Für immer Seite 251

Und wenn sich noch so viel veränderte in der Welt, der Videotext blieb. Seit 40 Jahren bringt er Deutschland zuverlässig Informationen - und wird noch immer von Millionen Menschen genutzt. Eine Liebeserklärung.

SZ

MEDIEN

TELETEXT

LONGREAD

6 Minuten Lesezeit

Text: Christopher Pramstaller, Digitales Design: Dominik Wierl

Wenn die Zahlen magentafarben leuchten, dann rollt der Ball. Das war schon so, als es noch Bochumer Stadt-Derbys in der Bundesliga gab und der VfL die Rivalen von Wattenscheid 09 Ende 1990 mit vier zu null in deren eigenem Stadion demütigte. Peter Peschel traf doppelt, kurz vor Schluss – und wer sich an diesem trüben Dezembertag nicht mit den anderen gut 33 000 Zuschauern an der Lohrheidestraße die Füße in den Bauch stehen wollte, dem blieb nichts anderes übrig, als Videotext-Tafel 251 aufzurufen und gebannt auf den Bildschirm zu starren.

Man hätte natürlich auch das Radio anschalten und darauf warten können, ob Hansi Küpper oder Sabine Töpperwien das Spiel für den WDR kommentieren würden. Doch Radio und Schlusskonferenz, das war etwas für autowaschende Vorstadt-Vatis, die mit dem Staubsauger im Fußraum werkelten, um den neuen Audi 100 sauber zu halten. Radio-Übertragung, das gab es ohnehin nur in der Schlussphase, und Fernseh-Live-Berichterstattung für den regulären Spielbetrieb hatte Leo Kirch noch nicht erfunden.

Für den Durchschnitts-Fan musste bis zur Sportschau nach Abpfiff der Teletext reichen, Seite 251. Und dort: 25 Zeilen à 40 Zeichen. Magentafarben auf schwarz. Zwei Vereine, ein Halbzeitstand und das aktuelle Ergebnis. Nie war dort mehr zu sehen und doch war es stets genug, um ganze Nachmittage den Fernseher nicht für sein Bewegtbild zu nutzen, sondern auf die Taste für den Videotext zu drücken und sich hinter einem 1:0 oder einem 2:4 die allertollsten Geschichten auszudenken. Im Videotext wurde nie einfach nur reingestolpert oder über die Linie gewürgt. Wenn aus einem 2:0 ein 3:0 wurde, waren das nicht einfach nur Zahlen. Da wurden Bananenflanken geschlagen und die Bälle Volley genommen.

Der Sport ab Seite 200 gehört zum beliebtesten Angebot

Heute liefert der Fußball die ultrakontrollierte Bildmaschine in Full HD. Der Videotext bleibt die immerwährende Konstante im Pixelformat. Es kann sich noch so viel verändern in der Welt, der Teletext ist immer da. Seit inzwischen 40 Jahren. Selbst wer längst keinen Fernseher mehr besitzt, erinnert sich an ein paar der Zahlen und was dahinter zu finden ist. 100, die Übersicht, Politik ab 101. 253, die Bundesliga-Tabelle, 300, das Fernsehprogramm und die Untertitel stets auf Seite 150.

Bei der ARD wird der Gemeinschaftsteletext von Potsdam aus gemacht, zwölf Redakteure arbeiten daran, federführend ist der Rundfunk Berlin-Brandenburg. Von sieben Uhr morgens bis um Mitternacht werden die Inhalte aktualisiert, die Tagesschau-Redaktion in Hamburg, von der die Seiten 101 bis 134 geliefert werden, ist für stete Updates zuständig. „Der Samstag ist nach wie vor Ausnahmetag in der Redaktion“, sagt Frauke Langguth, die den ARD Text leitet. Und der Sport, zu finden ab Seite 200, gehört zum beliebtesten Angebot. Nicht nur am Samstag.

Und die Leser suchen gezielt nach diesen Zahlen. Sehr gezielt sogar.

Wenn Seiten fehlen oder gewohnte Plätze neu vergeben werden, weil sich das Programm doch mal ändert, können die Reaktionen deutlich ausfallen. 2007 wurden die Ergebnisse der Kegelbundesliga gestrichen - das Telefon in der ARD-Text-Redaktion stand danach tagelang nicht mehr still. Als die ungarische Fußball-Liga aus dem Programm genommen wurde, war der Aufschrei zwar nicht ganz so groß, doch jede Seite im Videotext hat ihre Liebhaber und Beschwerden bleiben nie aus. Auch als die Judobundesliga oder die Witze aus dem Videotext verschwanden, meldeten sich die Zuschauer.

Erfunden hatten den Videotext die Briten. Ende der 1960er Jahre experimentierten zwei BBC-Ingenieure daran, Informationen zusätzlich zum regulären Fernsehsignal zu senden, die im Empfangsgerät dekodiert werden sollten. Aktienkurse und Agrarpreise wollten sie übermitteln - in einer Nacht so viel Information, wie auf einer Zeitungsseite Platz findet.

Am 23. September 1974 ging die BBC dann mit dem ersten Videotext der Welt live und sendete 30 Seiten Text. CEEFAX (angelehnt an „see facts“) war der Name ihres neuen Angebots. Prämisse war es, den Nutzern genauso live Zugang zu Informationen zu geben, wie es den Journalisten im Funkhaus möglich war. Außerdem wollte man Sendungen für Hörgeschädigte untertiteln können.

Um den Videotext dafür zusätzlich zum Bewegtbild auf den Bildschirm zu bekommen, wurde auf analogen Röhrengeräten der ungenutzte Teil des Fernsehsignals genutzt, der nicht zum Transport von Bildinformationen genutzt wird: die Austastlücke. Jener kurze Moment, in dem der Elektronenstrahl der Bildröhre dunkel geschaltet und wieder an den Endpunkt zurückgeschickt wird.

Als zweites Land in Europa startete Schweden einen Teletext-Service, Österreich folgte kurz danach. In Deutschland wurde der Videotext erstmals 1977 auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin vorgestellt.

Am 1. Juni 1980 schließlich begannen ARD und ZDF mit einem bundesweiten Videotext-Feldversuch. Zwei spezialangefertigte Computer aus England hatten sie besorgt. Riesige Kisten. Die Monitore einen Meter tief, die Keyboards zentimeterdick. So erzählt es Joachim Kotelmann, der gleich nach dem Start in die Videotext-Redaktion kam und bis vor Kurzem ihr stellvertretender Leiter war. Gesendet wurde aus einem fensterlosen Studio des Sender Freies Berlin (SFB). Während andernorts noch mit Sekretariat und Schreibmaschine gearbeitet wurde, kamen im Videotext-Team schon Computer zum Einsatz.

„Das Format zwingt zu Präzision und Klarheit“

Montag bis Donnerstag von 16 bis 23 Uhr war der Videotext auf Sendung, Freitag bis Sonntag begann der Service sogar eine Stunde früher - vorausgesetzt man besaß als Zuschauer einen Decoder. Videotext für alle, das gab es in den Anfangsjahren nicht. Anschaffungskosten von 400 bis 600 D-Mark standen der schnellen Verbreitung im Weg. In der Redaktion im SFB standen Grundig-Fernseher mit zigarrenschachtelgroßen Dekodierungsgeräten, um das ausgesendete Signal zu kontrollieren.

Schon in den 1980er Jahren starteten die ARD-Regionalsender dann eigene Angebote, 1983 machte der WDR den Anfang. Spätestens mit dem Übergang in den Regelbetrieb 1990 und dem zehnmillionsten verkauften Fernsehgerät mit Videotext-Decoder wurde das Angebot zum Massenmedium. Auch die privaten Sender waren mit dabei. 1988 ging Sat.1 mit einem Angebot auf den Markt, 1992 folgte RTL, zwei Jahre später Pro Sieben. Im DDR-Fernsehen gab es übrigens nie einen eigenen Videotext. Erst nach der Wiedervereinigung wurde auch dort ein Signal gesendet. Und auch dort, wie im Rest Deutschlands, bis heute ohne wesentliche Änderungen.

„Der Videotext ist die totale Reduktion auf das Wesentliche“, sagt Frauke Langguth. „Keine Fotos, keine Töne, nur Text, also Nachrichten pur. Der Minimalismus, den das Teletext-Format vorgibt, zwingt zur Präzision und Klarheit.“ 18 Zeilen erhalten Redakteure, um den Zuschauern die Welt zu erklären. „Ausschreitungen in Minneapolis“, „Städter ziehen ins Umland“, „Stuttgart schlägt den HSV“ - im Videotext setzt sich aus Bruchstücken eine Welt zusammen und man merkt Langguth an, dass sie dieser Minimalismus begeistert.

Wo der Teletext sich verändert, tut er das nicht in seiner Form, sondern nur in den Kanälen, auf denen er empfangen werden kann. „Wir bieten den ARD Text auch als App an und seit letztem Jahr kann der Teletext auch sprechen. Wenn Sie eine Seitenzahl sagen, dann liest der Smart-Speaker die Meldung vor“, sagt Langguth. „Das Teletextformat eignet sich bestimmt noch für weitere Plattformen, für Smart-Watches vielleicht oder für Displays im Auto.“

Wer heute den Fernseher einschaltet und den Videotext aufruft, kann den Eindruck bekommen, die Zeit sei stehengeblieben. Doch es ist ein Stillstand im allerbesten Sinne. Der Videotext liefert seit 40 Jahren Kurznachrichten in Reinkultur, verlässlich und aktuell. Er könnte damit kaum besser in die aktuelle Zeit passen, die doch so oft im Wirrwarr der Informationen untergeht. Ob die Welt noch steht, ist im Videotext nachzulesen. 18 Millionen Menschen nutzen das Angebot monatlich. Sie können nicht alle falsch liegen.

Und selbst wenn die Welt von der Corona-Pandemie noch so geplagt ist, auf Seite 251 ist Verlass. Im Videotext ist alles wie immer. Im Kopf gibt es keine Geisterspiele.