München

Hier wird es persönlich

Politiker können sich zurzeit fast nur online präsentieren. Das gelingt mal mehr, mal weniger. Ein Streifzug durchs Netz.

Von Heiner Effern und Anna Hoben

8 Min. Lesezeit

Der alte Mann sieht ein bisschen grummelig aus, wenn man das so sagen kann über ein Gesicht, das hinter einer Maske versteckt ist. Die Hände stecken in dicken Wollfäustlingen. Seit der US-Politiker Bernie Sanders so dasaß bei der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden, ist das Foto zum Internetphänomen geworden. 

Nutzer platzieren Sanders per Fotomontage an den verschiedensten Orten auf der ganzen Welt. Am Mittwoch landete er im Löwenbräukeller, die CSU-Fraktion hatte ihn dort hingesetzt. Der SPD-Stadtrat Nikolaus Gradl stellte das Foto außerdem nach und veröffentlichte es bei Twitter.

Eine Anspielung darauf, dass es an dem Ersatz-Tagungsort des Stadtrats mal wieder zapfig kalt war. Ein kleiner Scherz, nichts weiter – doch in der Pandemie ist die Politik auch auf solche kleinen Scherze angewiesen. Und sie setzt sie natürlich sehr bewusst ein. Präsentieren kann sie sich zurzeit fast nur online; in den sozialen Medien, bei Veranstaltungen auf Video-Plattformen. Ein Streifzug durchs Netz.

Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) war lange kein ausgewiesener Freund der sozialen Medien. Sein jüngster Instagram-Post datiert vom 3. April 2020. „#Bleibtdahoam“, heißt es da, und „#FlattenTheCurve“. 

Seitdem haben die Münchner ihr Stadtoberhaupt kaum noch gesehen – Bürgerversammlungen sind ausgefallen, ebenso wie alle anderen Veranstaltungen, bei denen man einen Bürgermeister normalerweise zu Gesicht bekommt.

Auf Facebook hat er mit großem zeitlichen Abstand ein paar kurze Videos veröffentlicht. Zuletzt hat er vor einer Woche eines hochgeladen – mehr als 48 000 Menschen haben es gesehen, Reiter hat einen Candy-Storm ausgelöst, also das Gegenteil eines Shitstorms. Eine Nutzerin schreibt: „Wir als Ihre Münchner Bürger haben es wirklich vermisst von Ihnen zu hören, nicht zu Weihnachten, nicht mal Neujahr . . .“

Der Oberbürgermeister wirkt auch Tagen nach der Veröffentlichung fast noch verblüfft. „Das hätte ich nie gedacht, dass man meinen Weihnachtsgruß vermisst“, sagt er. Lange, vielleicht zu lange habe er gehofft, dass er die Bürger möglichst schnell wieder direkt treffen könnte. Das mag er am liebsten, und er weiß auch sehr genau, dass der lockere Plausch mit den Menschen eine seiner großen Stärken ist.

Das Sprechen von Videobotschaften in eine Kamera einsam in seinem Arbeitszimmer fällt ihm weniger leicht, das ist besonders bei seinen ersten Versuchen zu sehen. Eine Digitalstrategie war bisher nicht zu erkennen bei ihm, doch das soll sich ändern.  

Sein Team bereitet professionelle Bürgersprechstunden online vor. „Das soll im Februar oder März starten“, sagt er. Zudem will er auf Facebook präsenter sein, das ist das soziale Netzwerk, auf dem er sich am besten wiederfindet. Der Erfolg des letzten Videos habe „einen Aha-Effekt“ ausgelöst. Doch ein zweiter Söder, ein Viel-Twitterer oder „ein Mega-Instagrammer“, das werde er nicht mehr, sagt der OB.

Bürgermeister Katrin Habenschaden (Grüne) ist längst Profi. Sie hat vor allem die Instagram-Stories perfektioniert, mit persönlichen Einblicken von der Langlauftour am Wochenende oder dem abendlichen Jogging. Und auf einem Foto aus dem Home-Office wird der Wäscheständer absichtlich nicht aus dem Bild geschoben – wäre ja sonst weniger authentisch. 

Im Gegensatz zu Reiter, der nur in seiner Rolle als Stadtoberhaupt auftritt, zeigt sie bewusst auch ihre menschliche Seite. Dienstliches gibt es bei ihr natürlich auch – vor Kurzem postete sie etwa Bilder von der Schlüsselübergabe an das Narrhalla-Prinzenpaar.  

Aber die Münchner sollen auch sehen, „wer ich bin, was ich mag, wofür ich mich einsetze“, sagt sie. Auch die Kinder kommen auf Instagram vor, aber nur wenn man sie nicht erkennt und sie damit einverstanden sind. Ihre Rolle als Mutter mache den Nutzern auch klar, dass sie sich genauso mit Homeschooling abplage wie jeder andere, und dass sie diese Erfahrungen in der Politik nutzen kann.

Ihre Fraktion sei lange unterrepräsentiert gewesen in den sozialen Medien, sagt die SPD-Fraktionsvorsitzende Anne Hübner. Noch gegen Ende der letzten Amtsperiode waren nur wenige bei Twitter, Instagram nutzte kaum jemand – wenn überhaupt, dann Facebook: „Da kommt man aber nicht aus der Parteiblase raus.“ Das hat sich komplett geändert. Mittlerweile setzt die SPD stark auf Instagram;und 80 Prozent der Fraktion haben einen Twitter-Account. Eine Erkenntnis: Inhalte laufen über private Accounts besser als über den Fraktionsaccount.

Twitter bringt aber immer auch diese Frage mit sich: „Wie seriös muss man sein, und wie viele persönliche Einblicke sind trotzdem möglich?“ Sie glaube, mittlerweile gelinge ihr das besser als früher.   

Zu Corona-Themen sei sie mit einigen Nutzern in engem Austausch, die sich mehr Transparenz von Seiten der Stadt wünschten. Das seien „sehr legitime Anliegen“, sagt Hübner, die sich ebenfalls wünschen würde, dass der Krisenstab transparenter kommuniziert – und die Stadt im Netz auch mehr auf Fragen eingeht.

Die SPD probiert in den sozialen Medien gerade vieles aus: Im Format „15 Sekunden Stadtrat“ erklären die Kommunalpolitiker komplizierte Themen und Entscheidungen in kürzester Zeit. Auf Instagram macht sie kurze Umfragen oder postet auch mal ein Bild zum Internationalen Tag der Jogginghose. 

Kürzlich lud sie um 21 Uhr zum Gespräch auf der neuen Plattform Clubhouse, die nur iPhone-Nutzern zugänglich ist.

Seit einiger Zeit gibt es den Rathaus-Talk auf der Videokonferenz-Plattform Zoom, mittlerweile alle zwei Wochen.

 Anfangs fand das Format wöchentlich statt, aber das sei zu viel gewesen, sagt Anne Hübner. „Die Leute wollen nicht jeden Montagabend mit uns verbringen.“ Erkenntnis aus dem Rathaus-Talk: Am besten gehen inhaltliche Veranstaltungen. Verkehrsthemen ziehen schon mal 70 Leute an. Zur Plauderei mit Alt-OB Christian Ude hingegen kamen 30. „Da dachten wir, das zieht mehr.“

Mittlerweile haben die Grünen nachgezogen. „Rathaus for Future“ heißt deren neues Online-Format, das in dieser Woche mit dem Thema Ernährungswende startete. Dazu läuft bereits Habenschadens Format „Frag uns einfach“, in dem sie zum Beispiel mit dem Fraktionsvorsitzendenden der Grünen im Bundestag, Anton Hofreiter, online über verschiedene Themen sprach.

Die Grünen sehen das Digitale als Chance in der Pandemie, aber auch darüber hinaus. Sie setzen sich mit der SPD für digitale Bürgerversammlungen ein und merken schon jetzt, dass sie Menschen erreichen, die nie in Präsenzveranstaltungen gekommen wären. „Digital ist inklusiv, barrierefrei, man erreicht so eher ein junges Publikum“, fasst Habenschaden eine Lehre aus der Coronakrise zusammen, die man von allen großen Parteien hört. Und noch etwas ist der Bürgermeisterin wichtig: Die Politik dürfe die sozialen Netzwerke nicht den Hetzern und den Verbreitern von Fake-News überlassen. „Das ist gefährlich für die Demokratie.“

Auch die CSU hat während der Pandemie das eine oder andere Digitalformat ausprobiert. „Offene Stammtische“ seien das gewesen, sagt Stadtrat Jens Luther, zu denen aber meist nur Parteimitglieder gekommen seien. Mit 35 Jahren zählt der Lehrer noch eher zu den Digital Natives als so mancher seiner Fraktionskollegen. Er nutzt Facebook und Instagram, „obwohl meine Schüler sagen, das ist längst veraltet, Sie müssen Tiktok machen“. Doch da hat er sich noch nicht hingewagt; vermutlich ist seine Klientel auch eher woanders zu finden.

Zurzeit sei es ein zweischneidiges Schwert mit dem Posten in den sozialen Medien, sagt er. Wenn er einen Termin hat, bei dem er etwa jemandem etwas überreicht, und er lädt ein Bild davon hoch – dann beschweren sich die Follower schnell: Wir sollen zu Hause bleiben, und ihr Politiker seid dauernd unterwegs. Wenn wieder mehr Termine stattfinden, will er zusammen mit seinem Kollegen Fabian Ewald anfangen, kurze Videos zu veröffentlichen, die den Alltag eines Stadtrats zeigen – und dass die politische Arbeit „nicht immer nur Zuckerschlecken ist“. Die Kamera dafür haben sie schon.

Luthers Fraktionskollege Hans Theiss setzt bei Facebook und Instagram gerade in der Pandemie stark auf sein Wissen als Mediziner. Auf Instagram hat die Fraktion etwa einen ausführlichen Faktencheck von ihm zu den gängigsten Corona-Impf-Mythen veröffentlicht.

Während der ersten Welle startete er eine Serie „Corona-Update ohne Panik“, in der er berichtete, wie sich das medizinische System umstellte. Theiss überlegt genau, „wann ich wo was rausgebe“. Über Facebook spricht er die mittlere und ältere Generation an, platziert politische Themen und versucht Debatten anzustoßen. Sein Frontal-Angriff auf Parteichef Markus Söder, dem er zu viel Corona-Showpolitik und zu wenig substanzielle Erfolge vorwarf, ging viral, wie es heißt, wenn Nachrichten explosionsartig weitergereicht werden. 

Man könne als einzelner über soziale Medien „eine fast absurde Reichweite“ erzielen, sagt Theiss. Generell äußere man sich im Netz „brisanter“ als schriftlich auf Fraktionspapier. Wer verschiedene Kanäle bespielen will und alles selbst mache, laufe aber leichter Gefahr, „dass man daneben langen kann“, so der CSU-Fraktionsvize. Doch soziale Netzwerke böten Politikern etwas, das beim Wähler enorm ankomme, „die Chance, dass man authentisch ist“.

Persönlicher zu werden in den sozialen Medien, das hat sich auch Stefan Jagel (Linke) vorgenommen. Er sei deswegen schon von einem Mitarbeiter gerüffelt worden, erzählt er und lacht. Die Linke bildet mit Marie Burneleit (Die Partei) eine Fraktion im Stadtrat; aber weil Die Partei bekanntlich einen anderen, satirischen Politikstil pflegt, treten sie in den sozialen Medien getrennt auf. „Grün-Rot hat versagt!“, prangt zum Beispiel weiß auf rot auf einem typischen Instagram-Post der Linken. 

Und dann verrät Jagel ein Geheimnis: dass ihn die sozialen Medien eigentlich nerven. Ihm sei schon klar, dass man das machen muss. Aber ein großer Anhänger davon wird er wohl nicht mehr, vor allem weil dort keine richtige Interaktion möglich ist. „Total elementar“, sagt Jagel, sei in der Politik das persönliche Gespräch. Und da würde wohl niemand widersprechen.