, der sich zurückgehalten hat. Als Sohn eines Kaufmanns hat er sich selbstredend um Mittelstand, Haushalt und Finanzen gekümmert. Wenn er zurückgeht zur Familie ins Coburger Land, bringt er was Nettes mit: 1,775 Millionen Euro Fördergelder für den „Park der Arten – Grünzug Lauterer Höhe“. Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat die Mittel gerade freigegeben. Cerstin Gammelin

Katja Suding

„Eisbrecherin“ auf Zeit

Ihre politische Karriere sei ihr eigentlich „vor die Füße gefallen“, hat Katja Suding einmal gesagt. Vielleicht fällt es ihr deshalb leicht, sie nun wieder loszulassen. Am Mittwoch hielt Suding ihre letzte Rede im Bundestag. Es ging um Bildung, ihr Thema. Beim FDP-Parteitag neulich war ihr Platz schon leer geblieben, obwohl sie da noch stellvertretende Parteivorsitzende war. Allerdings nur, weil der morgendliche ICE von Hamburg nach Berlin ausgefallen sei, klärte Christian Lindner auf, „kein Scherz“. So durfte sich Suding die Dankesworte ihres Parteivorsitzenden „für die großartige Arbeit“ im Livestream am heimischen Computer anhören.

Und natürlich nannte Lindner dabei auch Sudings inoffiziellen Ehrentitel: „Du bist für uns die Eisbrecherin gewesen nach der verlorenen Bundestagswahl 2013“, sagte er. Nach dem Rauswurf aus dem Bundestag und einer Serie verlorener Landtagswahlen hatte Suding 2015 in Hamburg 7,4 Prozent geholt. Ihr Spitz-, ja fast schon Kosename „Eisbrecherin“ ist in der FDP seitdem mit Comeback und Erfolg verbunden. Für die frühere Kommunikationsberaterin begann ein Aufstieg, der sie gut in ein Ministeramt hätte führen können – wären die Jamaika-Verhandlungen nicht geplatzt.

Nun nimmt Suding sich die Freiheit, mit 45 Jahren und nach nur elf Jahren in der Politik einen Schlussstrich zu ziehen. Ein längerer Prozess sei das gewesen, sagt sie, und eine Entscheidung ohne Groll. Sie habe ja auch vor der Politik ein „spannendes berufliches Leben“ geführt – und dahin „will ich zurück“. Daniel Brössler

Ulla Jelpke

Rekordmeisterin im Fragenstellen

Vielleicht werden in Ministerien und Obersten Bundesbehörden ein paar Korken knallen, wenn sich Ulla Jelpke, 70, im Herbst zur Ruhe setzt. Dann endet ihre siebte und letzte Wahlperiode – und für so manchen Ministerialbeamten endet damit auch ein kleiner Albtraum. Dass Jelpke zu den streitfreudigsten und streitbarsten Abgeordneten überhaupt zählt, würden wohl auch die meisten Mitglieder ihrer Linksfraktion bestätigen.

Aus Sicht der Bundesregierung war sie vor allem deshalb so anstrengend, weil sie eine der fleißigsten Parlamentarierinnen war. Sie könnte als ewige Rekordmeisterin in der Disziplin der Kleinen Anfragen in die Parlamentsgeschichte eingehen. 500 bis 600 solcher Anfragen hat sie gestellt, schätzt Jelpke – pro Legislaturperiode. Laut Bundestagsstatistik waren es in den beiden zurückliegenden Wahlperioden jeweils eher doppelt so viele. Die Zahl derer, die sie damit zur Weißglut getrieben hat, weil sie all die Fragen nebst Unterfragen schriftlich beantworten mussten, ist statistisch nicht erfasst. Jelpke findet, die Kollegen sollen sich mal nicht so anstellen. Sie hat ihre Fragefreudigkeit immer auch als „Behördenerziehung“ begriffen. Der SZ sagte sie einmal: „Wenn ich Zeitung lese, sprudelt es schon in mir: Da müssen wir mal nachfragen.“

Jelpke wurde 2005 innenpolitische Sprecherin ihrer Fraktion, als diese nicht Linke hieß, sondern noch PDS. Von 1990 bis 2002 gehörte sie als parteiloses Mitglied der PDS-Abgeordnetengruppe an. Ihre politische Karriere begann aber in den Achtzigern in ihrer Geburtsstadt Hamburg, wo sie für die Grüne Alternative Liste (GAL) in der Bürgerschaft saß. Schon damals, erzählt sie nicht ohne Stolz, habe sie die meisten Anfragen gestellt. Boris Herrmann

Abspann

Außer den genannten werden noch viele weitere Abgeordnete den Bundestag mit Ende der Legislaturperiode verlassen. 126 sind es insgesamt. Nicht alle sind in ihrer Amtszeit zu Hauptdarstellern geworden - einen Platz im Abspann hat aber jeder von ihnen verdient:

Abspann

Außer den genannten werden noch viele weitere Abgeordnete den Bundestag mit Ende der Legislaturperiode verlassen. 126 sind es insgesamt. Nicht alle sind in ihrer Amtszeit zu Hauptdarstellern geworden - einen Platz im Abspann hat aber jeder von ihnen verdient:

Team

Text Markus Balser, Stefan Braun, Daniel Brössler, Constanze von Bullion, Cerstin Gammelin, Boris Herrmann und Mike Szymanski
Digitales Storytelling Gökalp Babayiğit und Karoline Meta Beisel
Digitales Design Lea Gardner
Bildredaktion Friedrich Bungert