Jahresrückblick 2019  

Wahlkampf und Widerstand

Fridays for Future, zweite Stammstrecke, Vorbereitungen auf die Kommunalwahl: Was die Münchner 2019 bewegt hat - ein Überblick.

11 Minuten Lesezeit

Von SZ-Autoren

Wenn man auf das Jahr 2019 zurückblickt, entsteht leicht der Eindruck, dass sich die Münchner ein Zitat von Johann Wolfgang von Goethe ganz besonders zu Herzen genommen haben: 

 "Wenn ein Jahr nicht leer verlaufen soll, muss man beizeiten anfangen", soll der Dichter einst gesagt haben. Und ja: Die Münchner haben bezeiten damit angefangen, das Jahr mit einer Vielzahl von Ereignissen zu füllen. 

Von Januar an demonstrieren Schüler an den Freitagen für mehr Klimaschutz, Aktivisten sammeln Unterschriften für das Rad-Bürgerbegehren und die Kommunalpolitiker treffen erste Personalentscheidungen für die Wahl im März 2020. 

Was die Menschen in der Stadt im Jahr 2019 bewegt haben und was sie bewegt hat - ein Überblick. 

Mieten in München

Mehr geht nicht

Wohnen wird immer noch teurer – doch ein Bündnis um den Mieterverein will mit einem Volksbegehren die Preise für sechs Jahre einfrieren.

Von Anna Hoben

Wer auf Schnäppchen steht, der kann auch für bezahlbare Mieten unterschreiben. Das haben sich die Initiatoren des Volksbegehrens Mietenstopp gedacht, als sie sich am Black Friday, jenem Feiertag des Konsums Ende November, auf der Jagd nach Unterschriften in der Innenstadt postieren. Noch bis Januar soll gesammelt werden, dann steht fest, ob es gereicht hat: 25 000 Unterstützer braucht es für die erste Phase des Volksbegehrens. Sechs Jahre lang wollen die Initiatoren rund um den Münchner Mieterverein in 162 bayerischen Kommunen die Bestandsmieten einfrieren – sie sehen die Zeit als Verschnaufpause, in der die Politik dauerhafte Lösungen gegen die Wohnungsnot erarbeiten soll.

Vor allem der Blick nach Berlin hat im Jahr 2019 immer wieder gezeigt, wie der Kampf gegen Verdrängung und explodierende Mietpreise in Deutschland an Fahrt aufgenommen hat. Die wichtigen Debatten – zum Mietendeckel, zur Enteignung großer Immobilienfirmen – wurden zuerst in der Hauptstadt geführt, obwohl das Problem in München ja schon viel länger virulent ist. Vielleicht zu lange. Die Menschen haben sich offenbar zu sehr daran gewöhnt, dass es hier immer noch teurer, noch schwieriger ist als in anderen Großstädten. Nach dem Motto: kann man nichts machen – München halt.

Dabei gab es auch in München in diesem Jahr einen Moment, der gezeigt hat, dass die Macht der Immobilieneigentümer mitunter Grenzen hat. Es war an einem Nachmittag im Oktober, als ein Richter im Oberlandesgericht den Mietern einer Wohnanlage in Schwabing verkündete, dass sie in ihren Wohnungen bleiben können. Natürlich hat er das so nicht gesagt, aber für die Mieter lief es darauf hinaus. Der Eigentümer wollte mit seiner Modernisierungsankündigung noch eine alte Rechtslage ausnutzen; dadurch hätten sich die Mieten für viele verdoppelt – sie hätten sich ihre Wohnungen danach wohl nicht mehr leisten können. 

Das Gericht gab jedoch der Klage des Mietervereins statt, die sich gegen die drastischen Mieterhöhungen richtete. Zwischen der Ankündigung und den Bauarbeiten liege zu viel Zeit, urteilte es. Nach neuer Rechtslage darf der Eigentümer nun deutlich weniger Kosten auf die Mieter umlegen. Das Urteil fand bundesweit Beachtung, weil es sich um die erste Musterfeststellungsklage im Mietrecht handelte. 145 Mietparteien hatten sich ins Klageregister eintragen lassen. Und so hat das Verfahren am Ende gezeigt, was man erreichen kann, wenn man sich zusammentut.

2019 war auch das Jahr des Hans-Jochen Vogel. Der Münchner Alt-Oberbürgermeister und frühere Bundesbauminister hat im Alter den Kampf für eine Bodenrechtsreform wieder aufgenommen, die das Mietenproblem bei der Wurzel packen soll. Im November erschien seine Streitschrift „Mehr Gerechtigkeit!“. Im Februar wird Vogel 94 Jahre alt.  

Kommunalwahl

Dreikampf ums Chefbüro

CSU und Grüne schicken mit Kristina Frank und Katrin Habenschaden zwei Bewerberinnen gegen OB Dieter Reiter ins Rennen. Die Europawahl im Mai hat gezeigt, dass sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien verschieben.

Von Dominik Hutter

Dass sich etwas ändern würde in der politischen Statik Münchens war spätestens am Abend des 26. Mai klar. Da wurden die Grünen bei der Europawahl erneut stärkste Kraft in München – und bewiesen damit, dass das Ergebnis der Landtagswahl 2018 kein einmaliger Ausrutscher war. 31,2 Prozent holte die Öko-Partei. Der Abstand zur CSU (26,9 Prozent) und vor allem zur SPD (11,4), die beide fünf Jahre zuvor noch weit vor den Grünen gelegen hatten, war durchaus beachtlich. 

Im Rathaus gehen Politiker verschiedenster Couleur seitdem davon aus, dass es bei der Kommunalwahl 2020 erstmals nicht mehr zu einem Duell zwischen CSU und SPD, sondern zu einem Dreikampf unter Beteiligung der Grünen kommen wird. Beim Stadtrat ebenso wie bei der Wahl des Oberbürgermeisters.

Politisch hat sich im letzten Jahr vor der Kommunalwahl durchaus etwas verschoben im Rathaus am Marienplatz. Zwar regiert das rot-schwarze Bündnis weiter und zeigt auch keinerlei Willen, die Bande vorzeitig zu kappen. Das wichtigste Indiz: Der Haushalt wird gemeinsam verabschiedet, die Fraktionen treffen sich weiterhin zu regelmäßigen informellen Gesprächen.

Die Verbindung ist aber deutlich lockerer geworden. Immer häufiger, vor allem bei Verkehrsfragen, stimmen Sozialdemokraten und Christsoziale getrennt ab. Was zur Folge hat, dass die CSU immer wieder unterliegt, weil eine Mehrheit zum Tragen kommt, die nach der letzten Kommunalwahl 2014 durchaus auf der Agenda von Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) stand, dann aber nicht zustande kam: SPD und Grüne zusammen mit ÖDP und Linken. 

Das ärgert die CSU, die eine Benachteiligung der Münchner Autofahrer befürchtet. Die Gegenseite vertritt hingegen die Meinung, benachteiligt würden ganz andere: Radfahrer und Fußgänger nämlich, und das schon seit Jahrzehnten.

Bei Stadtratssitzungen sieht sich Oberbürgermeister Dieter Reiter inzwischen regelmäßig zwei Frauen gegenüber, die ihm sein Büro abjagen wollen. Die CSU hat ihre Kommunalreferentin Kristina Frank, die Grünen ihre Fraktionsvorsitzende Katrin Habenschaden aufs Podest gehoben. Beide gehören dem Stadtrat erst seit 2014 an, beide sind rund 20 Jahre jünger als der Amtsinhaber.

Katrin Habenschaden, Dieter Reiter und Kristiana Frank

Hess, Rumpf, Peljak

Katrin Habenschaden, Dieter Reiter und Kristiana Frank

In der Frühphase des Wahlkampfes waren es vor allem die Herausforderinnen, die sich bei diversen Veranstaltungen und Stadtteiltrips den Münchnern vorstellten – ihr Bekanntheitsgrad ist noch ausbaufähig.

Reiter hingegen konzentriert sich auf seine Pflichten und Termine als Rathaus-Chef. Auch kleinere Parteien haben OB-Kandidaten benannt – das gilt nicht nur als Ehrensache, sondern hilft im Wahlkampf, weil ein OB-Kandidat anders wahrgenommen und zu anderen Veranstaltungen eingeladen wird als ein „einfacher“ Bewerber um ein Stadtratsmandat.

Bislang läuft der Wahlkampf noch verhalten, normalerweise will keine Partei frühzeitig ihr ganzes Pulver verschießen. Es zeichnet sich aber ab, dass die großen Stadtratsthemen der vergangenen Monate auch den Wahlkampf bestimmen werden: Wachstum etwa, das eng mit Wohnungsbau und Mieten zusammenhängt, und natürlich der Dauerbrenner Verkehr. Dazu kommt der Klimaschutz, der in viele Themenfelder hineinreicht.

Keine Rolle mehr spielen zwei Themen aus dem Wahlkampf 2014, die der Stadtrat seitdem angepackt hat: der Leerstand städtischer Wohnungen und der bauliche Zustand der Schulen. 

Zweite Stammstrecke

Baggern für den Anschluss

Die Arbeiten für die zweite Stammstrecke laufen – allerdings nicht überall so wie geplant.

Von Andreas Schubert

Und weg ist er: Im Mai 2019 hat die Bahn die alte Schalterhalle des Hauptbahnhofs gesperrt und inzwischen ist nichts mehr davon übrig. Das 1960 fertiggestellte Empfangsgebäude des Hauptbahnhofs musste abgerissen werden, weil die Deutsche Bahn hier das Zugangsgebäude für die zweite Stammstrecke der S-Bahn baut. Oberirdisch soll ein moderner Bahnhof nach dem Entwurf des Architektenbüros Auer Weber entstehen, welcher der künftigen Verkehrsentwicklung gerecht werden soll. 

Schon heute zählt die Bahn täglich etwa 450 000 Menschen am Hauptbahnhof. Mit der zweiten Stammstrecke und der von der Stadt München geplanten neuen U-Bahnline U9 werden es noch deutlich mehr werden. Das in die Jahre gekommene Empfangsgebäude war nach Ansicht der Bahn für die steigenden Passagierzahlen nicht mehr geeignet. Die Gleishalle hingegen bleibt stehen. Da am Hauptbahnhof aber auch noch der Rohbau der Station für die geplante U9 entsteht, wird die Baugrube auch ein Stück weit in die Gleishalle hinein ragen. Wo dort genau gearbeitet werden wird, ist derzeit noch unklar.

Alessandra Schellnegger

Die Schalterhalle Richtung Bahnhofplatz ist bereits komplett abgerissen.

Oberirdisch wird die neue Empfangshalle 35 Meter und sieben Stockwerke hoch sein und ein Service-Zentrum, Gastronomie und Büros beinhalten. Mit den Mieteinnahmen will sich die Bahn einen Teil der Baukosten wieder hereinholen. Sollte es optimal laufen, sagt die Bahn, dann würden 2028 die zweite S-Bahn-Stammstrecke und das neue Empfangsgebäude gleichzeitig fertig – wenn sich nicht wieder Zeitpläne ändern. Denn ursprünglich war die Fertigstellung des zweiten S-Bahntunnels für 2026 vorgesehen.

Und auch die Baupläne ändern sich: Im Sommer gab die Bahn bekannt, dass sie den neuen S-Bahn-Halt in Haidhausen nun doch nicht am Orleansplatz bauen will, sondern auf dem Bahngelände an der Friedenstraße – also auf der anderen Seite des Ostbahnhofs. Den Haidhausern bleiben jahrelange Baugruben an zentralen Plätzen erspart.

Die neue Lage des S-Bahnhalts erfordert auch eine neue unterirdische Streckenführung. Die Pläne müssen deshalb noch einmal durch das Baugenehmigungsverfahren mitsamt öffentlicher Auslegung. Aus diesem Grund und wegen der Pläne für die U9 am Hauptbahnhof wird die Stammstrecke mindestens zwei Jahre später fertig.

Die Verzögerung will die Bahn nutzen, um am Ostbahnhof bis 2023 das rund 50 Jahre alte Stellwerk durch ein neues zu ersetzen. Die alte Anlage ist berüchtigt für ihre Störanfälligkeit, derentwegen der Verkehr auf der ersten Stammstrecke regelmäßig zum Erliegen kommt. 

Klimastreiks

Immer wieder Freitags

Schüler, Studenten und auch Erwachsene demonstrieren seit Januar jede Woche für mehr Klimaschutz – manchmal mit ein paar Hundert Teilnehmern, manchmal aber auch mit Zehntausenden. Die Aktionen von „Fridays for Future“ und „Extinction Rebellion“ haben auch in der Stadtpolitik etwas bewegt.  

Von Jakob Wetzel

Damit hatten auch die Optimisten unter den Aktivistinnen und Aktivisten der Münchner Ortsgruppe von „Fridays for Future“ nicht gerechnet: Am 20. September demonstrierten mehr als 40 000 Menschen mit ihnen auf dem Königsplatz für mehr Klimaschutz. Die Menge war so groß, dass die Route des Demonstrationszugs durch die Maxvorstadt kurzfristig verlängert werden musste, damit Platz für mehr Menschen war und kein Chaos ausbrach. 

Seit Monaten hatte die internationale Schulstreikbewegung für einen „globalen Klimastreik“ an diesem Tag geworben. Alleine in Deutschland sollen 1,4 Millionen Menschen auf die Straße gegangen sein. In München war es eine der größten Kundgebungen seit Jahrzehnten.

Doch „Fridays for Future München“ hat nicht nur zu Großdemonstrationen wie dieser aufgerufen. Seit dem 18. Januar sind jeden Freitag Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten, Azubis und zunehmend auch Erwachsene auf die Straße gegangen. Mal waren sie Tausende, häufig aber auch nur wenige Hundert.

Zu Beginn war „Fridays for Future“ dabei vor allem eine Herausforderung für die Schulen, denn diese müssen dafür sorgen, dass ihre Schüler den Unterricht besuchen. Viele Schulleiter reagierten anfangs nachsichtig. Einige versuchten die Energie der Kinder umzulenken, weg von der Straße hin zu einem Engagement für mehr Klimaschutz in der Schule. Andere erteilten Verweise. 

Das Wilhelm-Hausenstein-Gymnasium wies gar die Eltern darauf hin, Schwänzen fürs Klima könne mit Bußgeld geahndet werden. Seit den Sommerferien hätten einige Schulen den Kurs verschärft, sagen Aktivisten. Der Anteil der Schüler auf den Kundgebungen gehe zurück. Die Lücken füllen Erwachsene.

Was die Jugendlichen wollen, haben sie klar formuliert – und zwar ganz konkret. Im Juni präsentierten sie dem Stadtrat eine Liste mit 32 Punkten, die unter anderem die Forderungen enthält, dass in ganz München ab 2025 kein Fahrzeug mit Verbrennungsmotor mehr fahren soll und dass alle Neubauten ans Fernwärmenetz angeschlossen werden sollen. 

Die Stadträte haben diese Forderungen nicht alle übernommen; einige Punkte sind laut Umweltreferat unrealistisch oder vom Stadtrat gar nicht zu entscheiden. Doch die Stadt bewegt sich. Im November erklärte die Rathaus-SPD, die Stadt solle den Klima-Notstand ausrufen und versuchen, bis 2035 klimaneutral zu werden.

Aufsehen erregt hat in München 2019 auch die Ortsgruppe einer anderen internationalen Bewegung mit demselben Anliegen wie „Fridays for Future“, aber radikaleren Protestformen: „Extinction Rebellion“. Um Druck zu machen, ketteten sich deren Aktivisten im Juli zum Beispiel ans Neue Rathaus. Am „Black Friday“ im November, während „Fridays for Future“ am Königsplatz demonstrierte, stellten sich Aktivisten von „Extinction Rebellion“ nur mit Unterwäsche bekleidet ins Schaufenster eines Ladens an der Kaufingerstraße. Die beiden Bewegungen haben sich miteinander solidarisiert. Mehrere Aktivisten sind in beiden aktiv.