Gruppenbilder

Zusammen ist man ganz allein

Die jüngsten Distanzfotos der Staatenchefs in Cornwall und Brüssel zeigen: Das Gruppenporträt hat ein neues Level erreicht. Eine kulturhistorische Betrachtung von Diego Velázquez bis "Raumschiff Enterprise".

Von Moritz Geier und Martin Zips

17. Juni 2021 - 6 Min. Lesezeit

Spätestens seit Erfindung der Fotografie durch Joseph Nicéphore Niépce und Louis Daguerre im frühen 19. Jahrhundert begleitet es uns: das Gruppenbild. Mal statisch, mal ausgelassen, soll es einerseits der abgebildeten Gemeinschaft in ihrer Gänze gerecht werden, aber zusätzlich auch das Individuum gut erfassen. Und ganz egal, ob die dort fotografierten oder auch gemalten Personen Schultüten, Parteibücher, Brautsträuße oder gar nichts in ihren Händen halten, so ein Gruppenbild sagt oft viel aus über die Abgebildeten und ihre Zeit. Neuerdings ist hier wieder eine – längst überwunden geglaubte – Ernsthaftigkeit in Abstand und Körperhaltung zu beobachten. Auf welchem Weg befindet sich das Gruppenbild? Eine kulturhistorische Annäherung in sechs Beispielen.

Gipfel der Distanz

Was zu sehen ist: Als „Regentenstück“ wurden Gruppenporträts von Standespersonen in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts bezeichnet, und ein Regentenstück (Corona-Version!) ist auch dieses Gruppenbild der Staatenlenkerinnen und -lenker, dieser Tage entstanden beim G-7-Gipfel in Cornwall. Auch auf dem Bild zu erkennen: all die Gräben und Diskrepanzen, die es sonst nie aufs PR-Foto schaffen.

Was es zu bedeuten hat: Für einen wie US-Präsident Joe Biden ist das Abstandsgebot besonders brutal, Bidens Stärke liegt ja zweifellos in der politischen Nahdistanz, der Amerikaner ist ein Vertreter des taktilen Taktierens, ein Mann des Körperkontakts: Da könnten Handelskriege schon mal mit einem kumpelhaften Klaps gelöst werden. (Einem Putin dagegen würde er wohl gerne mal so radikal ans Mundwerk fahren wie der Österreicher Alaba dem Kollegen Arnautovic bei der Fußball-EM. Und Queen Elizabeth will er einfach nur umarmen, zur Hölle mit dem Protokoll!) In diesem Kontext vermittelt auch dieses Staatenlenkerporträt, ein zinnsoldatisch erstarrtes Figurenkabinett, eine unverkennbare Sehnsucht nach menschlicher Berührung, nach jener Losung, die einst schon Willy Brandt vorgab: Wandel durch Annäherung.

Fertig zum Beamen

Was zu sehen ist: Ein bis sechs Personen platzieren sich, offenbar unter Wahrung eines vorgegebenen Sicherheitsabstandes, an Bord eines Raumschiffes unter tellergroßen Spot-Leuchten, um so vom Chefingenieur „teleportiert“ zu werden.

Was es zu bedeuten hat: Auf besondere Art vermitteln die ikonisch gewordenen Bilder aus den Urfolgen der US-Fernsehserie „Raumschiff Enterprise“ (1966 – 1969) das Vertrauen des Menschen in die Errungenschaften der Technik. Unheimlich wirkt es freilich schon, das sogenannte „Beamen“, welches Kapitän Kirk und seinen Mitarbeitern das schnelle Reisen zu Planeten oder anderen Raumschiffen in der Umgebung ermöglicht. Interessanterweise kommt es unter den Besatzungsmitgliedern jedoch nie zu einer Diskussion über eine mit der Teleportation möglicherweise für sie einhergehende Gesundheitsgefahr. Das ist erstaunlich, setzen sich die Beteiligten doch hier einem Verfahren aus, welches sie zunächst in einzelne Moleküle zerlegt, welche an anderer Stelle wieder zusammengesetzt werden. Ängste werden jedoch nicht geäußert – und so kann diese frühe dystopische Zusammenrottung auch heute noch als mutiges Statement gegen all jene Skeptiker verstanden werden, die kaum etwas mehr fürchten als den Eingriff des Menschen in die Gesetze der Natur.

Das Urlaubsgruppenbild

Was zu sehen ist: Eine Familie macht Urlaub an der Ostsee (1930). Der Vater hat zuvor vermutlich seine Rolleiflex auf ein Stativ geschraubt, um seine Familie auf einer von ihm mühsam aufgeschütteten Sandbank per Selbstauslöser abzulichten. Für einen weißen Sonnenhut, wie er die Köpfe von Frau und Kindern schmückt, hat das Geld nicht mehr gereicht.

Was es zu bedeuten hat: War das klassische Urlaubsgruppenfoto des 20. Jahrhunderts zuletzt dem die eigene Person in den Vordergrund stellenden „Selfie“ gewichen, deuten die jüngsten Entwicklungen wieder in eine andere Richtung. Nicht zuletzt infolge der Pandemie hat die kegelartige Aufstellung auch in der Optik von privaten Urlaubsbildern erneut an Bedeutung gewonnen. Ausgelassenheit, aber unter Wahrung aller AHA-Regeln, das ist die solidarische Botschaft, die auch von jenen Urlaubern ausgeht, die sich bereits jetzt wieder in den Trubel diverser Strandbäder stürzen. Ein Spagat, natürlich, dem der zuletzt mit Pflasterfotos aus der beklemmenden Tristesse deutscher Impfzentren aufgefallene Familienvater jedoch durchaus gewachsen ist. Statt Sonnenhüten verteilt er einfach FFP2-Masken am Strand.

Vertragliche Leibesübungen

Was zu sehen ist: Fünf Männer – drei stehend, zwei sitzend – wohnen Ende Mai 2021 in einem schmucklosen Büro der Vertragsunterzeichnung von Hans-Dieter Flick zum neuen Fußball-Bundestrainer bei.

Was es zu bedeuten hat: Noch wichtiger als der Umstand, dass der mittlere der drei stehenden Herren (DFB-Vizepräsident Peter Peters) offenbar bewusst ins Zentrum dieses längst als historisch geltenden Gruppenbildes platziert wurde, da er statt eines schwarzen einen blauen Anzug trägt, sowie der fast nebensächlichen Tatsache, dass der andere Vize Rainer Koch (hinten rechts) bei seinem Versuch, mit seinen Händen eine Merkel-Raute zu formen, offenbar erfolglos bleibt, ist Folgendes: Dieses Gruppenbild wurde von der überaus begabten Fotografin Vera Loitzsch, 27, geschossen, welche vor ihrem Praktikum beim Deutschen Fußballbund zuletzt mit Lokal-Reportagen über Feuerwehrleute und Nudisten auffiel. Dass Männer bei Gruppenbildern auf die Expertise weiblicher Fotografinnen zurückgreifen, ist nichts Ungewöhnliches. Zahlreiche wichtige Porträts männlicher Politiker stammen von Frauen. Mit ihrem beeindruckenden Funktionärs-Gruppenbild allerdings hat Loitzsch, Studentin der Fotografie an der FH Dortmund , nach Meinung vieler Fachleute bereits jetzt die Qualität aristokratischer Ständebilder großer Meister wie Goya oder Rembrandt erreicht.

Keulen und Grandezza

Was zu sehen ist: Sechs Rammstein-Keulen, die Köpfe gesenkt, die Blicke streng, überragen, auf kleine Podeste erhoben, inmitten eines nur scheinbar wahllosen Plastikstuhl-Arrangements einen Raum in der Berliner Volksbühne.

Was es zu bedeuten hat: Das in der Kunstgeschichte weithin unterschätzte Band-Foto muss hier als früher Vorläufer des zeitgenössischen, auf Abstand getrimmten Gruppenbildes unbedingt erwähnt werden. Im Mittelpunkt steht dabei ganz offensichtlich nicht mehr eine auf Gemeinschaft ausgerichtete Gruppe an sich, wie etwa beim uniformierten Männergesangsverein, sondern das selbstbewusste, sich Platz verschaffende Individuum. „Ich will!“, schreit es. „Ich will eure Blicke spüren!“ Dem Geltungsdrang des Einzelnen dienen die lose Anordnung der Figuren, eine subtile Verschiedenheit der Posen und die Beiläufigkeit der Haltung. Unterstuhlt, ins Jackett gezähmt und fotografiert hat die Musiker übrigens der Kollege Bryan Adams. Der Kanadier hat damit schon 2014 vorgemacht, dass es durchaus möglich ist, dem Gruppenbild selbst in Zeiten des Abstandsgebots eine wuchtige Grandezza zu verleihen. Nur die blondierte Frisur des Sängers Till Lindemann weckt leider Politiker-Assoziationen (halb Boris Johnson, halb Philipp Amthor) und nimmt dem Werk das Revoluzzerhafte.

Abstand in Öl

Was zu sehen ist: Das gewaltige, meterhohe Gemälde „Las Meninas“ („Die Hoffräulein“) des spanischen Malers Diego Velázquez, entstanden 1656, zeigt unter anderem den Maler selbst (links im Bild) vor einer Leinwand im spanischen Königshaus, daneben die Hofdamen mit Königstochter Margarita, zwei „Hofzwerge“ und einen Hund.

Was es zu bedeuten hat: Ein fünfjähriges Kind im Zentrum eines königlichen Gruppenbildes? Die Infantin wirkt deutlich erwachsener als die Erwachsenen um sie herum. Bis heute gilt „Las Meninas“ als eines der meistdiskutierten Werke der Kunstgeschichte. Was ist zum Beispiel mit dem Königspaar im Hintergrund? Schaut es unter Berücksichtigung der Abstandsregeln durch ein Fenster? Blickt es von einem Bild? Oder spiegelt sich das Paar gegenüber der Staffelei? Und was ist mit dem Hofmarschall hinten rechts in der Tür? Kommt er? Geht er, weil er keinen Mundschutz dabei hat? Und warum wirkt der Hofzwerg so riesig? Da hat Velázquez dem Betrachter bis heute genug Interpretationsspielraum gelassen. Denn nicht nur das Gruppenbild, auch das Leben bleibt eben immer eine Frage der Perspektive. Ob mit Abstand oder ohne.

Team

Text Moritz Geier, Martin Zips
Digitales Storytelling Moritz Geier