Kuss und Verdruss

Am 6. Juli ist Tag des Kusses. Eigentlich ein Grund zum Feiern, wäre nicht gerade der britische Gesundheitsminister über das Küssen gestolpert. Über die Ambivalenz einer Berührung.

Von SZ-Autoren (Text) und Jessica Asmus (Illustration)

2. Juli 2021 - 7 Min. Lesezeit

Grundsätzlich ist Küssen natürlich etwas sehr Schönes und endet nur in den seltensten Fällen mit Herpes, Hepatitis oder einem anaphylaktischen Schock. Das ist die gute Nachricht, zum Tag des Kusses am 6. Juli. Die schlechte: Kein Kuss bleibt folgenlos. Mal sorgt er für einen absolut lächerlichen Endorphin-Ausstoß, mal für fürchterliche seelische Verwirrung, mal für sehr hässliche Blutergüsse am Hals. Und immer wieder kommt es vor, dass der Kuss zum Skandal wird. Etwa, wenn ein britischer Gesundheitsminister mitten in der Pandemie des Kusses einer haushaltsfernen Person überführt wird. Selbst der Kuss von Gegenständen wie beispielsweise heiliger Schriften oder ikonografischer Bilder kann in diesen Tagen zum echten Delta-Varianten-Problem werden! Es wird also Zeit, sich endlich Gedanken zu machen. Über den Kuss und seine Folgen.

Der infektiöse Kuss

Der britische Gesundheitsminister Matt Hancock musste vor ein paar Tagen zurücktreten. Der Grund: Er war von einer Überwachungskamera mit seiner Geliebten (der er nebenbei einen Job verschafft hatte) in einem Flur bei einem recht leidenschaftlichen Kuss gefilmt worden. Nicht außereheliche Aktivität oder Nepotismus wurden bemängelt, sondern das Ignorieren des von Hancock selbst implementierten Corona-Sicherheitsabstandes. Potenzielle Ansteckung durch Flurkuss – was für ein schlechtes Vorbild! Der Kuss als möglicher Infektionsherd ist die Kehrseite der Intimität. 80 Millionen Erreger werden laut einer medizinischen Studie von 2014 bei einem zehnsekündigen Kuss ausgetauscht, darunter bisweilen Streptokokken und Herpesviren. Es gibt sogar eine eigene Kusskrankheit, das Pfeiffersche Drüsenfieber. Während der Pandemie war aber auch das Küssen unbelebter Objekte untersagt. So fiel in vielen katholischen Gemeinden die Kreuzverehrung per Kruzifix-Kuss auch in diesem Jahr wegen vermeintlicher Ansteckungsgefahr aus. Alexander Menden

Der märchenhafte Kuss

Die weitreichendsten Folgen haben Küsse im Märchen, vor allem, wenn es sich um Disney-Adaptionen handelt. Da werden tot geglaubte Königstöchter per Lippenberührung zum Leben erweckt, und noch das haarigste Untier entpuppt sich am Ende als Jüngling mit Föhnwelle. Woke ist das nicht. Deshalb entbrennt um Dornröschen, im Alter von 15 Jahren nach Spindelstich entschlafen, und Schneewittchen, im dritten Tötungsversuch an vergiftetem Apfel erstickt, verlässlich alle paar Monate irgendwo auf der Welt eine Sexismus-Debatte. Beide Prinzessinnen werden in der Disney-Version von Königssöhnen wachgeküsst. Und wenn man durch die „Me Too“-Bewegung eines gelernt hat, dann dies: Bewusstlose Mädchen küsst man nicht. Ein Blick in Grimms Märchen schmälert die Bedeutung des Kusses als Wiederbelebungsmaßnahme. Hier wird Schneewittchen nicht wachgebusselt, sondern durch einen stolpernden Angestellten vom vergifteten Apfel befreit. Dornröschen hat nach 100 Jahren schlicht ausgeschlafen, der Fluch ist gebrochen und der Königssohn nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Oder am falschen, siehe „Me Too“. Am Ende landet jedenfalls niemand vor Gericht, sondern alle leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Felicitas Kock

Der Filmkuss

Der perfekte Filmkuss, heißt es, soll gar nicht echt sein. Ähnlich wie eine gute Filmschlägerei unterliegt er einer ausgefeilten Choreografie. Der „Spiderman“-Kuss zwischen dem kopfüber hängenden Tobey Maguire und Kirsten Dunst beeindruckt gerade deshalb, weil er so surreal erscheint. Doch so wie ein unbeabsichtigter Faustschlag bei einer inszenierten Schlägerei kann es Beteiligte auch mal bei Filmküssen richtig erwischen. Katharine Hepburn und Spencer Tracy knutschten nach Drehschluss 26 Jahre weiter, obwohl er verheiratet war. Miss Jolie und Mister Pitt schweißte ein Filmkuss zu Brangelina zusammen. Richard Burton und Elizabeth Taylor küssten sich vor der Kamera in eine leidenschaftliche Hassliebe, zwei Ehen und zwei Scheidungen. Der „Titanic“-Filmkuss zwischen Kate Winslet und Leonardo DiCaprio hingegen hatte nicht nur für das Leinwand-Pärchen Folgen. Er brachte Millionen Menschen in den Kinosesseln zum Heulen - selbst jene, die sonst standhaft bleiben. Was nur eines bedeuten kann: dass dieser Kuss perfekt gespielt war. Violetta Simon

Der tödliche Kuss

Die Küsse des Hassers sind trügerisch“, so steht es irgendwo im Alten Testament geschrieben. Diese Warnung dürfte Judas Iskariot eher als Inspiration aufgefasst haben, seine Geschichte ist bekannt: Der Apostel küsst Jesus vor dessen Häschern. Die schleppen den Identifizierten mit, Christus’ Martyrium beginnt, Ende bekannt. Seitdem steht der Judaskuss für Heuchelei statt Liebe, für Verrat schlechthin. Der biblische Todeskuss wurde über Jahrhunderte in Stein gemeißelt, auf Kirchenwände gepinselt und in Öl gemalt. Etwa nach dem Jahr 1900 dann eine wahrnehmbare Veränderung: Das Zusammenspiel von Küssen und Killen war nicht mehr allein auf Judas beschränkt. Das ultraböse Motiv wurde übertragen auf ultraböse Kriminelle, gerade wenn sie sich auf der Leinwand tummeln: In den beiden ersten Teilen von Francis Ford Coppolas „Der Pate“ aus den 1970er-Jahren wird einem abtrünnigen Mitglied der „Familie“ seine kommende Entleibung angekündigt. Ob Mafiosi mit italienischen Wurzeln vor Meucheleien ihren Opfern tatsächlich einen „bacio della morte“ verabreicht haben, ist nicht gesichert. Allerdings scheint das Küssen in diesen Kreisen durchaus eine Rolle zu spielen: Als 2011 ein neapolitanischer Mafioso festgenommen wurde, gab ihm ein anderer Mann vor laufenden Kameras einen Schmatzer auf den Mund. Es ließ sich nicht abschließend klären, ob dieser Kuss ein Ausdruck von Zuneigung war oder doch eher eine Drohung, gefälligst den Mund zu halten. Oliver Das Gupta

Der provokante Kuss

Sagen wir: Deutschland gegen England, Achtelfinale bei der EM. Nach dem Spiel erklärt ein deutscher Mittelfeldspieler, er unterhalte bereits seit Jahren eine heimliche Beziehung zu einem englischen Stürmer. Hey! Das erste echte Outing in der ansonsten absolut heterosexuellen Fußballgeschichte. Das ganze Stadion würde sofort leuchten – in Regenbogenfarben natürlich. Und die Uefa: Würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Ist aber alles nicht so. Noch nicht. Also muss weiter Madonna auf der Bühne Britney Spears abküssen oder Barbara Schöneberger ihre Kollegin Ina Müller oder Damiano David, der Sänger der italienischen ESC-Gewinner-Band Måneskin, seinen Gitarristen Thomas Raggi im polnischen Fernsehen. Nur, um mal wieder ein Zeichen für die LGBTQIA+-Community zu setzen. Elton John wird weiter Wladimir Putin beschimpfen, wenn in Russland einige Schwulenszenen im Film „Rocketman“ herausgestrichen wurden und auch die Kracherjungs von Rammstein werden sich dort mal wieder busseln, sobald das Licht angeht. Denn, das ist ja klar: Nichts macht einen Kuss größer als das Kussverbot. Martin Zips

Der politische Kuss

Es sind harte Zeiten für Romantiker. In vier Jahren Donald Trump ist die Diplomatie, die ja den Kuss als Mittel nie verschmähte, eher zum politischen Schwanzvergleich verkommen. Wer hat den größeren Atomwaffenknopf? Und dann kam auch noch die Pandemie dazu. Verzehrten sich Angela Merkel und Emmanuel Macron heute so leidenschaftlich wie einst Leonid Breschnew und Erich Honecker beim sozialistischen Bruderkuss, man müsste sie auf Jahre in Quarantäne stecken. Liebesbeweise lassen sich eben höchstens noch aufs First-Lady-Mäntelchen drucken. Nur Papst Franziskus macht Hoffnung. Der sank vor zwei Jahren vor zwei rivalisierenden Politikern aus dem Südsudan auf den Boden und küsste ihnen die Füße. Wie der Kniefall hat es damit ein weiterer Unterwerfungsritus zur stolzen Friedensgeste gebracht. Dafür ein diplomatisches Bussi! Moritz Geier

Der sinnliche Kuss

Sollte es stimmen, dass es sich bei dem Kuss, den der Fotograf Robert Doisneau (1912 – 1994) da im Jahr 1950 auf der Pariser Rue de Rivoli festgehalten hat, um das bekannteste, am häufigsten nachgedruckte Foto der Welt handelt, so wäre das doch eigentlich eine gute Nachricht. Denn dann müsste er wahrscheinlich genauso sein, der perfekte Kuss: leidenschaftlich, sinnlich, spontan. Andererseits: Beugt sich hier der Mann nicht doch ein bisschen zu arg über die arme Frau? Ist es nicht doch eher Gustav Klimts malerisches Werk, welches – zwar ähnlich in der Körperhaltung, aber einheitlicher, paritätischer, goldener – dem Kuss-Gefühl von gegenseitiger Hingabe, Liebe, Freundschaft und Verehrung am deutlichsten seinen Ausdruck verleiht? Doisneau gestand später ein, er habe zwei Schauspielschüler gezielt gecastet, sein Foto sei gestellt. Auch Klimts Kuss hängt mittlerweile als Poster in so vielen WG-Schlafzimmern, dass man ihn gar nicht mehr sehen kann. So ist das eben, mit der Sinnlichkeit. Von Dauer ist sie nicht. Martin Zips

Team

Texte Oliver Das Gupta, Moritz Geier, Felicitas Kock, Alexander Menden, Violetta Simon, Martin Zips
Illustration Jessica Asmus
Digitales Storytelling Moritz Geier