20 Jahre nach dem G8-Gipfel

Das Fanal von Genua

Vor zwanzig Jahren während des G-8-Gipfels ging ein entfesselter Polizeimob brutal gegen die Bewegung linker Globalisierungsgegner vor. War alles geplant?

Von Oliver Meiler

20. Juli 2021 - 7 Min. Lesezeit

An der Piazza Alimonda in Genua steht ein kleiner, unförmiger Marmorblock. Es ist ein Gedenkstein, meistens umwuchert von wildem Gras. Darauf steht: "Carlo Giuliani, ragazzo“. Dazu ein Datum: 20. Juli 2001, der Todestag des "Jungen“.

Carlo Giuliani war 23 Jahre alt, als er auf dieser Piazza starb. Erschossen von einem Carabiniere, der selbst erst 20 Jahre alt war. Das Bild des Toten, der hinter einem Polizeiwagen liegt, ging um die Welt.

20 Jahre nach dem G8-Gipfel

Das Fanal von Genua

Vor zwanzig Jahren während des G-8-Gipfels ging ein entfesselter Polizeimob brutal gegen die Bewegung linker Globalisierungsgegner vor. War alles geplant?

An der Piazza Alimonda in Genua steht ein kleiner, unförmiger Marmorblock. Es ist ein Gedenkstein, meistens umwuchert von wildem Gras. Darauf steht: "Carlo Giuliani, ragazzo“. Dazu ein Datum: 20. Juli 2001, der Todestag des "Jungen“.

Carlo Giuliani war 23 Jahre alt, als er auf dieser Piazza starb. Erschossen von einem Carabiniere, der selbst erst 20 Jahre alt war. Das Bild des Toten, der hinter einem Polizeiwagen liegt, ging um die Welt.

Die Dynamik des dramatischen Vorfalls wurde nie ganz aufgeklärt, wie so vieles aus jenen heißen Sommertagen, als in Genua während des G-8-Gipfels ein europäischer Staat sein Gewaltmonopol undemokratisch und brutal gegen eine Generation von Globalisierungsgegnern und Klimabewegten entfesselte und sie für immer zeichnete. Wer dabei war, wird Genua nicht mehr vergessen.

"Ci è scappato il morto", sagen die Italiener, wenn eine angespannte Situation unheilvoll ausartet, etwa: "Jetzt haben wir auch noch einen Toten." Aber artete die Lage tatsächlich aus, plötzlich und zufällig? Oder war da mehr?

Zwanzig Jahre ist "Genua“ her. Und wenn Italien den Jahrestag nun so intensiv begeht wie keinen davor, nämlich mit einer unfassbaren Fülle von Sonderausgaben der Zeitungen und Zeitschriften, mit TV-Dokumentationen, Podcasts und Veranstaltungen, dann liegt das wohl auch daran, dass Diener des italienischen Staates neulich und einmal mehr ihre Macht missbraucht haben, als hielten sie sich für irgendwie legitimierte Schergen eines autoritären Regimes.

Mitten in der ersten Pandemiewelle führten italienische Gefängniswärter in der Haftanstalt von Santa Maria Capua Vetere bei Neapel eine Strafexpedition durch.

283 Beamten gegen 300 wehrlose Häftlinge. Sie schlugen und folterten sie, sogar einen Mann im Rollstuhl verprügelten sie. Die Videokameras der Anstalt liefen unterdessen, alles ist dokumentiert.

Mitten in der ersten Pandemiewelle führten italienische Gefängniswärter in der Haftanstalt von Santa Maria Capua Vetere bei Neapel eine Strafexpedition durch.

283 Beamten gegen 300 wehrlose Häftlinge. Sie schlugen und folterten sie, sogar einen Mann im Rollstuhl verprügelten sie. Die Videokameras der Anstalt liefen unterdessen, alles ist dokumentiert.

Ein Jahr lang lag das verstörende Material bei der Staatsanwaltschaft, nun konnten es alle Italienerinnen und Italiener sehen. Die Bilder aus Genua und die Bilder aus Santa Maria Capua Vetere – sie gleichen einander und türmen sich zur Schande.

"Nie mehr Staatsgewalt", schrieb die Zeitung Domani, die den Skandal im Gefängnis aufgedeckt hatte, über ihre erste, für einmal ganz schwarz gehaltene Seite. Und natürlich schwang darin auch "Genua“ mit, sozusagen die Ursünde, die Paradesünde.

Um die Vorfälle von Genua zu verstehen, muss man noch zwei Jahre mehr zurückdrehen. Damals, 1999, gab es am Rande eines Gipfels zum Welthandel in Seattle die erste wirklich große Protestaktion von "No Globals", benannt nach dem Titel eines Bestsellers der amerikanischen Autorin Naomi Klein, gegen das, was sie als kapitalistische, neoliberale Weltordnung ausgemacht hatten. 50 000 trugen ihre Wut auf die Straße, man nannte sie auch "Volk von Seattle". Es stellte sich gegen das Einheitsdenken zur Globalisierung, das immer geprägt war vom reichen Teil der Welt, von multinationalen Konzernen und großen Institutionen. Es gab heftige Ausschreitungen, der Ton war gesetzt.

Nach Seattle versammelten sich immer Zehntausende, wenn die Mächtigen sich trafen: in Prag, Nizza, Neapel, Québec, Göteborg. Dann kam Genua, vom 19. bis 22. Juli 2001, G-8-Gipfel.

Aus Washington reiste George W. Bush an, aus Moskau schon damals Wladimir Putin, aus Berlin Gerhard Schröder, aus Paris Jacques Chirac, aus London Tony Blair, um nur einige zu nennen. Gastgeber war Silvio Berlusconi, frisch gewählter Ministerpräsident Italiens. Berlusconi wollte eine gute Figur machen, "una bella figura". Den Genuesen verbat er, die Wäsche vors Fenster zu hängen. Ins alte Zentrum ließ er Bäume mit sehr gelben Plastikzitronen stellen.

Genua war eine irre Wahl für einen solchen Gipfel: Die Stadt ist beklemmend dicht bebaut, eine Welt aus Mauern zwischen Meer und Berg, Albtraum für Städteplaner und Sicherheitsleute.

Im Vorfeld des G 8 geisterten abenteuerliche Thesen herum, heute würde man sagen: Fake News. Wahrscheinlich waren sie gezielt gestreut. Die Aktivisten, hieß es etwa, würden Plastiktüten mit HIV-infiziertem Blut nach Genua bringen und damit nach Polizisten werfen. Krieg würde es geben: 500 Särge seien schon mal bestellt worden, für alle Fälle.

Die Stadt wurde militarisiert. An den Grenzposten zur "Zona rossa", wo die Staats- und Regierungschefs in aller Ruhe tagen sollten, standen Panzer, das hatte es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben.

Viele Genuesen hatten ihre Stadt verlassen. Sie verkam zur Weltbühne, alles war bereit für den Showdown.

Die Stadt wurde militarisiert. An den Grenzposten zur "Zona rossa", wo die Staats- und Regierungschefs in aller Ruhe tagen sollten, standen Panzer, das hatte es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben.

Viele Genuesen hatten ihre Stadt verlassen. Sie verkam zur Weltbühne, alles war bereit für den Showdown.

Zum ersten Mal sollten auch das Internet und die Mobiltelefonie eine zentrale Rolle spielen. Soziale Medien gab es damals ja noch keine, doch es gab neuartige Informationskanäle: Indymedia zum Beispiel, eine unabhängige Plattform, gemacht von Aktivisten. Sie filmten und stellten die Bilder einfach ins Netz. Eine neue Zeit begann.

Etwa 200 000 Gipfelgegner kamen nach Genua, von überallher, viele aus dem Ausland. Junge und Ältere, Zapatisten und Katholiken, die allermeisten hatten friedliche Absichten. Manche malten sich lustige Sprüche auf ihre T-Shirts, andere nannten sich "Disobbedienti", Ungehorsame.

Es waren Menschen dabei, denen die Rechte von Migranten am Herzen lagen, solche, die sich für LGBT engagierten. Oder für die Umwelt. Oder für die Opfer der Globalisierung in den Entwicklungsländern.

Ihre wichtigsten Slogans: "Ihr G 8, wir 6 Milliarden." – "Eine andere Welt ist möglich." Eine Gruppe nannte sich "Tute bianche", weil sie ganz weiß gekleidet protestierte.

Gekommen waren aber auch mehrere Tausend Mitglieder des "Black Blocks", einer mysteriösen und berüchtigten internationalen Bewegung von Anarchisten.

Und dieser "Black Block" konnte zur Verwunderung aller wüten, wie es ihm beliebte.

Die Polizei schaute zu, wie die Vermummten Schaufenster einwarfen.

Autos anzündeten.

Beim Bahnhof Brignole brannte bald eine Tankstelle. Szenen der Guerilla, Rauch überall, und über der Stadt kreisten Hubschrauber.

Dann gingen Carabinieri und Polizisten mit aller Härte gegen friedliche Demonstranten vor, mit Tränengas in industrieller Menge.

Mit Schlagstöcken und gepanzerten Jeeps.

Der Gewaltmarsch des "Black Block", so machte es den Anschein, kam ihnen geradezu verdächtig ideal zupass, um sich am ganzen Protestvolk zu rächen.

Gekommen waren aber auch mehrere Tausend Mitglieder des "Black Blocks", einer mysteriösen und berüchtigten internationalen Bewegung von Anarchisten.

Und dieser "Black Block" konnte zur Verwunderung aller wüten, wie es ihm beliebte.

Die Polizei schaute zu, wie die Vermummten Schaufenster einwarfen.

Autos anzündeten.

Beim Bahnhof Brignole brannte bald eine Tankstelle. Szenen der Guerilla, Rauch überall, und über der Stadt kreisten Hubschrauber.

Dann gingen Carabinieri und Polizisten mit aller Härte gegen friedliche Demonstranten vor, mit Tränengas in industrieller Menge.

Mit Schlagstöcken und gepanzerten Jeeps.

Der Gewaltmarsch des "Black Block", so machte es den Anschein, kam ihnen geradezu verdächtig ideal zupass, um sich am ganzen Protestvolk zu rächen.

So kam auch Carlo Giuliani um. Am Abend nach seinem Tod führten Polizisten eine Operation an der Scuola Diaz durch, einer Primarschule von Genua, da waren Indymedia und junge Aktivisten untergebracht. Einige Beamte skandierten "Duce, Duce“, als sie mit Schlagstöcken auf ihre Opfer einprügelten, grund- und wahllos, auch auf Frauen. Duce ist das italienische Wort für Führer, gemeint ist damit der Faschistenführer Benito Mussolini. Später, in der Kaserne von Bolzaneto, haben dann Gefängnispolizisten Menschen in summarischer U-Haft erniedrigt und geschlagen. Amnesty International sollte die Staatsgewalt in Genua einmal "gravierendste Suspendierung demokratischer Rechte in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg" nennen.

War da mehr als zufälliges Chaos und Anarchie?

Bis heute ist rätselhaft, warum Berlusconis Innenminister nicht in Genua war während des G 8. Claudio Scajola ist Ligurier, er kommt aus Imperia, das ist nicht weit entfernt von Genua. Scajola kennt Genua wie kaum jemand, von Amtes wegen stand er in der Verantwortung. Warum also blieb er in Rom? Ersetzt wurde er vom aufstrebenden Mann jener Zeit, dem Postfaschisten Gianfranco Fini. War der brutale Einsatz etwa geplant, gar auf internationaler Ebene – als Exempel?

Danach war nichts mehr wie davor. Natürlich, nur eineinhalb Monate später, am 11. September 2001, hatte die Welt plötzlich ein ganz anderes Problem. Nach den Terrorattacken auf die Zwillingstürme in New York und auf das Pentagon in Washington, D. C., verschob sich die Aufmerksamkeit für viele Jahre auf ein neues Konfrontationsfeld. Doch die Dynamik jener Generation von Bewegten war bereits gebrochen: aufgelöst in den Rauch- und Tränengasschwaden in Genua, niedergeknüppelt, in Carlo Giulianis Blutlache ertränkt.

Zunächst wurden die Gipfel noch an unerreichbare Orte verlegt, nach Doha oder Heiligendamm, aus Sorge vor einem Aufflammen der Proteste. Doch das war gar nicht mehr nötig. Ein bisschen Bewegung sollte erst viel später zurückkommen in der Form von "Fridays for Future", von Occupy, "Black Lives Matter" und von NGOs für Migranten – wenigstens sektoriell, thematisch gestückelt. Als Phalanx aber gegen die großen Ungerechtigkeiten und Verwerfungen einer unfair gelenkten Globalisierung war der Widerstand gestorben. Im Juli 2001.

Team

Text Oliver Meiler
Digitales Storytelling Sebastian Gierke
Bildredaktion Julia Hecht, Daniel Hofer