33 Tage, die Hoffnung weckten

Papst Johannes Paul I. verstarb vor 40 Jahren. Er regierte zwar nur knapp einen Monat, ging aber dennoch in die Geschichte ein. Über ein jähes Ende.

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Von Carlos Widmann

Im Format Große Geschichte leben bedeutende Reportagen aus sieben Jahrzehnten SZ-Journalismus wieder auf. Diesmal erzählen wir die Geschichte von Papst Johannes Paul I.. Er wurde 1978 als Reformer zum Papst gewählt und starb nach 33 Tagen plötzlich an einem Herzinfarkt. Um seinen Tod ranken sich bis heute Mythen. SZ-Korrespondent Carlos Widmann war damals in Rom vor Ort und beschrieb, wie der Papst in seinem kurzen Pontifikat durch seine Einfachheit, Menschlichkeit und Anziehungskraft Maßstäbe gesetzt hat. Die Rechtschreibung entspricht der Entstehungszeit.

Rom, 29. September - So möchten wir alle sterben, wie im Schlaf, wie in einem heiteren Traum, mit einem Lächeln auf den Lippen. So wurde er von seinem persönlichen Sekretär gefunden, der ihn — es war kurz nach fünf Uhr morgens—, nicht wie üblich in der päpstlichen Privatkapelle beim Morgengebet antraf und deshalb die Schlafzimmertür öffnete. Die Lampe auf dem Nachttisch brannte noch, den Händen des Papstes war ein Buch entglitten, das er als Bettlektüre bevorzugte: Imitatio Christi, ein Erbauungsbüchlein aus dem späten Mittelalter, verfaßt von dem rheinischen Augustinermönch Thomas von Kempen, die (nach der Bibel) meistgelesene religiöse Schrift der Christenheit. Hatte ihn der Tod noch mitten in der Lektüre überrascht, oder war er beim Lesen eingeschlafen und erst im Schlaf, im Traum gestorben? Die Ärzte können es nicht feststellen, sie wissen nur, daß der Tod am Donnerstag, dem 28. September, gegen 23 Uhr eintrat. Erst sieben Stunden später erfuhren die Kirche und die Welt, daß der 65-jährige Albino Luciani, der sich den Namen Johannes Paul I. gegeben hatte, nach einem Pontifikat von nur 33 Tagen gestorben war. Todesursache: Herzinfarkt.

Fassungslose Römer

Es ist nicht nur Betroffenheit und nicht nur Trauer, was die Römer, die Italiener überhaupt nun fassungslos macht, so sehr, daß sie kaum noch ansprechbar sind. Es mischt sich auch Wut in ihre Niedergeschlagenheit, das Gefühl, daß eine unbekannte Kraft sie beraubt und betrogen hat, daß man ihnen etwas weggenommen hat, das sie noch kaum in Besitz genommen hatten. Luciani war nicht nur „populär“ im gewöhnlichen Sinne des Wortes, nicht nur einfach beliebt und volksnah. Er hatte die Gabe, Menschen durch seine Erscheinung, durch seine Gesten und durch seine Worte zu gewinnen, in einer Weise, die zur Identifikation führte: Er ist nicht nur einer von uns, er ist, wie wir alle sein sollten. Als ein Reporter die schlimme Nachricht weitergeben mußte, fand er spontan das richtige Wort: „Giovanni Paolo hat in 33 Tagen nichts tun können, außer unsere Liebe zu gewinnen.“

Natürlich strömen auch diesmal viele Menschen zum Petersplatz, Schaulustige, Touristen, Priester- aber das ist sicher nicht der Ort, an dem die Betroffenheit der Römer registriert werden kann. Die Trauer durchdringt diesmal, anders als beim Tod Pauls VI. vor sieben Wochen, die ganze Stadt, aber sie wird nicht durch Gesten demonstriert: Jeder scheint diesen Tod mit sich selber abzumachen, mürrisch und mundfaul, niedergeschlagen, verständnislos. Der Portier und der Zeitungsverkäufer lächeln nicht bei der Begrüßung, im Bus reden die Leute nicht miteinander, und die Frau hinter dem Bankschalter weint still vor sich hin, während sie Geldscheine zählt. Vielleicht spielt auch Aberglaube mit in dieser Trauer: Einige äußern das dumpfe Gefühl, daß Unheil in der Luft liege an diesem strahlend blauen Herbstmorgen, daß der Tod dieses Papstes mit weiteren schlimmen Ereignissen verkettet sei.

Der Terror von rechts und von links hat seine Herbstoffensive eingeleitet: Am Donnerstag wurde in Turin ein Vorarbeiter der Autofabrik Lancia von den „Roten Brigaden“ ermordet, am selben Tag ein junger Mann, der gerade das kommunistische Parteiblatt Unita las, von Faschisten erschossen. Und die Streitereien innerhalb der Democrazia Cristiana lassen befürchten, daß die seit zwei Jahren leidlich erfolgreiche Regierung des Ministerpräsidenten Giulio Andreotti auch nicht mehr lange amtieren wird.

Schon zur Mittagszeit liegt Johannes Paul I. aufgebahrt im Apostolischen Palast, und bald wird er im Petersdom unter dem gewaltigen Baldachin Berninis liegen, wie vor wenigen Wochen sein Vorgänger Paul VI. Erschreckend, wieder diese Bilder zu sehen, die weiß und rot gewandete Gestalt mit den Schuhspitzen, die zur Decke weisen, den überm Kruzifix gefalteten Händen, doch mit einem anderen, viel jüngeren Gesicht.

Er wirkt viel weniger "verstorben" als Paul VI., er hat nicht die graubraune Leichenfarbe, sondern im Vergleich eine gewisse Frische, die noch betont wird durch den halboffenen Mund, durch die vorstehenden Vorderzähne. Diesen Mann hat es wirklich "aus dem Leben gerissen", er ist noch immer gegenwärtig, und es will sich niemand an den Gedanken gewöhnen, daß er tot ist.

Das offizielle Porträt von Papst Johannes Paul I. im September 1978.

DPA

Das offizielle Porträt von Papst Johannes Paul I. im September 1978.

Am Mittwoch, nur 35 Stunden vor dem Herzinfarkt, hatte Johannes Paul seine letzte Audienz gegeben, und das Auditorium des Vatikans war überfüllt, wie immer bei Audienzen seit dem Amtsantritt des Papa Luciani. Seinen guten Vorsatz auf die Sedia gestatoria zu verzichten, den von vierzehn Männern getragenen Barocksessel, hatte der neue Papst aufgeben müssen: Es konnte ihn ja niemand sehen, wenn er durch die Menge schritt, und die Leute wollten auf seinen Anblick aus nächster Nähe nicht verzichten; Luciani akzeptierte den Tragsessel schließlich als unvermeidliches Übel. Und dann sprach er zu den Gläubigen in jener unnachahmlichen Direktheit und Vertraulichkeit, die ihm vom ersten Tag an, als er den Massen auf dem Petersplatz seine Überraschung über die ihm zugefallene Last und Würde schilderte, die Herzen der Italiener erobert hatte.

Es war eine Audienz, wie sie nur ihm gelingen konnte. Er wollte vor dem Publikum mit einem Schulkind sprechen, um ein Gleichnis vom Reifeprozeß der Kirche geben zu können, die von einer Entwicklungsstufe in die nächste strebe, und rief einfach in die Menge: „Bitte, schickt ein Schulkind zu mir.“ Es sprangen mindestens zwanzig auf, die ohne Scheu bereit waren, mit dem Papst vor den Fernsehkameras und vor einem mit 2000 Menschen gefüllten Saal 1 zu sprechen. „Nur einer, bitte!“, mußte Johannes Paul rufen, und als dieser eine — kaum zehn Jahre alt — sich den Weg freigekämpft hatte, da sprach er mit dem Papst, der ihm das Mikrophon wie ein Reporter hinhielt, ohne eine Spur von Befangenheit, gab Antworten („Nein, ich will nicht in die nächste Klasse aufrücken, sondern immer in meiner jetzigen bleiben, weil mir die Lehrerin gefällt“), die dem Papst nicht ins Gleichnis-Konzept paßten - doch Johannes Paul wurde spielend damit fertig, ohne den Buben zurechtzuweisen.

War das ein Konservativer? Der Werdegang Lucianis schien darauf hinzuweisen, aber sein Stil machte ihn bei den Konservativen verdächtig. Das Italienisch, das der neue Papst sprach, wurde in der Kurie als profan empfunden. Er bediente sich der Ausdrücke und Redewendungen eines Mannes von origineller Bildung, der die Sonette Petrarcas und die Theaterstücke Goldonis, die Gassenhauer aus den Industrievierteln und die recht heidnischen Bauernkomödien der Bergvölker im Norden Venetiens kannte. Am Mittwoch sprach er ein kurzes Gebet, von dem er hinterher sagte, „la mamma“ (seine Mutter) habe es ihm beigebracht, sprang dann recht unvermittelt auf die Enzyklika Populorum progressio über, betonte, daß die Reichen der Welt den Hungernden verpflichtet seien, und erwähnte dann noch in scharfem Ton, daß das Privateigentum keineswegs einen um jeden Preis zu verteidigenden Wert darstelle. Dem kommunistischen Bürgermeister Roms sicherte Luciani die volle Kooperation des Vatikans in der Bemühung um die Arbeitslosen und die Notleidenden zu.

„Er hat uns Hoffnung gemacht, daß die Weltzustände zum Besseren gewendet werden können, er gab uns das Gefühl, daß Krieg und Terror kein unvermeidliches Schicksal seien — von ihm konnte man noch viel erwarten.“

So resümierte eine unbekannte Passantin vor dem Petersdom und vor den Fernsehkameras ihren Eindruck von Johannes Paul, bevor das Schluchzen ihre Stimme erstickte. So denken viele Italiener, so konkret können sogar viele die  freudige Erwartung, die Luciani in ihnen weckte, zum Ausdruck bringen.

Eine Bürde für den Nachfolger

Ein „Programm“ hatte er noch nicht, konnte er noch nicht haben, und auf eine neue Enzyklika hätte die katholische Welt wohl noch eine längere Weile warten müssen — doch trotzdem wird wohl nicht nur das Lächeln dieses Papstes übrig bleiben. 33 Tage sind in der 2000-jährigen Geschichte des Papsttums nur eine Episode, eine Fußnote — man muß bis ins 17. Jahrhundert zurückgreifen, um auf ein noch kürzeres Pontifikat zu stoßen — aber trotzdem, so dünkt es dem Laienverstand, kann Johannes Paul nicht vergessen werden, jedenfalls nicht von den Italienern. Seine Einfachheit, seine Menschlichkeit, seine Gabe, das Volk an sich heranzuziehen, haben hierzulande Maßstäbe gesetzt. Jeder Nachfolger wird es unendlich schwer haben, für sich jene Wärme des Empfindens zu wecken, die Luciani in Italien wie von selbst entgegenschlug.

Bevor er nach dem Tode Pauls nach Rom aufbrach, um als Patriarch von Venedig am Kardinalskollegium und am Konklave teilzunehmen, hatte er — es ist kaum zwei Monate her — ganz unverblümt den Namen seines eigenen Kandidaten genannt: Er hätte am liebsten den deutschstämmigen Brasilianer Aloysio Lorscheider gewählt, den erst 54-jährigen Erzbischof von Fortaleza und Vorsitzenden der lateinamerikanischen Bischofskonferenz, der als „progressiv“ eingestuft wird. Nun, da aufs neue die lange Prozedur beginnt, die mit der „Wachablösung“ im Vatikan verbunden ist, werden manche sich an diesen Namen erinnern. Aber diesmal, anders als nach dem Tode Pauls VI., ist niemand in der Stimmung, über Nachfolger zu spekulieren.

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