Große Geschichte

Die Angst vor dem neuen Geld

Am 1. Juli 1990 wurde in Ostdeutschland die eigene Währung durch die D-Mark ersetzt. Ein paar Wochen davor war SZ-Autor Axel Hacke in Dresden und sprach mit der Bevölkerung über das bange Warten vor Tag Null.

17 Minuten Lesezeit

Im Format Große Geschichte leben bedeutende Reportagen aus sieben Jahrzehnten SZ-Journalismus wieder auf. Diesmal besucht Axel Hacke im Juni 1990 Dresden kurz vor der Währungseinführung der D-Mark. Er beschreibt die Angst der Wirtschaftstreibenden, die sich hilflos dieser Situation ausgeliefert fühlten. Niemand wusste, was nach diesem Tag mit der ostdeutschen Wirtschaft passieren würde. Für die Reportage erhielt Hacke den Theodor-Wolff-Preis und den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Die Rechtschreibung entspricht der Entstehungszeit.

Dresden, im Juni - So wie die Zentrale der Stadtsparkasse Dresden heute sahen in der Bundesrepublik früher Arbeitsämter aus: unten am Eingang vier klapprige Briefkästen; ein Wegweiser durch das Haus zum „Sachgebiet Reklamationen“; die Wände in vergilbtem Weiß, die Türrahmen in blassem Behördengrün, die Türen hellgrün abgesetzt. Im zweiten Stock hängt ein Plakat. Die Stadtsparkasse möchte einen „neuen Anfang machen“ heißt es, moderne Dienstleistungen anbieten, Kunden freundlich beraten. „Wir wollen unsere Aufgabe, eng verbunden mit der heimischen Bevölkerung, zum Wohl des Kunden und aller Bürger wahrnehmen.“

Wie wäre es, wenn neben dieser Selbstverpflichtung ein rotes Transparent hinge mit der Aufschrift: „Vorwärts zum 1. Juli! An der Seite der Werktätigen in den Kapitalismus."

Ein Pappschild an einer Tür: „Koll. Sterzel.“ In einem schmalen Büro sitzt Hans-Peter Sterzel, „Abteilungsleiter Zweigstellen für den Bereich Nord“, seit 30 Jahren bei der Sparkasse. Es sind Jahre gewesen, in denen es einen geruhsamen Zahlungsverkehr zu regeln galt, bei einem Zinssatz von dreieinviertel Prozent, egal ob Gehaltskonto oder Sparbuch. Nun wird die Sparkasse ein Sortengeschäft und Inhaberschuldverschreibungen und das „Eurocheque“-System anbieten. Peter Sterzel hält eine Schulungsmappe der Hamburger Sparkasse in der Hand, in der die Überschriften „Der Wirtschaftskreislauf“ und „Das Bausparen“ lauten. Er blättert ziellos und sagt: „Wenn ich so sehe, was die alles machen.“ Drei Wochenendkurse hat Sterzel hinter sich, aber was lernt man an drei Wochenenden? Er sagt: „Wenn ich ehrlich sein soll: Es fällt allgemein schwer, aber man muß sich den Aufgaben stellen.“

Konkurrenz wird die Stadtsparkasse haben. „Der Kampf wird stärker“, sagt Sterzel, „deshalb muß man sich den Aufgaben stellen, insgesamt stellen.“ Er zeigt auf das Heft und sagt, man könne alles so zusammenfassen: „Wenn wir den neuen Anforderungen gerecht werden wollen, müssen wir uns den Anforderungen stellen.“

Gab es eigentlich Banküberfälle in der DDR? Noch eine Neuerung! „Wir müssen uns auch diesen Aufgaben stellen“, sagt Sterzel. (Das geschieht. Letzte Woche gab es einen Fehlalarm. Als die Volkspolizisten in den Schalterraum stürzten, riefen die Leute in der Schlange, sie sollten sich gefälligst hinten anstellen, die Zeiten der Privilegien seien vorbei.)

Manchmal verbirgt sich die Hilflosigkeit hinter altem Kaderdeutsch, manchmal liegt sie offen zutage. 16 Millionen Menschen betreten eine Welt, in der alles anders ist als zuvor und in der sie sich doch fast von einem Tag auf den anderen zurechtzufinden haben. „Alles fiebert diesem 1. Juli entgegen“, sagt eine Dresdnerin, eine Frau mittleren Alters, „aber was da sein wird? Ob die Sonne anders aufgeht?“ Übrigens bekomme man jederzeit Karten für einen Abend in der Semper-Oper, undenkbar früher, „aber die Leute haben jetzt keinen Nerv mehr für so was“.

Es gilt, sein Geld unterzubringen, vor der Bank Schlange zu stehen, sich um einen Arbeitsplatz zu kümmern. Scharen von Menschen suchen Rat in der neuen Dresdner-Bank-Filiale. Deren Direktor Paul G. Schaubert sagt: „Wir müssen erläutern und erläutern. Es gibt eine große Verunsicherung bei den Leuten, weil man sich bestimmte Dinge nicht vorstellen kann. Man muß ganz von unten anfangen: Information, Beratung, Aufklärung.“ Ein Land stellt sich den Anforderungen.

Erster Firmenbericht: Erschöna.

Was aus Erich Schönberger hätte werden können! „Unter den Bedingungen da drüben", sagt sein Sohn, „wenn mein Vater sich voll hätte entwickeln können, da wäre was Großes, was ganz Großes aus ihm geworden. Das ist der geborene Geschäftsmann.“ Nun ist Erich Schönberger 86 Jahre alt, und seine Ideen sind Geschichte. In den dreißiger Jahren hat er eine Lkw-Schneekette erfunden, „Schönbergers Manschettensteg- Eis-und-Schneegreifer“ Die Lastwagen einer ganzen Brauerei wurden damit ausgerüstet. Einen Volkswohnwagen hat er gebaut und Gedichte verfaßt, auch über den Wohnwagen natürlich: „Dem schaffenden Volk soll er Erholung bringen. / Sein Loblied wird man bald in allen Gauen singen. / Man sehnt sich nach ihm - der Wunsch wurde zur Tat / Er ist da - wird Dir Kamerad.“

Das hat die Firma Auto-Müller in Wuppertal-Elberfeld seinerzeit in die Prospekte gedruckt. Nach dem Krieg hatte Erich Schönberger einen Freund getroffen, der Besitzer einer Firma für Fleischbrühe war, und die bauten sie zusammen wieder auf. Sirup aus Rübenblättern haben sie gemacht und Majoran-Brotaufstrich und Ersatzsülze, „um etwas zu schaffen, das man essen konnte, auch genußmäßig“, wie Schönberger sagt.

Einen anderen Freund hatte er, der besaß ein Labor, in dem tüftelte man, und heraus kam wasserlösliche, in Gläser abgefüllte „Brühpaste“ für Fleischbrühe und nach jahrelanger Arbeit auch Worcestersauce - „Worschästersoße“ sagen Senior wie Junior. Gab es eine größere Herausforderung, als Worcestersauce unter den Bedingungen der DDR-Mangelwirtschaft zu produzieren?

Die Firma Erschöna verkaufte Brühpaste und Worcestersoße mit großem Erfolg in der DDR, dazu auch „Bratensoße Ungar.- Gulaschart“ Ob die Leute, sagen wir, bei Maggi, auch so begeistert sind von den eigenen Produkten? Erich Schönberger sagt, er tue sich auf einen Teller Makkaroni ein ganzes Fläschlein „Worschäster“, und einen Arzt kenne er, der habe immer zwei Flaschen in der Garage, weil er morgens früh noch schnell einen Schluck nehme. Ob man die Brühe probieren wolle? Schwupp, steht der wackere alte Mann mit einer Tasse da. Ein Drittel Teelöffel reicht aus, heißes Wasser dazu, schmeckt vorzüglich. (Ob wir das nicht den Lesern mitteilen könnten, er wolle ja wieder in der Bundesrepublik Fuß fassen? „Wird gemacht!“ riefen wir.) Schönberger junior, der die Geschäfte heute führt, nahm kürzlich Kontakt zu westdeutschen Nahrungsmittelfirmen auf, weil er dachte, die könnten Brühpaste gebrauchen, aber niemand wollte sie, man hat eigene Rezepturen. Nun verkauft nicht er dem Westen Ware, sondern der Westen ihm: Seine Frau hat den Vertrieb für westdeutsche Tiefkühlkost übernommen.

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