SERIE: "WAS SICH ÄNDERN MUSS"

Wir bilden die Realität auch mit

Wie kann Journalismus vielfältiger werden – und warum sollte er das sein? Der Journalist Stephan Anpalagan spricht darüber, welche Verantwortung Medien beim Thema Rassismus tragen – und wo sie versagen.

Protokoll von Theresa Hein

In der Serie „Was sich ändern muss“ erklären Medienschaffende aus ganz Deutschland, wie Journalismus diverser werden kann. In der vierten Folge spricht der freie Journalist Stephan Anpalagan, geboren 1984, darüber, warum Journalisten mehr Verantwortung auch beim Thema Rassismus übernehmen sollten.

Ein Beispiel für die Verantwortung von Journalistinnen und Journalisten: Die Art und Weise, wie Medien über Suizide berichten, hat enormen Einfluss darauf, ob es im Anschluss an eine Berichterstattung mehr oder weniger Suizide gibt. Auch beim Thema Rassismus ist Verantwortung in der Berichterstattung gefragt. Aber da habe ich oft das Gefühl, dass Medien zu wenig von dieser Verantwortung wissen – oder sie ihnen egal ist.

Der „Mediendienst Integration“ hat Ende vergangenen Jahres gemeinsam mit der Macromedia-Hochschule eine interessante Studie herausgebracht. Dort wird die polizeiliche Kriminalstatistik des Jahres 2018, in der die Herkunft der Tatverdächtigen erfasst wird, verglichen damit, wie häufig Medien die Herkunft von Tatverdächtigen nennen. Laut der in der Studie zitierten Polizeistatistik sind 30,6 Prozent der Tatverdächtigen Ausländer, 69,4 Prozent der Tatverdächtigen Deutsche. Bei den Zeitungsberichten zum Thema Kriminalität wurde dagegen nur bei 2,9 Prozent der deutschen Tatverdächtigen die Herkunft genannt, aber bei 41,5 Prozent der ausländischen Tatverdächtigen. Bei den restlichen 55, 9 Prozent blieb die Herkunft offen.

Journalisten sind dafür verantwortlich, was für eine Stimmung sie verbreiten

Parteien wie die AfD greifen Presseberichte für ihre Propaganda auf und drehen sie weiter. Das führt zum Beispiel zu der Entwicklung, dass die Bevölkerung systematisch Kriminalität durch Ausländer überschätzt. Die Menschen glauben, Ausländer seien überdurchschnittlich häufig an Kriminalität beteiligt, auf Basis dessen, wie die Medien darüber berichten – und wie häufig. Wir sind als Journalistinnen und Journalisten dafür verantwortlich, was für eine Stimmung wir verbreiten in der Gesellschaft. Man denkt ja immer, man würde die Realität nur abbilden, aber das stimmt nicht. Wir bilden die Realität auch mit.

Früher lautete die Richtlinie des deutschen Presserats: Wenn die Herkunft in Beziehung zur Straftat steht, dann sollte man als Journalist die Staatsangehörigkeit nennen. „Begründeten Sachbezug“ nannte man das. Wenn also ein Türke einen Kurden erschießt - dann ist die Herkunft beider relevant für den Hergang der Tat. Wenn jemand seine Frau und seine drei Kinder umbringt, ist die Staatsangehörigkeit nicht relevant. Sonst müsste man konsequenterweise bei allen Gewalttaten die Nationalität nennen.

2017 wurde die Richtlinie geändert, seitdem gilt das „begründete öffentliche Interesse“. Das ist meiner Meinung nach schlimm. Denn warum sollte bei Straftaten, die von Ausländern begangen wurden, ein begründetes öffentliches Interesse vorliegen – bei Deutschen aber nicht? Darin besteht für mich ein großes Versagen des Journalismus.

Die Gegenmaßnahmen mögen sich simpel anhören, sind aber enorm wichtig: Wir brauchen einerseits im Journalismus ein Verständnis davon, wie man Informationen, die man zu Papier bringt, verifiziert, in einen Zusammenhang setzt und sie auf Relevanz überprüft. Das kann nur mithilfe von festen Kriterien und Regeln funktionieren, an die sich die Leute halten. Und der zweite wichtige Punkt ist: Wir brauchen Vielfalt in den Redaktionen. Erst wenn die vorhanden ist, wird es möglich sein, so zu berichten, dass die Nachrichten die Gesellschaft repräsentieren: Wer Bevölkerungsteile ausschließt, darf sich nicht relevant nennen.