Vor neuen
Heraus­forderungen

Immer wieder geistern neue „Challenges“ durchs Netz. Sie bringen Menschen dazu, die seltsamsten Dinge zu tun. Manchmal ist das lustig, oft hat es aber auch ernste Konsequenzen.

9 Minuten Lesezeit

Von Christian Helten

An einem Samstag Anfang Juli landete Lenise Martin im Gemeindegefängnis von Assumption im US-Bundesstaat Louisiana, weil er an einem Eis geleckt hatte. Der Vorwurf: Sachbeschädigung und gesetzwidriges Veröffentlichen einer kriminellen Aktivität. „Eigentlich war es ein harmloser Witz“, sagt der 36-Jährige im Videochat ein paar Wochen später in breiten Südstaaten-Akzent, er schüttelt dabei den Kopf.

Den Witz hatten vor ihm schon ein paar andere gemacht: Einen Eistopf im Supermarkt öffnen, lecken, den Topf zurückstellen - das ist die Ice Cream Challenge, die sich unter dem gleichnamigen Hashtag im Netz verbreitet hatte. Manche fanden die Leck-Streiche lustig, sehr viele aber verständlicherweise abstoßend.  

Instagram: BzzIV54F6SD

Die Eiscreme-Firma sprach empört von Heimtücke. Lenise Martin sagt, er habe das Eis gekauft, bevor er daran geleckt habe. Das gepostete Video sei gekürzt, damit man nicht sieht, dass er das Eis gar nicht wirklich zurückgestellt hat. Die Polizei interessierte das zunächst wenig. Sie sperrte Lenise Martin ein.

Challenges bringen Menschen weltweit zum Lachen oder versetzen sie in Panik  

Challenges tauchen im Internet immer wieder auf, seit soziale Netzwerke ihren Siegeszug angetreten haben. Sie sind fester Bestandteil der Netzkultur, manchmal bleiben sie in Nischen, manchmal erregen sie weltweite Aufmerksamkeit, bringen Menschen zum Lachen oder versetzen sie in Panik.

Die Ice Cream Challenge ist nur eine von vielen, die in den vergangenen Wochen durchs Netz geistern. Sie zeigt ziemlich gut, welche Mechanismen wirken, wenn Challenges sich viral verbreiten. Sie sind oft ziemlich absurd, wecken Emotionen, ermöglichen es Leuten, sich als Teil einer Gruppe zu definieren und sind leicht nachzuahmen. Und manchmal haben sie ernste Konsequenzen.

Siehe Ice Cream Challenge: Eine angeschleckte Schachtel Eis zurück ins Supermarkt-Regal zu stellen, hat absolut keinen tieferen Sinn, die Handlung erzeugt gerade durch ihre Absurdität Aufmerksamkeit. Sie weckt Emotionen beim Zuschauer: Ekel und Empörung, beziehungsweise Schadenfreude und Lachen. Durch den Zusatz „Challenge“ im Hashtag wird klar: Nachahmung erwünscht. Dass sie trotz ihrer vermeintlichen Harmlosigkeit ernste Konsequenzen haben kann, spürte Lenise Martin spätestens im Gefängnis.

Wenn man wissen will, wie sich das Phänomen der Challenges entwickelt hat, findet man bei Google-Trends Hinweise. Dort kann man sehen, wie häufig der Begriff „Challenge“ gegoogelt wurde.

Etwa ab 2013 werden die Ausschläge nach oben deutlicher und höher.  

Google Trends

Die meisten Challenges sind kurzlebige Angelegenheiten: Sie ploppen auf, das Interesse steigt rasant an, verliert sich meist aber auch schnell wieder. 

Ausnahme: Challenges, bei denen Leute mit entsprechenden Hashtags versehene Sportbilder posten, um sich und andere zu motivieren, zum Beispiel 30 Tage lang jeden Tag Kniebeugen oder Sit-ups zu machen.

Auch hier steigt das Interesse zwar plötzlich stark an. Aber diese Challenges verschwinden nicht für immer in der Versenkung, sondern werden zuverlässig im Gute-Vorsätze-Monat Januar wieder in die Suchmaske gehackt.

Die regelmäßigen Ausschläge der „Squat Challenge“:

Google Trends  

Welche Challenge die erste war, lässt sich kaum sagen - wie so oft bei größeren Social-Media-Phänomenen, die zunächst mit unterschiedlichen Namen bezeichnet und mit anderen Teilen der Netzkultur kombiniert werden. Im Sommer 2009 wurde ein Vorläufer weltbekannt, der noch nicht mal das Wort „Challenge“ enthielt, aber nach dem gleichen Prinzip funktionierte. Beim Lying Down Game, auch Planking genannt, posteten immer mehr Menschen Fotos von sich bei Facebook, wie sie starr auf dem Bauch lagen - an möglichst ungewöhnlichen, meist öffentlichen Orten.

Die Ice Bucket Challenge: 200 Millionen US-Dollar für einen guten Zweck

In den darauffolgenden Jahren wurden in den sozialen Netzen daran angelehnte Spiele populärer, bei denen man etwas tat - zum Beispiel ein Bier auf Ex austrinken - sich dabei filmte und Freunde „nominierte“, es einem gleichzutun.

Mit Abstand die größte Verbreitung unter diesen Spielen erreichte die Ice Bucket Challenge, die deshalb vielleicht als der Durchbruch der Challenges gelten kann. Der Auslöser war ein Video des US-Golfprofis Chris Kennedy. In den Monaten nach seiner Veröffentlichung wurden weltweit mehr als 17 Millionen Videos allein auf Facebook gepostet, auf denen Menschen dabei zu sehen waren, wie sie sich Eimer mit Eiswasser über den Kopf schütteten oder schütten ließen. Der Nachbar tat es, der alte Schulfreund tat es, Lena Mayer Landrut, George W. Bush und Heidi Klum taten es.

Instagram: Heidi Klum, Lena Mayer Landrut, Facebook: George W. Bush

Die Challenge war so erfolgreich, weil sie - im Gegensatz zu vielen anderen - einen guten Zweck erfüllen sollte: auf die unheilbare Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) aufmerksam zu machen und Spenden für eine Hilfsorganisation zu generieren. Der Golfer Chris Kennedy hatte ursprünglich einem erkrankten Familienmitglied helfen wollen - und erreichte weit mehr: Die ALS Association nahm nach eigenen Angaben durch die Challenge 200 Millionen US-Dollar ein. Noch heute prangt auf der Webseite der Organisation ganz oben ein Bild von Menschen, denen gerade ein Eimer Wasser über den Kopf geschüttet wird. Am 15. Juli 2019 feierten sie den fünften Jahrestag des Challenge-Beginns mit einem Treffen in Boston.

Der gute Zweck gab der Ice Bucket Challenge ein Element, das die Menschen verband. Und das ist ja oft der Motor des Erfolgs auf Social Media, wenn nicht sogar das wichtigste Grundprinzip sozialer Netzwerke: Man definiert sich durch seine Posts, Likes und Kommentare als zugehörig zu einer Gruppe, grenzt sich dadurch auch von anderen ab. Erst diese Woche zeigte sich dieses Prinzip wieder bei der sogenannten El Paso Challenge. Nach der Schießerei mit 22 Toten am vergangenen Wochenende rief der 11-jährige Ruben Martinez die Bewohner seiner Stadt auf, 22 gute Taten zu tun und wiederum andere dazu zu ermutigen.

Wer bei der Ice Bucket Challenge mitmachte, war Teil einer großen Wohltätigkeits-Gemeinde. Auch sonst wirkte sie wie einem Lehrbuch für virales Marketing entsprungen. Erstens begreift jeder in Sekundenbruchteilen, worum es geht: Ein Schwall Wasser ist unangenehm, wenn man ihn selbst über den Kopf bekommt, und lustig, wenn man dabei zusieht. Zweitens ist die Ice Bucket Challenge eine eindeutig definierte Mutprobe, lässt gleichzeitig aber Raum für selbstdarstellerische kreative Variationen und Steigerungen.

Selbstdarstellung, Steigerung, Variation - das sind Kernelemente der meisten Challenges. Bei der aktuell beliebten Bottle Cap Challenge ging es zuerst darum, mit einem Karate-Kick den Schraubverschluss von einer Flasche zu treten. Bald versuchten die Menschen sich aber möglichst ausgefallener anderer Hilfsmittel zu bedienen.

Instagram: Jason Statham, Youtube: BG Badminton Academy

Was in vielen Fällen lustig ist, kann auch zur Gefahr werden: Wo eine Mutprobe immer weiter gesteigert wird, bleiben Unfälle nicht aus. Wo der Gruppenzwang Jugendliche dazu bringt, einem vermeintlichen Ideal nachzueifern, kommt es zu Selbstverletzungen. 2014 begossen bei der Fire Challenge junge Männer ihre Oberkörper mit Alkohol und zündeten ihn an. Manche landeten mit Verbrennungen im Krankenhaus. Ein Jahr darauf versuchten junge Frauen bei der Kylie Jenner Challenge, die vollen Kussmund-Lippen ihres Idols möglichst originalgetreu nachzuahmen, indem sie ihre Lippen in ein Schnapsglas oder einen Flaschenhals steckten und dann heftig saugten, sodass die Lippen anschwollen - manchmal allerdings weit mehr und schmerzhafter als gewünscht. Bei der Kiki Challenge (auch Keke Challenge oder In My Feelings Challenge) tanzten Menschen zum Song „In my Feelings“ von Drake neben einem fahrenden Auto her. Eine Versuchsanordnung, in der Unfälle vorprogrammiert waren.

Youtube: guil dia

Natürlich gab es dämliche Mutproben schon immer, in Grundschulen vor 50 Jahren genauso wie im Fernsehzeitalter von Jackass bis Joko und Klaas. Aber das interaktive Netz hebt sie auf ein anderes Level. Soziale Netzwerke beschleunigen, verstärken und globalisieren Trends - und ebenso die Panik, die aus ihnen entstehen kann.

Die Momo Challenge: Panik und Trittbrettfahrer

Große Angst löste Anfang des Jahres - vor allem bei Eltern - die Momo Challenge aus. Man sah Warnungen vor Momo in Chatgruppen von Kindergarteneltern, in Youtube-Videos oder auf dem 140 Millionen Follower schweren Instagram-Account von Kim Kardashian.

Jakob Berr

Die Puppe mit dem beängstigenden Gesicht geistere durchs Netz, hieß es, sie tauche plötzlich in ansonsten harmlosen Youtube-Videos für Kinder auf und erteile Kindern Befehle bis zur Aufforderung zum Selbstmord. Die Panik war groß, die Polizei warnte, Medien berichteten. Allerdings meist ohne objektiven Grund.

„Es gab keine Fälle von Verletzungen oder gar Suiziden, die man der Momo Challenge zuordnen konnte“, sagt Andre Wolf. Er hat bei Mimikama, einem Verein zur Aufklärung von Internetmissbrauch, viel zu falschen Challenges recherchiert und Mechanismen wie bei Momo schon öfter erlebt. Zum Beispiel bei der Blue Whale Challenge: Dabei handelt es sich eigentlich um eine Art Gruselgeschichte, die in etwa lautet: Es gibt ein Spiel, bei dem man sich registriert und dann 50 Tage lang die Anweisungen eines Administrators befolgt. Die letzte Aufgabe: Suizid.

Diese Geschichte wurde ohne Belege mit dem Tod von etwa 130 Selbstmorden von Jugendlichen in Russland in Verbindung gebracht. Fertig war der Horror-Hype, der sich auf der ganzen Welt verbreitete.

In beiden Fällen spielten Trittbrettfahrer eine wesentliche Rolle. Youtuber berichteten in Videos von Momo, um Aufmerksamkeit zu generieren und ihre Reichweite - und damit ihre Werbeeinnahmen zu erhöhen. Internettrolle gründeten aus purem Spaß am Spiel mit der Angst Blue-Whale-Challenge-Gruppen in sozialen Medien oder setzten Kettenbriefe in die Welt, in denen sie sich als Spielleiter ausgaben. Das Absurde, so Wolf: „Hier werden Ursache und Wirkung vertauscht. Erst die Angst und die daraus resultierenden Warnungen vor einer Gefahr führen zu einem realen Problem.”

Das funktioniert zum einen, weil, so Wolf, „Medien, vor allem aus dem Boulevardbereich, unreflektiert und vereinfachend über den Hype berichten“. Aber auch deshalb, weil Netzwerke wie Youtube und Facebook nicht oder nicht schnell und umfassend genug eingreifen und Inhalte löschen oder deutlich darauf hinweisen, dass die Horror-Geschichten über Momo erfunden sind, sagt Wolf. Immerhin verschärfte Youtube im Januar seine Richtlinien und verbot ausdrücklich „Challenges, die ein Risiko auf ernsthafte Verletzungen oder Tod mit sich bringen”.

Lenise Martin hat kein Verbot davon abgehalten, das Video seines Eis-Vergehens zu posten. Er hat seinen schlechten Witz gemacht und dafür bezahlt: Zwei Tage musste er im Gefängnis bleiben, bevor er gehen durfte. Diese Erfahrung hätte er sich gerne gespart, sagt er, und auch die überraschende Berühmtheit habe ihn „total überfordert“.

Und die Icecream Challenge? Nahm eine Wendung: Die Leute filmten sich jetzt dabei, wie sie Eisboxen aus dem Kühlregal nahmen, damit brav zur Kasse gingen, zahlten und sie zu Hause auf ganz herkömmliche Art und Weise aßen. Die Icecream Challenge hat also doch einiges erreicht: dass sogar stinklangweilige Normalität Menschen begeistert.

Twitter: @TheCamCamera
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