1945: Die erste Ausgabe

Die Geburt der Süd­deutschen Zeitung

Die SZ hat zum Jubiläum historische Texte aus 75 Jahren neu aufbereitet. Hier geht es um die feierliche Übergabe der Lizenz. Aus Hitlers Irrlehre entstand die erste Druckplatte.

Von Werner Friedmann

Was vorher geschah:

Was vorher geschah:

Von Joachim Käppner


„Wir konfiszierten Gebäude, Maschinen, Rohmaterialien und gaben sie unseren Vertrauten, mit der Maßgabe, nun die Demokratie zu predigen.“ Das schrieb im Rückblick der für München zuständige US-Presseoffizier Joseph Dunner, ein deutschstämmiger Antifaschist jüdischer Herkunft, der 1933 geflohen war. 


Er spielte eine wichtige Rolle bei der Gründung der Süddeutschen Zeitung, deren erste Ausgabe am 6. Oktober 1945 erschien. In einem symbolischen Akt wurde für die ersten Druckplatten ein Teil des Bleisatzes von Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“ eingeschmolzen. 


Oberst Bernard B. McMahon übergab im Münchner Rathaus feierlich die Presselizenzen an drei als unbelastet geltende Deutsche: Franz Josef Schöningh, August Schwingenstein und Edmund Goldschagg. Zu diesen drei Herausgebern stieß ein Jahr später noch Werner Friedmann, der den Text über den ersten Tag der SZ geschrieben hatte. 


Viel später kam heraus, dass Schöningh, einst Herausgeber einer von den Nazis 1941 verbotenen katholischen Zeitschrift, keineswegs zu den Unbelasteten gehörte, sondern als stellvertretender Kreishauptmann der Zivilverwaltung im besetzten Polen am Holocaust beteiligt gewesen war.


Die Zeitung war in München bald konkurrenzlos, 1949 endete die Aufsicht durch die Amerikaner. Mitte der Fünfzigerjahre begann sie, in der Breite jenen liberal-demokratischen Kurs zu entwickeln, der sie bis heute prägt. 

Der folgende Text ist in der zweiten Ausgabe der SZ am 9. Oktober 1945 erschienen.

Samstag, 6. Oktober, 11 Uhr. In die Klänge des wiederauferstandenen Münchner Glockenspiels hinein tönen im geschmückten Rathaussaal, von Vertretern der Militärregierung und der bayerischen Zivilverwaltung, der amerikanischen und deutschen Presse bis auf den letzten Platz gefüllt, die Worte Arthur F. Gereckes, des Chefs der Presseabteilung des amerikanischen Presse-Kontrollamtes:  

„Heute, hier im Rathaus, weniger als einen Kilometer von der Stelle entfernt, an der die Nazis vor 22 Jahren ihren Putschversuch unternahmen, glauben wir, daß wir dem wahren Frieden einen Schritt näher gekommen sind. Denn nun wird es möglich sein, daß die demokratischen Stimmen im Zeitungswesen Bayerns nach 12 Jahren des Stillschweigens wieder gehört werden.“

Die Übergabe der Lizenzen an diejenigen, die die Träger dieser demokratischen Stimmen sein werden, an die Herausgeber der Süddeutschen Zeitung, der ersten von jeder Zensur freien deutschen Zeitung in Bayern, durch die Vertreter der amerikanischen Militärregierung bildet den Anlaß der feierlichen Veranstaltung, bei der der neue bayerische Ministerpräsident Dr. Högner, der Arbeitsminister Roßhaupter, die drei Münchner Bürgermeister, an der Spitze Dr. Scharnagl, die Münchner Stadträte, der Polizeipräsident, der Chef der Bayerischen Landespolizei, der Chef des Landesarbeitsamtes und viele andere Männer des öffentlichen Lebens anwesend sind.  

Im Münchner Rathaus wird die Lizenz für die SZ an die Herausgeber übergeben.
Im Münchner Rathaus wird die Lizenz für die SZ an die Herausgeber übergeben.

Die Uniformen der zahlreichen Vertreter der Militärregierung beleben das festliche Bild. Die Kameras der Wochenschauberichter schnarren, die Scheinwerfer blitzen auf, das Mikrophon ist eingeschaltet - zum erstenmal führt Radio München die unmittelbare Übertragung eines aktuellen Ereignisses durch. Viele Tausende von Hörern erleben in dieser Stunde die Geburt der Süddeutschen Zeitung an ihren Lautsprechern mit und spüren es ebenso wie alle Augenzeugen, daß der Start eines freien demokratischen Blattes in der größten Stadt der amerikanischen Besatzungszone, die einst den schändlichen Namen „Hauptstadt der Bewegung“ trug, wieder einen Schritt vorwärts bedeutet – in eine bessere Welt.

Zum Geleit

Von Schriftleitung und Verlag

Zum ersten Male seit dem Zusammenbruch der braunen Schreckensherrschaft erscheint in München eine von Deutschen geleitete Zeitung. Sie ist von den politischen Notwendigkeiten der Gegenwart begrenzt, aber durch keine Zensur gefesselt, durch keinen Gewissenszwang geknebelt. Die Süddeutsche Zeitung ist nicht das Organ einer Regierung oder einer bestimmten Partei, sondern ein Sprachrohr für alle Deutschen, die einig sind in der Liebe zur Freiheit, im Haß gegen den totalen Staat, im Abscheu gegen alles, was nationalsozialistisch ist


Die Leiter der Zeitung, verschiedenen Parteien entstammend, glauben, daß nach zwölf Jahren schmachvoller Gewissensknechtung und anbefohlener Lüge der gemeinsame Wille zu politischer Mündigkeit und Sauberkeit, zu Verantwortungsbewußtsein und Wahrhaftigkeit eine genügend starke Grundlage für eine fruchtbare Zusammenarbeit bildet. Sie wollen beweisen, daß noch echte demokratische Gesinnung in Deutschland lebt, die sich nicht in Parteihader verliert, sondern in den innerpolitischen Spannungen eine Quelle der Kraft für das gemeinsame Ganze erblickt. Alle leitenden Kräfte der Zeitung fühlen sich im Anblick einer schrecklichen sozialen Not als Anwälte derer, die arm sind und ohne Schuld leiden müssen.


Die Süddeutsche Zeitung wird, durch ihren Erscheinungsort München verpflichtet, aus dem süddeutschen, insbesondere bayerischen Geschichtsbewußtsein leben und in Ablehnung eines öden, undeutschen Zentralismus einen kräftigen, den besten Überlieferungen verbundenen Föderalismus vertreten. Alle preußisch-militaristischen Tendenzen bekämpfend, wird sie jene religiösen und kulturellen Kräfte pflegen, die gerade auch in Bayern beheimatet sind und denen Deutschland einstmals Ansehen und Sympathie in der Welt verdankte. Sie wird als Stimme einer freiheitlichen Gegenwart allen jenen jungen Kräften offen stehen, die an der geistigen und kulturellen Umgestaltung Europas mitwirken wollen. Wir beginnen auf schmaler Plattform mit geringen Mitteln und spiegeln damit die allgemeine Lage. Wir glauben, daß wir in nicht allzu ferner Zeit auch den allmählichen Aufstieg spiegeln werden.


(Aus der ersten Ausgabe der Süddeutschen Zeitung, 6. Oktober 1945, Seite 1)

Nach der eingangs erwähnten Begrüßung durch Mr. Gerecke ergreift Oberst B. B. McMahon, der Kommandeur des Nachrichten-Kontrollwesens, das Wort. Er wendet sich an die drei Herausgeber der Süddeutschen Zeitung, Edmund Goldschagg, Dr. Franz Josef Schöningh und August Schwingenstein, und kennzeichnet sie mit einer kurzen Schilderung ihres politischen Werdegangs als bewährte Kämpfer gegen die nazistische Tyrannei.

Die Lizenzträger der Süddeutschen Zeitung (von links): August Schwingenstein, Edmund Goldschagg, Franz Josef Schöningh.
Die Lizenzträger der Süddeutschen Zeitung (von links): August Schwingenstein, Edmund Goldschagg, Franz Josef Schöningh.

Er fährt fort:  

„Die Amerikanische Militärregierung bezeugt Ihnen Dreien das größte Vertrauen, wenn sie Ihnen heute die Lizenz zur Herausgabe der 'Süddeutschen Zeitung' erteilt. Benutzen Sie sie, um dem deutschen Volk endlich die Wahrheit zu sagen. Machen Sie ihm klar, daß die Deutschen den Krieg verloren haben, weil dieser Krieg von Anfang an unmoralisch war und damit den Widerstand aller zivilisierten Völker hervorrufen mußte. Machen Sie ihm klar, daß es keine Herrenrasse unter den Nationen gibt.“

Mit dem Hinweis, daß das amerikanische Volk diesen Krieg nicht wollte und, weil es auch keinen zukünftigen Krieg will, dafür Sorge tragen wird, daß auch Deutschland nie wieder einen Krieg vorbereiten kann, führt Oberst McMahon aus:  

„Es ist einmal gesagt worden, daß die Feder mächtiger ist als das Schwert. Sie, meine Herren, haben jetzt die Möglichkeit, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. General Eisenhower hat vor einem Jahr erklärt: ‚Wir Amerikaner kommen als Sieger, nicht als Unterdrücker‘. Das gilt auch heute noch. Große Teile Deutschlands sind in Trümmerhaufen verwandelt, zahlreiche Städte sind zerstört. Das Reich ist von alliierten Truppen besetzt. Luftwaffe, Wehrmacht und deutsche Marine sind Dinge der Vergangenheit. Die Führer der nationalsozialistischen Partei, die SS-Mörder, Gestapo, Sturmtruppen und Kriegsverbrecher werden die wohlverdiente Strafe erhalten. Das ist die Aufgabe, die wir uns gesetzt haben: Deutschland vom Nationalsozialismus zu befreien. Ihre Aufgabe ist es, aus den Seelen und Herzen der Deutschen den Nazigeist, den Geist des Militarismus auszumerzen. Nur nach diesem Reinigungsprozeß wird Deutschland wieder in der Lage sein, sich als gleichberechtigte und angesehene Nation in die Völkergemeinschaft einzureihen.“

Oberst McMahon schließt mit der Aufforderung:  

„Lehren Sie die Bürger dieses Landes, daß Menschenwürde ein kostbares Gut ist. Sagen Sie ihnen, daß die Freiheit deren sich friedliebende Völker erfreuen, nur durch anständiges Handeln und saubere Gesinnung erworben werden kann.“

Dann überreicht der Oberst die Lizenz:  

„Mit besonderer Freude überreiche ich Ihnen nunmehr die erste Zeitungslizenz der Militärregierung Ost. Die 'Süddeutsche Zeitung' wird nicht nur die erste deutsche Zeitung in Bayern, sondern auch die größte Zeitung in der größten Stadt der amerikanischen Besatzungszone sein.“

Es folgt die Übertragung der Rede Oberst McMahons ins Deutsche durch Dr. Joseph Dunner, den Presse-Kontroll-Offizier der Militärregierung München. Im Namen der drei Herausgeber spricht Edmund Goldschagg Worte des Dankes. Unter Hinweis auf die Schwierigkeiten, die die erste neue Zeitung in dem Trümmerfeld Münchens überwinden mußte, sagt Goldschagg u. a.:  

„Nach 12 Jahren der geistigen Knebelung gibt es wieder ein freies Schaffen, um das deutsche Volk zu eigenem kritischem Denken, zu einer eigenen Meinungsbildung zu erziehen. Haben doch die meisten Menschen diese Jahre der Hitlerknechtschaft sozusagen auf dem Kasernenhof zugebracht, in dem jeder nicht nur körperlich, sondern auch geistig stramm zu stehen hatte. Freiheit und Presse, Freiheit und Journalismus sind zwei Begriffe, die nicht zu trennen sind. Mit dem Tage, da Deutschland zum Dritten Reiche herabgesunken war, war auch der Beruf des Journalisten, so angesehen er einst gewesen, erledigt. Zwölf Jahre einer geistigen Knebelung sind vorüber. Das deutsche Volk war selbst nicht imstande, aus eigener Kraft das Nazijoch abzuschütteln. Dazu bedurfte es leider eines zweiten Weltkrieges, aus dem die demokratischen Mächte als Sieger hervorgingen. Unsere Leser werden es kaum fassen, daß die Besatzungsbehörde uns in dem uns übertragenen Erziehungswerk am deutschen Volke keine Fesseln anlegt, sondern uns als freie aber verantwortungsbewußte Journalisten schalten läßt, wie es gute demokratische Gepflogenheit ist.“

Oberst McMahon lädt nunmehr die Anwesenden ein, sich gemeinsam in das Verlagsgebäude zum Färbergraben zu begeben, um den Start der Süddeutschen Zeitung in feierlicher Form durchzuführen.

In das vom Krieg stark zerstörte Gebäude zog die SZ nach der Lizenzerteilung ein.
In das vom Krieg stark zerstörte Gebäude zog die SZ nach der Lizenzerteilung ein.

In langer Kette rollen die Fahrzeuge mit den Gästen durch die Rosenstraße. Der Himmel meint es - zum Ärger der Kameraleute - „gut“, unerschöpflich scheinen seine Schleusen zu sein.

Das Mikrophon auf dem mit den Fahnen Bayerns und Münchens geschmückten Podium im Hofe des Verlagsgebäudes der ehemaligen Münchner Neuesten Nachrichten muß sich einen regenfesten Überzug gefallen lassen, ein Meer von Schirmen wogt zwischen den Trümmern des Verlagshauses, in dem nur eine kleine Anzahl von Räumen - Vogelnestern gleich - noch benützbar sind. Aber das unwirtliche Wetter hält keinen der zahlreichen Gäste ab, dieser für die Geschichte der freien Presse so bedeutsamen Stunde beizuwohnen. 

Wie ein Symbol wirken die Ruinen ringsum - schaurige, aber deutliche Antwort auf Hitlers trügerische Rattenfängermelodien, die zwölf Jahre lang in marktschreierischen Schlagzeilen aus den Rotationsmaschinen dieses Hauses kamen.

Ein Männerchor der Münchner Staatsoper erfreut die Gäste, die sich immer dichter drängen. Dann ergreift Verlagsleiter August Schwingenstein das Wort zu einer Begrüßungsansprache, in der er das Gelöbnis ausspricht, die ganze Kraft in das Gelingen des neuen Werkes zu setzen:  

„Wir wollen beweisen, daß in Deutschland der Wille und die Tatkraft vorhanden sind, fleißig, ehrlich und sauber zu arbeiten. Die ,Süddeutsche Zeitung‘ wird zeigen, dass noch echte demokratische Gesinnung und sozialer Geist in unserem Land leben, sie wird jede Bestrebung, den legalen Aufbau des demokratischen Staates zu stören, im Keime ersticken. Sie wird Propaganda treiben für eine völkerverbindende Außenpolitik und damit für Verständnis gegenüber den Eigenarten der Nationen.“

Nun tritt das „Münchner Kindl“, verkörpert durch die liebenswürdige Münchener Schauspielerin Adele Hoffmann, vor und überreicht Oberst McMahon mit humorvollen, der unverwüstlichen Feder Hermann Roths, des Nestors der Münchner Journalisten, entstammenden Versen den Willkommenstrunk in althergebrachter Münchner Weise - einen Maßkrug voll Bier, den der amerikanische Offizier unter dem Jubel der Umstehenden mit sichtlichem Behagen bis zur Nagelprobe leert (Das entlockt sogar dem rührigen Rundfunkreporter einen Ausruf des Erstaunens.)

Mittlerweile ist der Zeitpunkt für den Start der Süddeutschen Zeitung gekommen. Die Gäste begeben sich in die in den Luftschutzkellern des Verlages untergebrachten Betriebsräume, wo in der Gießerei jene symbolische Handlung stattfindet, die weit über Münchens und Bayerns Grenzen hinaus Aufsehen erregt und den Beifall der gesamten zivilisierten Welt gefunden hat.

Im Schmelzofen des automatischen Gießwerkes wird der Originalsatz des Buches eines gewissen Adolf Hitler „Mein Kampf“, von dem seit Jahren die Matern dieses schändlichen, von der Weltgeschichte furchtbar widerlegten Machwerkes geprägt wurden, den Flammen übergeben.

Aus dem geschmolzenen Blei dieses „braunen Katechismus", der sich einst vermessen rühmte, die deutsche Auflage der Bibel übertroffen zu haben, wird die Druckplatte der ersten Ausgabe der Süddeutschen Zeitung, des ersten nach zwölf Jahren in München erscheinenden freien, demokratischen Blattes, gegossen.

Es ist ein Augenblick, da jedem der Atem stockt in Erinnerung an vergangene faschistische Schmach, an Terror und Meinungszwang, an teuflische Irrlehren und überhebliche Machtgelüste, die ihren Ursprung fanden in diesem Buch eines Mannes, den die freien Völker der Erde verdammten und den die Geschichte richtete.

Als Oberst McMahon die erste Druckplatte in dem Ofen in eine weißglühende, flüssige Masse aufgehen läßt, und alle anwesenden Gäste von Bayerns Ministerpräsidenten bis zum Zeitungsträger der Reihe nach seinem Beispiel folgen, da ist es uns zumute, als ob wir einer heiligen Handlung beiwohnen, einem frommen Akt der Gerechtigkeit, der gleichsam einen Schlußstrich bildet unter einem durch zwölf Jahre hindurch vergewaltigten Pseudo-Journalismus.

Eine stille Befriedigung liegt auf den Gesichtern derer, die sich unter den Scheinwerfern der Filmberichter der Prozession anreihen, um zu zerstören, was zerstört werden muß, und zugleich aufzubauen, was das Erfordernis für ein neues, besseres Deutschland ist: das Sprachrohr der freien Meinung.

Eine Viertelstunde später drückt Oberst McMahon auf den elektrischen Knopf der Rotationsmaschine. Die Motoren beginnen ihr stampfendes Lied, die Walzen drehen sich, die Papierrollen fliegen über die Druckplatten, um kurz darauf als fertige Zeitung ausgestoßen zu werden. Die Süddeutsche Zeitung ist geboren worden.